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Schmeckend die Welt begreifen

Unseren Geschmack haben Kultur und Erfahrung geprägt

Von Christine Brombach

Die Wahrnehmung der Welt erfolgt über die Sinne, die unsere „Fenster zur Welt“ sind. Dabei spielt der Geschmack eine entscheidende Rolle, der uns mehr vermittelt als verschiedene Aromen. Geschmack vermittelt Heimat, Zugehörigkeit, ist Ausdruck von Fürsorge, Nähe und Geborgenheit. Es ist ein Sinn, der zu den prägenden Sinneserfahrungen zählt, die früh vermittelt werden und uns das ganze Leben begleiten. Unser Geschmack wird kulturell erlernt.

Was ist „Geschmack“?

Menschen sind sinnliche Wesen, haben Sinne, die ihnen den Sinn der Welt erfahrbar machen. Das haben wir auch in unserer Alltagssprache verortet und ­bezeichnen Menschen, denen wir Dif­ferenzierungsvermögen zubilligen als jemand, der „Geschmack hat“. Einer Person, die sich z.B. „geschmackvoll“ kleidet, schreiben wir zu, dass sie über ein gutes Gespür für einen kleidsamen Stil verfügt, und jemanden, der unter „Geschmacksverirrung“ leidet, weisen wir wenig Empfindung für angemessene oder „angesagte“ Kleidung, Wahlsicherheit bzw. Verhalten zu. Wir streiten über alles Mögliche, aber über Geschmack lasse sich nicht streiten, so ein Sprichwort. Doch wird gerade dort erbittert um den „einzig wahren Geschmack“ gerungen, wo es um die Bewahrung von Erfahrungen geht, die einigen und doch zugleich differenzieren: den Geschmack der Heimat, der Zugehörigkeit und der Identität (1).

Der Geschmackssinn zählt zu den sogenannten „Nahsinnen“, denn im Gegensatz zum optischen Sinn müssen wir beim Schmecken einen Kontakt herstellen, wir müssen Dinge (oder besser Lebensmittel!) in den Mund nehmen, damit die chemischen Reize, die dabei entstehen, zu einer subjektiv bewerteten Wahrnehmung werden.

Doch warum mögen die einen, was für die anderen überhaupt nicht schmeckt? Weshalb tolerieren wir bestimmte Geschmackskombinationen, andere hingegen nicht?

Wir werden in eine Welt hineingeboren, wir erlernen in einem Sozialisationsprozess welche Speisen kulturell als wertvoll, gering, erstrebenswert oder verabscheuungswürdig erachtet werden. Ohne diese „Ernährungssozialisation“ können wir keine „sichere“ Auswahl treffen, wissen nicht, was essbar ist und was nicht, kennen die Bedeutung der Speisen nicht (4, 6, 7). Wir essen und schmecken immer im Kontext bereits gesammelter kultureller Erfahrungen (unserer Eltern und Vorfahren), vertrauen auf deren Kenntnisse und Bedeutungszuschreibungen von dem „richtigen“ Geschmack. Wir schmecken dabei auch, was wir zu schmecken meinen, vertrauen auf die Umgebung, die uns Informationen vermittelt, wie wir diese subjektiven Empfindungen zu deuten und zu benennen haben, wie bestimmte Farben, Formen oder auch optische Eindrücke eben zu schmecken haben. Wie schwer es ist, die Geschmackswahrnehmungen richtig zu deuten, können kleine Blindverkostungen veranschaulichen. Wenn dann noch bewusst Spielräume für Assoziationen gegeben werden, wird es fast unmöglich, auf das jeweilige Lebensmittel zu schließen bzw. werden uns bestimmte Lebensmittel „falsch“ schmecken.

Geschmack und Geschmacksprägungen beginnen schon im Mutterleib, dann, wenn das Ungeborene das Fruchtwasser zu schlucken beginnt und damit die Geschmacksstoffe, die aus der mütterlichen Nahrung in das Fruchtwasser übergegangen sind, schmeckt. Gestillte Kinder schmecken anhand der Muttermilch die unterschiedlichen Lebensmittel, die die Mutter verzehrt hat und werden so mit der Esskultur ihrer Umgebung vertraut gemacht. Dieser frühe Kindheitsgeschmack begleitet uns lebenslang und wir können unter vielen scheinbar identischen Gerichten dasjenige herausschmecken, welches wir seit unserer Kindheit kennen und welches vertraut schmeckt.

Geschmackswahrnehmung ist immer auch verknüpft mit situativen und emotionalen Erlebnissen, und es schmeckt eben nicht nur, sondern das Geschmackserleben ist eine ganzheitliche Erfahrung und wird begleitet von Gefühlen, situativen Aspekten und Erinnerungen. Geschmackswahrnehmungen sind somit Teil einer sozialen und kulturellen Gegebenheit der Umwelt.

Essen und dessen Geschmack kann eine Botschaft „ohne Sprache“ sein, da es eine besondere Form der Zuwendung, Liebe und Aufmerksamkeit ausdrücken kann.

Schon früh haben wir im Verlaufe unseres Lebens den kulturell erwünschten Geschmack des Essens kennen gelernt, haben bereits in der Kindheit Gewohnheiten und Geschmackserfahrungen gesammelt, die uns das ganze Leben begleiten (4). So hat der Geschmack des Essens auch immer einen Bezug zu der eigenen Biografie, ist Ausdruck von Erinnerungen und Erfahrungen, die im Moment des Essens und Schmeckens wieder lebendig werden können. So beschreibt Marcel Proust in seiner Ausführung „Über die verlorene Zeit“:

„In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unserer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.“ (13, 66ff)
Aus: Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (8)

Mit unseren Sinnen begreifen wir „die Welt“, das heißt, den Alltagskontext in dem wir leben. Unsere Sinne sind für uns die einzige Möglichkeit, die Welt als solche wahrzunehmen, im Sinne von als „gegeben“ zu verstehen. Sinne sind unsere „Fenster zur Welt“. „Wahrnehmen“ (und damit Schmecken) bedeutet damit auch, die Welt als „richtig“, „eindeutig“, „bestätigt“ zu erfahren und sich als Mensch darin wertgeschätzt und aufgehoben zu fühlen. Unsere Sinne sind kulturell geprägt, so eben auch unser Geschmack. So essen wir eine Speise nicht, weil sie uns schmeckt, sondern sie schmeckt uns, weil wir gelernt haben, sie zu essen und zu mögen. Ein Kind muss bis zu 16 Mal eine Speise probieren, bevor es lernt, diese zu mögen. Auch was wir als angenehmen Geruch, Klang, Textur oder ansprechende Farben empfinden, ist kulturell bedingt. Die sinnliche Wahrnehmung des Essens ist immer geprägt durch eine jeweilige Kultur und die Akzeptanz oder Ablehnung gleichzeitig Ausdruck gesammelter persönlicher Erfahrungen (4, 1).

Geschmack vermittelt Ordnung und Routine

Unsere Art und Weise, was wir essen und was uns schmeckt verläuft nach erlernten Strukturen und Regeln. So essen wir weder beliebig noch unstrukturiert, wir essen in aller Regel zu bestimmten Zeiten, etwa zur Mittagszeit, in dafür vorgesehen Räumlichkeiten (Küche, Esszimmer, Kantine etc.) und Möbeln, am Tisch, im Sitzen auf einem Stuhl und mit dafür bestimmten Tischgeräten wie Essbesteck und Tellern und wir essen vorzugsweise mit Menschen, mit denen wir gerne zusammen sind. Solche Strukturen helfen uns, den Speisen Symbole zuzuschreiben (und diese zu entschlüsseln) die Fülle an Informationen im Alltag zu bewältigen und zu verstehen wie auch die Komplexität des Lebens besser zu meistern. Sie helfen uns also auch, uns zu orientieren und damit geben sie uns Halt und Teilhabe an dem Geschehen um uns herum. Soll das Essen schmecken, muss die Art und Weise des Essens in erlernten (und damit vertrauten und gewohnten) Strukturen und Ordnungen ablaufen. Ordnung hat Sinn und generiert Sinn, Essen und Geschmack kann nicht beliebig und gänzlich unbekannt sein. Der erlernte und kulturell gewohnte Geschmack ist ein wichtiger Taktgeber für den Alltag, Mahlzeiten und der Geschmack der Speisen geben Auskunft über die jeweilige Tageszeit („Frühstücksbrötchen“), Jahreszeit oder Festanlass („Geburtstagskuchen“). Damit knüpfen das Essen und der Geschmack an „Normalitätserfahrungen“ an, die es erlauben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen beispielsweise über die Geschmackserfahrungen des frischen Brötchens oder der Tasse Kaffee am Morgen (3).

Geschmack transportiert Leitwerte der Gesellschaft

Zu allen Zeiten waren Menschen auf der Suche nach Ziel und Sinn ihres Lebens. Vielfach wurden die Deutungsmuster von der Kirche und den christlichen Gemeinschaften vorgegeben und boten damit dem Individuum Halt und Struktur. In Zeiten von pluralisierenden und konkurrierenden Werten in einer säkularisierten Welt fällt es heute schwer, für sich eine Sinndeutung zu finden. Essen und der damit verbundene Geschmack sind immer auch eine Wertschätzung (oder Ablehnung) gegenüber den Herstellern von Lebensmitteln oder Speisen. Durch das Essen werden diese transportierten Werte bejaht oder auch abgelehnt, wie beispielsweise dann, wenn die Verweigerung des Essens oder Geschmacks Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung einer derzeitigen Lebenssituation sein kann. Mir schmeckt es oder mir schmeckt es nicht, kann dann zum Beziehungssymbol werden.

Das Verständnis von den vielfältigen Aspekten des Geschmacks ist eine Voraussetzung dafür, zu verstehen, wie das (schmackhafte) Essen als Teil der Beziehung, der Therapie und auch der Pflege genutzt werden kann. Wichtiges Kriterium sollte dabei immer sein, dass das Essen sich an den Bedürfnissen und Vorlieben orientiert und Genuss und Freude bereitet.

Für die Arbeit in der Gruppe:

– Färben Sie Apfelsaft rot („Kirschsaft“) oder blau („Heidelbeersaft“) mit Lebensmittelfarbe. Geben sie den Saft ohne vorherigen Kommentar als Kirschsaft (rot) oder Heidelbeersaft (blau) aus und beobachten Sie die Reaktion. Vielfach vertrauen wir so sehr auf die Farbe, dass wir unseren Geschmack täuschen können.

– Lassen Sie verschiedene Brotsorten verkosten und tauschen Sie sich darüber aus. Kauen Sie mindestens 2 Minuten. Das Brot wird dann im Mund langsam süß, weil die Stärke durch den Speichel abgebaut wird.

– Machen Sie eine Genussreise mit Schokolade: Dazu lassen Sie ein Stückchen Schokolade mindestens für 5 Minuten im Mund und stellen Sie sich dabei vor, wie Sie eine Insel aus Schokolade durchlaufen und bei verschiedenen Stationen auf der Insel ein wenig Schokolade verkosten. Wenn Sie am Schluss noch etwas Schokolade im Mund haben, dürfen Sie diese zerbeißen. Die Schokolade schmeckt unglaublich intensiv!

Christine Brombach leitet seit Juli 2009 die Fachstelle Ernährung und Consumer Science am Institut für Lebensmittel und Getränkeinnovation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil/CH.
Sie ist Ernährungs- und Haushaltswissenschaftlerin, hat einen Master of Science in Nutrition mit dem Schwerpunkt Gerontologie und promovierte zum Thema „Ernährungsverhalten von Frauen über 65 Jahren“.

Literatur
(1) Barlösius, E., Soziologie des Essens. Juventa Verlag, Weinheim und München 1999
(2) Karmasin, H., Die geheime Botschaft unserer Speisen. Was das Essen über uns aussagt. Verlag Antje Kunstmann, München 1999
(3) Douglas, M., Implicit meanings. Essays in anthropology. Sage, London 1975
(4) Brombach, C., Mahlzeit – Familienzeit? Mahlzeiten im heutigen Familienalltag.
Ernährungs Umschau 2001, 48, S. 238-242
(5) Simmel G. , Soziologie der Mahlzeit. In: Beiblatt zum Berliner Tageblatt vom 10.10.1919, S. 1-2
(6) Pudel, V.; Westenhöfer, J., Ernährungspsychologie. Eine Einführung. 2. Aufl., Göttingen 1998
(7) Leonhäuser, I.-U., Meier-Gräwe, U., Möser, A., Zander, U., Köhler, J., Essalltag in Familien – Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2009
(8) Proust, M., Unterwegs zu Swann. Frankfurter Ausgabe mit überarbeiteten Titeln, hg. v. Luzius Keller, Frankfurt 1994

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