Ausgabe 2 / 2014 Material von Matthias Viertel

Schiffbruch akzeptieren

Von Matthias Viertel


In einer Theorie des Scheiterns liegen die Ansätze von Paulus und Schopenhauer gar nicht so weit entfernt. Beide Autoren erkennen den Widerspruch zwischen dem, was ich will, und jenem, was ich zu tun vermag, als Kernproblem der menschlichen Existenz. Darüber hinaus sind sich auch beide in der Auffassung einig, dass dieser Widerspruch nicht durch eigene Anstrengung zu lösen ist. Das Scheitern ist für sie demnach etwas, was wir in unserer Klugheit akzeptieren müssen und eben nicht als persönliches Versagen deuten dürfen. Dennoch sind die Schlussfolgerungen, die sie aus diesem Befund ziehen, geradezu konträr. Während der Philosoph zu einem Pessimismus neigt, demzufolge das Leben als „eine missliche Sache“ anzusehen ist, … vertritt der Apostel eine optimistische Sicht der Lebensbejahung. Schopenhauer empfindet die Welt als die schlechteste aller möglichen, und das Leben ist für ihn -etwas, was es besser gar nicht geben sollte. Deshalb verwundert es kaum, wenn er die Welt selbst als ein gescheitertes Modell betrachtet.

Ganz im Gegensatz dazu deutet Paulus die Entdeckung des unauflösbaren Widerspruchs zwischen dem, was wir wollen, und jenem, was wir vermögen, als eine nützliche Erkenntnis über das Wesen des Menschen. Immer wieder – so plädiert Paulus geradezu leidenschaftlich – werden unseren Bestrebungen Grenzen gesetzt, ohne dass wir selbst durch intellektuelle Leistungen oder andere gezielte Maßnahmen dieses Übel aufheben können. Es gibt im Grunde genommen keinen Menschen, der nicht scheitert, allenfalls mag es solche geben, die sich der eigenen Schwäche schämen und diese deshalb vertuschen wollen. Die Schlussfolgerung, die der Apostel aus dieser Charakteristik des Menschlichen zieht, ist dementsprechend. Er setzt ganz und gar auf die Kraft der Gnade, die durch ihn zu einem der wichtigsten Kerngedanken des christlichen Glaubens wird.

In der säkularisierten Sprache der Moderne würde man anstelle der Gnade wahrscheinlich von der Notwendigkeit sprechen, dass der Mensch auf soziale Kontakte angewiesen ist, weil er in einem isolierten Dasein kaum überleben könnte. Gerade diese sozialen Bindungen, die sich in solidarischem Verhalten und Nächstenliebe äußern, setzen dabei das Eingeständnis zur eigenen Schwäche voraus. In diesem Sinne können wir mit Paulus also das Bekenntnis zum Scheitern nicht nur als Einsicht in das Wesen der menschlichen Natur begreifen, sondern es stellt darüber hinaus sogar die Bedingung für alle sozialen Kontakte dar. Der Theologe Karl Rahner hat deshalb nicht ohne Grund das Scheitern sogar als eine „humanisierende Kraft“ bezeichnet. Mit dieser Zuordnung nimmt er dem persönlichen Schiffbruch nicht nur die Schärfe, sondern zeigt darüber hinaus auch, dass die Akzeptanz des Scheiterns tatsächlich eine Grundlage für ein fürsorgliches Miteinander der Menschen darstellt und deshalb auch das Fundament des Sozialstaates bildet. Die Akzeptanz des Scheiterns erweist sich dabei stets in der doppelten Bedeutung, nämlich in der Bereitschaft zu eigenen Niederlagen wie auch in der Fähigkeit, etwaige Fehltritte der anderen hinzunehmen.


aus:
Warum wir scheitern.
Zum sinnvollen Umgang mit Misserfolgen
S. 143ff.
© Lutherisches Verlagshaus GmbH
Hannover 2012

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