Alle Ausgaben / 2016 Artikel von Brunhilde Raiser, Wolfgang Raiser

Schmecken und Erinnern

Von Kindheitserinnerungen und Geschmackserlebnissen

Von Brunhilde Raiser, Wolfgang Raiser

„Wo hast du denn die Himbeeren her, die schmecken wie in meiner Kindheit, nie mehr habe ich solche Himbeeren bekommen.“ So strahlte meine Frau und ich erblasste, denn ich hatte die Himbeeren diesmal mit einem ordentlichen Schuss Arrak versehen.

Es war also der Geschmack des Hochprozentigen, den der in ihrer Kindheit verstorbene Apothekervater in den Fünfzigerjahren sein Kind bedenkenlos schmecken und genießen ließ. Und es ist ja keineswegs so, dass Kinder den Geschmack von Alkohol nicht mögen, sondern häufig nach einem gewährten Schluck aus dem Glas der Erwachsenen auf den Kommentar „das schmeckt scheußlich, das magst du nicht“ mit der Bitte um einen weiteren Schluck reagieren. Gerade beim Alkohol, der ja in hohem Maße Geschmacksträger und auch -intensivierer ist, lässt sich der Zusammenhang von Erinnern und Schmecken besonders gut erfahren. Das Glas Rotwein weckt in uns den Geschmack des Südens – Urlaubsgefühle, Erinnerungen an Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland. Der Champagner lässt uns teilhaben an der großen Welt der Empfänge und Premieren, auch wenn es nur „Söhnlein brillant“ ist oder uns die „Veuve Clicquot“ eigentlich viel zu herb ist. Und der Cocktail versetzt uns in Partylaune, weil wir uns dabei erinnern an Atmosphäre, Klänge, Erlebnisse, die wir mit Zunge, Nase, Augen und Ohren aufgenommen haben. Bei Männern entsteht häufig beim Plopp- und Zisch-Geräusch des Öffnens einer Flasche der Geschmack von Bier in Mund und Nase verbunden mit einem Entspannungsgefühl in der Erinnerung an Feier- und heitere Kameradschaftsabende.

Geschmack ist also eng verbunden mit Erinnerungen, guten und schlechten, an Situationen, Erlebnisse, Menschen. „Es schmeckt wie bei Muttern“ kann deshalb sowohl das Herz höher schlagen lassen, als auch das Gesicht verziehen lassen.

Deshalb habe ich bis heute eine Aversion gegen Schal- oder Pellkartoffeln, denn bei meiner Mutter gab es sie immer dann, wenn sie keine Zeit zum Kochen hatte und in Kombination mit Gemüsen, die ich nicht mochte wie Bayrisch Kraut, das man schon an der Haustür roch oder noch schlimmer bitterer Rosenkohl, der immer in einer weißen Mehlpampe schwamm wie eigentlich damals alles Gemüse. Wenn gut gekocht wurde, sonntags zum Beispiel, dann gab es immer Nudeln oder noch besser handgeschabte Spätzle, die bis heute für mich das Beste und mit liebevollen Gedanken an meine Mutter verbunden sind, denn die machte sie perfekt.

Wenn es bei uns Kartoffeln gibt, sage ich eigentlich jedes Mal hinterher: „Im Grunde schmecken sie doch sehr gut“ und ich mag sie inzwischen auch wirklich. Im Restaurant aber bestelle ich mir bis heute nie etwas mit Kartoffeln.

Und meine Aversion gegen Bayrisch Kraut habe ich verloren durch die „Krautfleckerl“ aus der Familie meiner Frau, einem uralten böhmischen Gericht, das ich auch Norddeutschen unbedingt empfehlen kann.

Dass anderswo die Dinge anders schmecken, wissen wir auch noch aus der Kindheit, wo es bei der Großmutter viel besser geschmeckt hat als bei der Mutter oder wo die eigenen Kinder bei Freunden Dinge mochten, die sie zu Hause verschmähten. Da war eben die Großmutter, die viel Zeit für einen hatte und extra schön gedeckt hatte und sich über die Geschichte, die man erzählte, freute, statt der gestressten Mutter, die froh war, dass sie noch rechtzeitig etwas auf den Tisch brachte, von dem alle satt werden konnten. Und beim Freund wurde eben nicht gefragt: Hast du die Mathearbeit schon raus und was hast du denn geschrieben und … so geht das nicht weiter!

Dass Dinge in der Kindheit intensiver geschmeckt haben, liegt zum Teil daran, dass sich der Geschmack mit zunehmendem Alter abschwächt, was für alte Menschen die für alle Geschmäcker wenig gewürzte Kost in Heimen oder bei Essen-auf-Rädern oft fade macht. Aber es liegt auch dran, dass Obst und Gemüse auf Einheitsgeschmack gezüchtet wurden und ihnen zum Beispiel Säure, Bitterstoffe und Schärfe weggezüchtet wurden. Semmeln oder Brezeln schmeckten früher bei jedem Bäcker anders. Heute schmecken sie in München wie in Hamburg, bei Kamps wie beim Bäcker um die Ecke.

„Das Auge isst auch mit“ – der alte Hausfrauensatz aus Zeiten, in denen die Platten mit viel Petersilie, Salzstängeln und wenn Gäste kamen, mit einem Zitronenschwein auf Zahnstochern verziert wurden, macht deutlich, dass zum Schmecken nicht nur die Zunge gehört. Im Vergleich zu den anderen Sinnen ist der menschliche Geschmackssinn relativ einfach strukturiert. Deshalb entscheiden in erster Linie nicht Zunge und Gaumen, ob uns etwas schmeckt.

Denn Geschmack ist tatsächlich zu 80 Prozent Geruch. Der Geruchssinn ist entwicklungsgeschichtlich wohl der älteste unserer Sinne. Deshalb sind Gerüche für uns immer emotional besetzt: Wir empfinden sie als angenehm, vertraut, heimatlich, anregend, oder fremd, unangenehm oder ekelerregend. Und so lösen Gerüche von Gerichten oder ihrer Umgebung oder der Menschen, die sie anbieten, in uns Emotionen aus, die wir oft nicht rational erklären können. Und manchmal löst sich eine Abneigung oder sogar eine Unverträglichkeit dadurch auf, dass wir die psychische Ursache der Abneigung erkennen und erklären können. Das ist auch der Grund, warum für uns oft eine ganze Welt aufgeht, wenn wir bestimmte Dinge riechen – mit dem Bratenduft der Sonntag in der Familie, mit Kohlgeruch die ärmliche Nachkriegszeit, mit Currywurst die späten 60er Jahre, mit dem Lavendelduft die Provence.

Wir mögen dann bestimmte Dinge, weil wir die Welt mögen, die zu ihnen gehört und mögen sie umgekehrt auch deshalb nicht.

Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, denn fast jeder Mensch hat einen anderen Geschmack. Schuld daran sind laut des israelischen Weizmann-Instituts die Gene. Gut 50 verschiedene Gene beeinflussen unseren Geschmack und auch im Mutterleib gewöhnt sich der werdende Mensch schon an den Geschmack dessen, was die Mutter zu sich nimmt.

Aber Geschmack kann und muss auch gelernt werden. Wer als Kind eine Vielfalt von Geschmäckern kennengelernt hat, wird auch als Erwachsener „alles“ mögen und nicht mäkelnd am Tisch sitzen.

Wobei es da auch Kurioses gibt, wie die Geschichte vom „Gschmäckerl der Seligen“, wo es dem Witwer halt nie mehr geschmeckt hat, weil das „Gschmäckerl der Seligen“ gefehlt hat. Bis einmal der Schwiegertochter das Essen angebrannt war und er glückselig wieder den Geschmack des Essens seiner verstorbenen Frau auf der Zunge hatte.

Unser Geschmackssinn verkümmert im Laufe des Lebens. Während ein Säugling rund 10.000 Geschmacksknospen besitzt, sind es bei Jugendlichen noch 9.000 und bei alten Menschen nur noch rund 4.000. Doch das Geschmacksempfinden kann nicht nur durch die schwindenden Geschmacksknospen verkümmern, sondern auch durch einseitige Ernährung. Geschmack muss sozusagen gelernt und kann verlernt werden.
Deshalb ist es wichtig, Kinder früh an unterschiedliche Geschmäcker zu gewöhnen und sie zu ermuntern, alles zu versuchen von sauer bis bitter. Auch was Kinder angeblich nicht mögen wie z.B. Oliven, Rote Bete oder Auberginen, schmeckt Kindern oft vorzüglich, wenn sie gelernt haben, ihre Geschmacks­sinne zu aktivieren und unterschiedliche und intensive Geschmäcker zu genießen. Wenn Kindern dagegen nur Pommes oder Nudeln mit Ketchup oder die Tiefkühlpizza schmecken, haben sie das Schmecken verlernt.

Aber auch Erwachsene können ihren Geschmack trainieren und eine „feine Zunge“ bekommen, indem sie unterschiedliche Aromen bewusst schmecken und wiedererkennen.

Dass sich der „Geschmack“ im Deutschen schließlich auch auf das bezieht, was wir als schön oder hässlich empfinden, zeugt von einer gewissen Armut unserer Sprache. Das englische z.B. kennt die Differenzierung „taste“ und „flavour“.

Wobei die Aussage, dass jemand „Geschmack hat“ oder geschmackvoll eingerichtet oder gekleidet ist, auch erlernt ist. Was wir als schön und stimmig und zusammenpassend empfinden, hängt mit unserer kulturellen und sozialen Prägung zusammen. So wird der Biedermeier-Schrank je nach dem als Antiquität geschätzt oder als alter Schrank als schäbig empfunden, die Kerzen- und Trockenblumengestecke und Sofakissensammlung als vollgestopft oder gemütlich bezeichnet. Abgesehen davon, dass wir alle in unserem ästhetischen Empfinden von Zeitgeist geprägt sind, auch wenn wir meinen, davon gänzlich unabhängig zu sein. So gaben mir meine Eltern den heute vollkommen aus der Mode gekommenen Namen „Wolfgang“ – ganz „unabhängig“ von ihrer Zeit, weil mein Vater ein großer Mozart-Verehrer und meine Mutter eine Goethe-Liebhaberin war: „Du heißt nach Mozart und Goethe“, wurde mir immer gesagt – nur dass es in meiner Klasse der 1953 Geborenen immer mindestens fünf Wolfgangs gab!

Oder wenn in meiner Kindheit Grün und Blau zusammenzutragen ein „no go“ war und es hieß „Grün und Blau trägt dem Kasper seine Frau“ oder drastischer „ … schmückt die Sau“ und heute kein Mensch mehr etwas dabei findet, die beiden Farben zu kombinieren. Beim Stil und Aussehen gilt noch stärker als beim Riechen oder Schmecken: „De gustibus non est disputandum“, wie meine Mutter zu sagen pflegte und den „guten Geschmack“ ihrer bildungs­bürgerlichen Herkunft dabei selbstverständlich für sich in Anspruch nahm.

Ob etwas sauer, bitter, scharf oder süß schmeckt, darüber sind sich Menschen auf der ganzen Welt wohl einig, ob es ihnen aber schmeckt oder sie es als zu sauer, zu bitter, zu scharf oder zu süß finden, darüber lässt sich genauso wenig streiten wie darüber ob etwas schön oder „geschmacklos“ ist!

Für die Arbeit in der Gruppe:

Idealerweise sollte man/frau beim Thema schmecken auch etwas schmecken können. Es ist also sicher eine gute Möglichkeit, in der Gruppe nicht nur über das Schmecken zu reden.

Dennoch beschränken sich einige Vorschläge darauf bzw. laden dazu ein, Geschmackserinnerungen oder Kontexte hervorzurufen, die für einzelne mit einem bestimmten Geschmack verbunden sind.

1. Die Teilnehmerinnen bringen nach vorheriger Vereinbarung ein Gebäck, ein Getränk oder ein kleines Gericht mit, von dem alle probieren können. Sie erzählen dazu, was sie damit erinnern, was der Geschmack bei ihnen auslöst. Die anderen Teilnehmerinnen der Runde tragen die bei ihnen ausgelösten Gedanken, Assoziationen, Erinnerungen bei.

Eine Variante, wenn nicht konkrete Gerichte mitgebracht werden können:
Arbeiten Sie mit Fotos oder Karten mit Bezeichnungen von Gerichten/Getränken, die Sie als Leiterin auslegen. Die Teilnehmerinnen wählen sich ein oder zwei, versuchen sich zu erinnern, welche positiven oder negativen Geschmackserinnerungen sie damit verbinden (Situationen, Personen). Anschließend teilen sie sich das in einer Dreier-Runde mit. Im Plenum könnte dann zusammengetragen werden, was den Teilnehmerinnen bewusst geworden ist, was sie erstaunt hat, was sie mitnehmen.

2. Mit welchem Geschmack verwöhnen Sie sich selbst? Mit welchem versuchen Sie, sich eine bestimmte Situation erträglicher oder ganz besonders schön zu machen? (Vergessen Sie dabei nicht, dass zum Geschmack untrennbar der Geruch gehört!)

3. Welche Gedanken, Assoziationen verbinden Sie mit dem Wort schmecken … und ggf. auch riechen? Notieren Sie sich diese Gedanken. Sind damit jeweils auch Personen verbunden und welche Gefühle löst das in Ihnen aus?

4. „Das schmeckt mir aber gar nicht“, sagen wir, wenn ein Essen, ein Getränk uns nicht mundet. Wir sagen es aber auch – zumindest im Süden Deutschlands, wenn uns eine Sache nicht geheuer ist, nicht so richtig gefallen will. Wann verwenden Sie diesen Ausspruch? Können Sie sich auf Ihren Geschmackssinn verlassen? Wodurch ist er geschult?

5. Vielleicht haben Sie sog. Weinnotenfläschchen in Ihrem Besitz. Mit ihnen kann man spielerisch in der Runde besprechen, wonach etwas riecht bzw. welchen Geschmack wir damit verbinden. (Die Nr. 1 hat eine „Brombeernote verbunden mit Bananenduft und etwas Heu“)

6. Die Teilnehmerinnen führen mit einem ihr wichtigen älteren oder alten Menschen ein Interview: Was hat Dir /Ihnen gut geschmeckt, welchen Geschmack mochtest Du/mochten Sie nicht – und vielleicht auch warum. Die Fragen und Antworten werden notiert und können auch für die befragte Person eine Hilfe im Alter sein. Oft können Menschen mit Demenzerkrankungen über Geschmackserinnerungen und Gerüche positiv oder negativ erreicht werden. Menschen im hohen Alter äußern häufig nicht mehr, was sie gerne wieder einmal schmecken möchten. Darüber Bescheid zu wissen, kann ihre Lebensqualität erhöhen. Dieses Interview kann sicher nicht innerhalb einer Veranstaltung geführt werden. Es lässt sich aber unter den Teilnehmerinnen miteinander im Zweiergespräch „üben“.

7. In meiner Kindheit gab es ein Spiel: Eine/r hatte die Augen verbunden, bekam unterschiedliche Dinge zu „essen“/schmecken und musste sie erraten. Besonders ungeliebt war es, Seife zu schmecken. Dieses Spiel können Sie jedoch einsetzen, wenn zuvor eindeutig vereinbart wird, dass es keine „problematischen“ Dinge zu schmecken geben darf. Bitte achten Sie dabei unbedingt auf ggf. Lebensmittelallergikerinnen und klären Sie dies zuvor ab.

Wolfgang Raiser, geb. 1953, wuchs in Stuttgart als fünftes Kind eines Senatspräsidenten und einer Geigerin auf. Seit 1978 ist er im Vikariat und Pfarramt, er hat drei Söhne und ein Enkelkind. Seine Hobbies sind u.a. Kochen

Autorin (für die Arbeit in der Gruppe):
Brunhilde Raiser, geb. 1953, ist Geschäftsführerin Evangelisches Bildungswerk Oberschwaben und Stadträtin in Mengen. Sie ist ehemalige Vorsitzende der EFiD bzw. der Evang. Frauenhilfe i.D.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang