Ausgabe 2 / 2004 Andacht von Heide Fuchs

Schleiersichten

Eine Andacht um Weisheit

Von Heide Fuchs

 

„Schleiersichten“ – unsere, meine Sicht auf den Schleier oder durch den Schleier? Nein – den Kopftuchstreit wollen und können wir mit dieser Andacht, diesem gemeinsamen An-denken unserer Schleiersichten nicht lösen. Aber Fragen werden auftauchen, vielleicht Unsicherheiten. Anregendes und Nachdenkliches führt uns hoffentlich ins Gespräch miteinander.

Bitten wir deshalb die Weisheit Gottes in unsere Mitte. Lesen wir aus der „Hymne an die Weisheit“. Und singen wir – Ihr zu Ehren:

„Meine Seele hungert nach Weisheit,
nach nichts anderem verlangt mein Herz so sehr.
Sie hat die Tiefen des Abgrunds durchschritten,
seine Grenzen hat Sie abgemessen,
denn Sie war da, von Anbeginn,
und alles was ist, kam durch Sie zum Sein.
Sie spielte vor der Schöpfung, als die Welt erschaffen wurde,
und von Ihren Händen werden alle Dinge zusammengehalten.
Sie tanzte über dem Antlitz der Tiefe,
und alles, was Atem hat, ist von Ihrem Leben erfüllt.“ (1)

Lied: Du meine Seele singe (Vers 1) (2)

„Das Geheimnis der Schöpfung ist in Ihrer Gestalt,
doch gefällt es Ihr wohl, Ihre Wege kundzutun.
Auf den Straßen der Stadt ruft die Weisheit
und in den Gassen begegnet Sie den Vorbeigehenden,
an den Toren des Lagers singt Sie im Triumph
und in den Gerichtssälen erhebt Sie Ihre Stimme.
Sie nimmt Stellung für die Ängstlichen und Zaghaften
und aus dem Munde der Kinder kann man Sie sprechen hören.“ (3)

Lied: Du meine Seele singe (Vers 2)

So durchwebe göttliche Weisheit unsere Herzen und Sinne.
Amen.

Schleiersichten

Schleier – Kopftuch, wie nah sind sich diese Begriffe in unserer Wahrnehmung gerückt, wenn es um muslimische Frauen geht.
Schleiersichten? Lassen Sie uns das Kopftuch erst mal vergessen, und lenken wir unsere Gedanken und unsere Sinne auf den Schleier.
Machen Sie eine kurze Weile die Augen zu. Lassen Sie sich von dem Wort Schleier anregen, vielleicht umwehen. Woran denken Sie, welche Assoziationen haben Sie, welche Gefühle tauchen bei Ihnen auf?

ca. 2 Minuten Stille – dann Sammeln der Gedanken (ohne Diskussion, ohne Nachfragen)

In der Bibel kommt der Schleier als Teil der Kleidung für Frauen relativ selten vor. Eine Textstelle habe ich im Hohelied (1,1+3) gefunden:

„Siehe, meine Freundin, du bist schön!
Siehe, schön bist du!
Deine Augen
sind wie Taubenaugen
hinter deinem Schleier.
Deine Lippen
sind wie eine scharlachfarbene Schnur,
und dein Mund ist lieblich.
Deine Schläfen
sind hinter deinem Schleier
wie eine Scheibe vom Granatapfel.“

Schleiersichten eines Liebenden. Voller Sehnsucht, vielleicht voller Verklärung, auf jeden Fall voller Erotik…

In Jesaja 40,22 verhindert der Schleier schützend den direkten Blick des Menschen auf das göttliche Geheimnis, das Allerheiligste: „… er (Gott selbst) spannt den Himmel aus wie einen Schleier und breitet ihn aus wie ein Zelt.“
Uralte Weisheit der Menschen, die glaubten, dass der Blick hinter den Schleier des Göttlichen oftmals den Blick auf den eigenen Tod bedeutet. „Kein Mensch hat jemals den Schleier gelüftet, der mich bedeckt“, spricht die uralte Göttin aus der Inschrift des Tempels von Sais in Ägypten. Priesterinnen, Prophetinnen waren Trägerinnen dieses göttlichen Mysteriums und dienten und tanzten in Schleiern der Göttin zu Ehren.
Vielleicht können wir für uns so auch dem umstrittenen Pauluswort in 1 Korinther 11,13 eine neue Denkrichtung geben: „Urteilt bei euch selbst, ob es sich ziemt, dass eine Frau unbedeckt vor Gott betet.“ Vielleicht war damals noch etwas spürbar von diesem alten priesterlichen und prophetischen Handeln der Frauen, ihrer Nähe zum göttlichen Mysterium. Doch damit will ich jetzt keineswegs eine Kopftuchdebatte für Christinnen anzetteln…

mit Pausen sprechen:

Schleier –
feines, kostbares, durchscheinendes Gewebe,
leicht, beschwingt, verhüllend.
Spannend ist es mit Schleiern zu spielen –
tun wir es doch.
Spielen Sie in Gedanken mit einem Schleier.
Machen Sie wieder die Augen zu…
Wie sieht Ihr Schleier aus?
Aus welchem Material ist er?
Wie groß ist er?
Was können Sie damit machen?
Wie bewegen Sie sich?
Wie fühlen Sie sich?
Wie sehen Sie in die Welt?
Wie werden Sie gesehen?
Welche Gedanken tauchen auf?

ca. zwei bis drei Minuten Stille halten

Je nach Gruppe und Situation kann das Spiel mit Schleiern auch konkret werden; das braucht mehr Zeit – Erfahrungen dabei sind aber sicher spannend!

Gespräch über das Erfahrene, über die Gedanken, die dazu auftauchten

Ein Spiel mit „meinem Schleier“ kann mir die Augen öffnen – ihn wahrzunehmen ist gut und auch wichtig:
Wozu brauche ich „meinen Schleier“?
Wo und wann nützt er mir?
Was macht ihn mir lieb?

Kurze Stille

Lied: Fließe gutes Gotteslicht (Verse 1+4) (4)

Ein Spiel mit „meinem Schleier“ kann mir die Augen öffnen für mancherlei Fragen. Wichtig ist dabei auch die Frage an mich:
Wo und wann behindert mich „mein Schleier“?
In meinem persönlichen Leben,
bei meinem Blick in die Welt,
bei meiner Wahrnehmung von Menschen, die mir fremd sind…

Vorurteile zwischen Menschen –
sind sie nicht Folge von verschleierter Wahrnehmung?
Pauschalurteile über Religionen –
sind sie nicht Folge von Berührungsängsten, die mich hindern, meinen schützenden, aber auch behindernden Schleier zu lüften?

Nehmen Sie sich etwas Zeit in Stille:
Wo und wann behindert mich „mein Schleier“?
Denken Sie dabei an ganz Konkretes:
Wo engen „Schleiersichten“ mich ein –
beim mich selbst Sehen und Wahrnehmen,
beim Gesehen- und Wahrgenommenwerden?
Was macht mir Angst?
Was könnte ich verlieren?
Wo behindert mein „Schleier der Wahrnehmung“ eine offene Begegnung mit mir Fremdem?

Stille

Teilen wir miteinander unsere Gedanken und Erfahrungen. Stellen wir unsere Fragen. Benennen wir unsere Unsicherheiten. Machen wir einander Mut, unsere Schleier zu lüften, wo sie uns behindern in der offenen Begegnung mit Menschen, die uns fremd sind.

Gespräch

Lied: Fließe gutes Gotteslicht, Verse 1-5

Hören wir zum Schluss noch auf zwei muslimische Frauen.
Da ist Aysenur, eine junge türkischstämmige Frau – in Frankfurt geboren und aufgewachsen, die mit zwölf Jahren zum ersten Mal „wirklich aus freiem Entschluss“, wie sie betont, ihr Haar verhüllte. Mit zwei Freundinnen – mit und ohne Kopftuch – erzählte sie am 8. März 2003 in der Frankfurter Rundschau von ihrem Leben. Zum Kopftuch erklärt Aysenur:
„Die Frau ist eine Perle, der Schleier die Schale – und die Perle bekommt nicht jeder zu sehen.“

kurze Stille

Nawal El Saadawi wurde 1931 in dem Dorf Kafr Tahla im ägyptischen Nildelta geboren. Sie ist Ärztin, Feministin und Schriftstellerin. Ihre persönlichen Erfahrungen und ihre Erfahrungen als Ärztin in Ägypten verarbeitete Nawal El Saadawi in mehr als dreißig Büchern, von denen in Ägypten aber nur eins erscheinen durfte. Trotzdem hat sie viele LeserInnen im arabischen Raum. Seit 1992 steht sie auf der Todesliste religiöser Extremisten, da sie sich offen gegen die fundamentalistische Bewegung und die damit einhergehende Unterdrückung der Frau wendet. Nawal El Saadawi ist Muslimin und sie ist Kämpferin für ein selbstbestimmtes Leben aller Frauen. Ihr ist ein Blick wichtig, der differenziert. Sie sagt:
„Es geht nicht darum, den Schleier abzulegen, es geht darum, den Verstand zu entschleiern.“

kurze Stille

Unsere Schleier sichten – den Schleier unserer Wahrnehmung heben – unseren Verstand entschleiern – differenzierte Blicke aufeinander wagen – Schritte aufeinander zugehen ohne vorgefasste Meinungen: Das ist sicher nicht leicht! Doch ist das nicht der Weg, auf dem die Weisheit Gottes sich finden lässt, auf dem sie uns stärkt und leitet?

Sprechen wir bekräftigend im Wechsel noch einmal aus der „Hymne an die Weisheit“:

„Sie verlässt die, die sich selbst weise dünken,
und nimmt Wohnung bei allen, die bereit sind, Sie aufzunehmen.
Denn Sie erfreut sich an der Wahrheit
und hasst die Wege des Betrugs;
Ihre Ganzheit ist begehrenswerter als alle Behaglichkeit
und wertvoller als jede Sicherheit ist Ihr Erkennen.
In Ihr allein ist das Leben der Menschheit zu finden;
daher will ich Sie suchen, solange ich lebe.

Lied: Du meine Seele singe

Gebet:

Wo du bist, Gott,
zählen Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft nicht mehr.

Wo du wirkst, Gott,
leben Menschen und Kulturen in aller Verschiedenartigkeit miteinander.

Wo du bleibst, Gott,
verlieren Angst, Vorurteile und Hochmut ihre Macht.

Darum lass uns, Gott,
immer wieder bei dir sein und mit dir leben.

Amen. (5)

Anmerkungen:
(1)aus: Janet Morley, Preisen will ich Gott, meine Geliebte
(2) Text: Esther Schmid; nach dem Lied von Paul Gerhardt, EG 302; Kopiervorlage im Servicebereich zum Herunterladen (Materialarchiv)
(3) s. Janet Morley, wie Anm. 1
(4) Kopiervorlage „Lied: Fließe gutes Gotteslicht“ im Servicebereich zum Herunterladen (Materialarchiv)
(5) aus: Heidi Rosenstock, Hanne Köhler, Du Gott, Freundin der Menschen, Stuttgart 1991, S. 106

Heide Fuchs, geb. 1941, ist Sozialpädagogin. Sie arbeitet als Beauftragte für Frauenbildungsarbeit in der Abteilung „FrauenBildungSpiritualität“ im Landesverband der Evangelischen Frauenhilfe in Hessen und Nassau, Propstei Oberhessen.

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