Alle Ausgaben / 2011 Material von David Grossmann

Schwach wie ein anderer Mensch

Von David Grossmann

Samson … stand auf um Mitternacht und ergriff beide Torflügel am Stadttor samt den beiden Pfosten, hob sie aus mit den Riegeln und legte sie auf seine Schultern und trug sie hinauf auf die Höhe des Berges vor Hebron. Danach gewann
er ein Mädchen lieb im Tal Sorek, die hieß Delila. … Und Delila sprach zu Samson: Sage mir doch, worin deine große Kraft liegt und womit ich dich binden muss, um dich zu bezwingen. … Und sie ließ ihn einschlafen in ihrem Schoß und rief einen, der ihm die sieben Locken seines Hauptes abschnitt. Und sie fing an, ihn zu bezwingen – da war seine Kraft von ihm gewichen. (Ri 16,3f.6.19)

Samson ist erschöpft eingeschlafen. Es ist möglich, dass er unerwartet erleichtert ist, nachdem er sein Geheimnis preisgegeben hat, nun nicht länger seine ganze Muskulatur anspannen muss, um es zu bewahren. Seine Reise ist zu Ende. Jetzt kann er sein wie jeder andere Mensch. „… so wiche meine Kraft von mir“, hat er einen Moment zuvor noch Delila erklärt, „so dass ich schwach würde und wie alle anderen Menschen“.

„Wie alle anderen Menschen“, sagt er. Aber noch kurz zuvor, als Delila ihn fesselte, hat er zweimal betont, wenn er schwach würde, wäre er „wie ein anderer Mensch“, als wollte er sich da noch immer, unbewusst, eine gewisse Einzigartigkeit bewahren. Jetzt verzichtet er auch auf diesen Wunsch und möchte nur noch „wie alle anderen Menschen“ sein. Endlich kann er es aussprechen. Vielleicht ist es ja gar keine Schwäche, so wie alle anderen Menschen zu sein. Vielleicht hat Samson es sich insgeheim ein Leben lang gewünscht, so wie Leah Goldberg es in ihrem Gedicht über Samsons Liebe beschreibt.

Delila ruft zwar „einen“ der Philister, aber dann ist sie doch selbst diejenige, die die sieben Zöpfe des schlafenden Samson abscheidet. Vielleicht tut sie es, um die Erniedrigung durch die Rasur von der Hand eines Fremden ein wenig zu mildern. Vielleicht erniedrigt sie ihn gerade dadurch noch mehr. Und vielleicht ist das ihre Art, sich von ihm zu lösen und in einer einzigen bedeutungsvollen Tat die starken Gefühle zwischen ihnen noch einmal zu erleben. Aus der Entfernung von Tausenden von Jahren kann man sich ihren Gesichtsausdruck dabei vorstellen, bei ihrer Tat, der etwas Erotisches und zugleich eine gewisse Kastrationssymbolik anhaftet, und auch ihr Lächeln, das dünne Lächeln einer Frau, deren weibliche Reize einmal mehr obsiegt haben.

Seine Kraft hat ihn schon verlassen, doch noch weiß er es nicht, denn er schläft. Sie ruft wieder, zum vierten Mal: „Philister über dir, Samson!“ Er erwacht und denkt: „Ich will frei ausgehen, wie ich es früher getan habe, und will mich losreißen.“ Er spannt seine Muskeln an, wie er es zuvor getan hat, und merkt im gleichen Augenblick, „… dass der HERR von ihm gewichen war.“

Die Philister im Zimmer stechen ihm sofort die Augen aus. Seine wachen, getriebenen, gierigen, rastlosen Augen. „Samson widersetzte sich mit den Augen“, sagten „unsere Weisen selig“, „daher stachen die Pelistim ihm die Augen aus.“ (Der babylonische Talmud, Der Traktat Sota – Von der Ehebruchsverdächtigen, Fol. 9, S. 32) So wie er die Tore von Gaza ausgerissen hat, so reißen sie ihm jetzt die Pforten seines Gesichtes und seiner Seele heraus. Unvorstellbar, was Samson in diesem Moment durchmacht. Es lässt sich aber vermuten, dass es nicht nur der physische Schmerz ist, der ihn ganz erfüllt, und nicht nur der Zorn und die Verletzung durch den Verrat der Geliebten. Noch etwas anderes lässt ihn im Stich, zum ersten Mal, seit ihn in seiner Jugend der Geist Gottes umzutreiben begann: Seine enorme Kraft ist weg. Sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. Auch er ist ihm jetzt fremd. Auch er verrät ihn.

aus:
Löwenhonig –
Der Mythos von Samson
© 2006 Berlin
Berlin Verlag GmbH

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