Viele hätten es nicht für möglich gehalten, was 1989 geschah – ich auch nicht. Vor 20 Jahren begann, was ich bisweilen Entdeckungsreise nenne. Auf so einem Weg gibt es reichlich Überraschendes. Einmal begleiten Freude und Dankbarkeit, dann gibt es auch Ernüchterndes und Enttäuschendes.
Meistens wünsche ich mir: Ich möchte verstehen. Und manchmal stelle ich nüchtern fest: Ich kann es nicht verstehen. Seit vier Jahren lebe und arbeite ich im westlichen Teil Deutschlands. Lange Zeit konnte ich mir einen Wechsel von Ost- nach Westdeutschland nicht vorstellen. Zu fremd schien mir diese Welt. Nach drei Jahren, es war am Ende eines Kurses für Pastorinnen und Pastoren zur Vorbereitung der Advents- und Weihnachtsgottesdienste, entdeckte ich, dass etwas anders war. Ich war angekommen. Es war eine Mischung von Freude und Staunen. Ich nahm genauer wahr, konnte offener zuhören, war wieder sicherer in meinen Fragen und Antworten, die Begegnungen waren leichter.
Eine Gesprächsnotiz. „Wir treiben so viel Archäologie, was hindert uns, nach vorn zu schauen?“, fragt eine engagierte Kollegin aus der mecklenburgischen Landeskirche. „20 Jahre nach der Wende ist das normal, zurück zu schauen“, erwidert eine Hamburger Mitarbeiterin einer Beratungsstelle für Migrantinnen. Es sei in ihrer Arbeit bekannt, dass es etwa so viel Zeit brauche, um offener über Erlebtes sprechen zu können, vor allem mit Fremden. Ich will wissen, ob denn miteinander geredet werde, vor allem zwischen Ost und West. Leichtes Zögern bei beiden. Die gemeinsame Sprache sei auch eine Falle, sagt die Hamburgerin. So denken wir immer gleich, dass wir uns verstehen. Wären es unterschiedliche Sprachen, wüssten wir, wir haben die andere Sprache zu lernen und haben genau hinzuhören. Manchmal auch mit der Frage: Ob ich wirklich verstanden habe?
Die folgende Arbeitseinheit will ein Beitrag zum Verstehen sein.
Hinweis für die Leiterin: Der Entwurf enthält die Bausteine A bis F, die nach Interesse und Zeitrahmen einzeln oder auch verbunden gestaltet werden können. Es empfiehlt sich eine Entscheidung zwischen Baustein B und C.
-Lk 18,27 als Leitgedanke, als Jahreslosung ist auch zu verstehen als Zusammenfassung vieler biblischer „unmöglicher“ Geschichten. (Baustein A)
– In diesen Geschichten wird der Horizont geweitet, begegnet uns die Sprache der Hoffnung, wird erzählt vom Handeln Gottes mitten in unserer Welt. So nimmt dieser Entwurf seinen Ausgang weniger bei der Problembeschreibung, sondern orientiert sich eher an einem Lebensentwurf, nach dem wir uns sehnen, einem Leben, das nach der biblischen Botschaft verheißen ist.
Micha 4,1-7 beschreibt in Bildern gelingendes Leben, inmitten, doch auch jenseits einer Welt voller Unrecht und Zerstörung. Es empfiehlt sich, auch die vorangehenden Kapitel zu lesen, denn in Micha 4,1-7 ist eingeschrieben, was das Überleben begleitet: die Leere des verwüsteten Raumes, die Leere der Abwesenheit Gottes und die Leere des Schreckens.(1) Micha 4,1-7 erinnert an eine Zukunft, die Gott versprochen hat und macht sichtbar, was anders sein wird im Vergleich zur gegenwärtigen Situation. Aus dieser Erinnerung kommt die Kraft zur Veränderung. (Baustein B)
-Mit dem Thema „Schwerter zu Pflugscharen“ wird eine mögliche Interpretation der Jahreslosung angeboten. Ein Abschnitt ist der Blick zurück auf die Geschichte mit dem Bild „Schwerter zu Pflugscharen“ innerhalb der Friedensgebete in der DDR. Mit dem Blick auf diese Geschichte ist es wie mit dem Blick auf biblische Texte: Mit dem Erzählen unserer Geschichten deuten und konstruieren wir immer auch Wirklichkeit. Neben der Erinnerung gilt es, neue Geschichten zu finden, also auch zu suchen, die von der Veränderung von Schwertern zu Pflugscharen erzählen oder von Bomben zu Glocken, so beim Abschlussgottesdienst des Deutschen Katholikentages 2008 in Osna brück. (Baustein C)
– Der Blick auf einen größeren geschichtlichen Zusammenhang, nämlich auf das Leben der Mütter und Großmütter möchte die Sicht auf unsere jüngste Geschichte und den auf Ost und West erweitern und so zum Verstehen zwischen Frauen aus West und Ost beitragen.
In vielen Gruppen treffen Frauen aus West- und Ostdeutschland aufeinander, bzw. Frauen mit Ost-West-Erfahrungen. Wenn möglich, sollte bei der Teilung in Arbeitsgruppen auf eine unter diesem Aspekt gemischte Zusammensetzung geachtet werden. (Baustein D)
Baustein A: Flipchart o.ä., Papier A3, Wachsmalstifte
Baustein B: Kopien Micha 4,1-7 aus der Bibel in gerechter Sprache
Baustein C: Kopien der Abbildung Schwerter zu Pflugscharen, große Papierbögen
Baustein D: für jede Frau ein A2-Blatt, darauf drei Kreise
Für AbonnentInnen sind die Kopiervorlagen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.
Baustein A
1 Einstimmung
– Überschrift auf einer Tafel: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“
– Impuls: Die Bibel ist voller „unmöglicher“ Geschichten. Welche kennen Sie?
Die Teilnehmerinnen tragen solche biblischen Geschichten zusammen. Die Leiterin schreibt zu jeder Geschichte einen Titel oder ein Stichwort auf eine Tafel (z.B. Wasser zu Wein, 5 Brote für 5.000 Menschen).
– Danach werden die Stichworte vorgelesen mit der Bitte an die Teilnehmerinnen, darauf zu achten, welche Stimmung beim Hören entsteht.
2 Einzelarbeit
Die Teilnehmerinnen bekommen Papier und Wachsmalfarben und geben ihrer Stimmung durch Farbe Ausdruck. Dabei ermutigt die Leiterin zu spielerischem Umgang mit den Farben.
3 Austausch
– Ergebnisse werden in die Mitte gelegt. (Wenn die Gruppe sehr groß ist, sollten die Bilder in Kleingruppen an gesehen werden.)
– Anschließend tauschen die Frauen sich aus: Was nehmen Sie wahr? Was kommt Ihnen aus den Bildern entgegen? (Die Leiterin achtet darauf, dass nicht bewertet wird.) Die Malerin kann auf das Gehörte reagieren.
Baustein B
1 Der Text Micha 4,1-7
-In die Stimmung der Bilder hinein wird der Text Micha 4,1-7 zunächst vorgelesen, danach liest jede den Text für sich, danach noch einmal vorlesen.
– Die Teilnehmerinnen veröffentlichen ihre ersten Gedanken zu dem Gehörten. Hier geht es nicht um theologisches Argumentieren oder vertiefendes Gespräch; die Leiterin achtet darauf, dass einfach nur ein „Gedankenteppich“ entsteht. Sie kündigt die Kleingruppenarbeit schon mal an, damit muss nicht alles jetzt schon gesagt werden.
2 Informationen zum Text
Kurze Hinführung durch die Leiterin: Das Michabuch setzt die Zerstörung Jerusalems voraus und ist in der uns vorliegenden Gestalt (Erzählzeit) nach 587/6 zu datieren. Mit Micha 1,1 wird die erzählte Zeit vorgestellt. Micha tritt gegen Ende des 8. Jh. v. Chr. auf. Er übt scharfe Kritik an den Reichen und politisch Mächtigen und kündigt die Zerstörung Jerusalems an. Es wird also ein zeitlicher Rahmen als Bezugsgröße gegeben, von dem aus das gegenwärtige Geschehen betrachtet wird.(2) Auch nach der Zerstörung Jerusalems (Erzählzeit) bleibt die Erwartung, dass dies nicht Gottes letztes Wort ist, sondern dass es noch Hoffnung für das Volk gibt. Diese Hoffnung wird in Bildern entworfen als ein Raum, der kommen wird, wenn auch noch nicht sichtbar, aber doch diesseits der Tage: „in den hinteren Tagen“. Die Erwartung eines heilen Ortes findet einen Raum in der Zeit, auch wenn diese Zeit noch keinen Ort hat, utopisch ist.(3)
Es wird ein Raum entworfen, der frei ist von Herrschaft und Unterdrückung, frei von der Bewegung der Zerstörung und des Tötens. Dafür wird eine Bewegung hin auf eine Mitte beschrieben, hin zum Berg Zion. Von dort geht Gottes Wort aus in alle Welt. Die Menschen und Völker leben friedlich miteinander, Ruhe und Frieden und sicheres Wohnen sind Kennzeichen des Lebens. Die paradiesische Friedensidylle ist nicht Privileg eines Herren- oder Eroberungsvolkes, sondern bezieht alle Völker in nah und fern ein.
Der literarisch vorgestellte Raum ist geprägt von der Zerstörung militärischer Waffen, aber in ihm werden nun stattdessen landwirtschaftliche Geräte benutzt, ja Krieg wird nicht mehr gelernt werden.(4) Wurde Jerusalem zu einem Steinhaufen gepflügt (3,12), soll zukünftig mit Pflugscharen das Land bestellt werden.
3 Vertiefende Textarbeit
– Vier Kleingruppen arbeiten zu einem Bild, einem Begriff (ein Begriff auf einem Blatt, um die Begriffe bilden sich die Gruppen): Wandeln auf Gottes Pfaden / Schwerter umschmieden zu Pflugscharen / den Krieg nicht mehr erlernen / unter dem Weinstock wohnen
– Die Frauen tauschen sich zu ihrem Bild bzw. Begriff aus mit dem Impuls (evtl. schriftlich mitgeben): Wie verstehe ich dieses Bild? Welches Leben wird beschrieben? / Gibt es Erinnerungen an Situationen in meinem Leben, in denen ich etwas erlebt habe von dem im Bild Beschriebenen? Was ist mir dabei wichtig geworden? (Hinweis der Leiterin für Kleingruppenarbeit: Die Frauen achten darauf, dass jede zu Wort kommen kann; pro Teilnehmerin 8 bis 10 Minuten einplanen)
– Gespräch im Plenum: Wie ist es den Teilnehmerinnen in der Gruppe ergangen? Gab es gemeinsame Entdeckungen?
Baustein C
1 Die Kraft eines Bildes
Die Teilnehmerinnen haben eine Kopie des Bildes vor sich, bzw. können es gemeinsam ansehen (Overheadprojektor, Beamer). Die Leiterin informiert zur Geschichte des Symbols „Schwerter zu Pflugscharen“ (Micha 4,3) innerhalb der Friedensbewegung in der DDR:
In der Vorbereitung der Friedensdekade 1980 wurde das Symbol (stilisierte Abbildung des Denkmals des sowjetischen Künstlers Jewgenij Wutschetitsch, ein Geschenk der UdSSR an die UNO, aufgestellt in New York) als Lesezeichen bzw. als Aufnäher auf Vlies gedruckt (etwa 50 cm2 groß). Das Bild war in dem damals aktuellen Geschenkbuch zur Jugendweihe abgedruckt; niemand rechnete damit, dass das Symbol Anstoß bei staatlichen Stellen erregen würde. Während der Friedensdekade vom 8. bis 18. November 1981 wurden die Aufnäher angeboten. Völlig überraschend nähten sich Tausende junge Menschen, auch Kirchenfremde, das Symbol auf ihre Jacken. Über 100.000 Stück wurden gedruckt und verteilt. Das Symbol war zur Möglichkeit geworden, einer politischen Haltung gegen Militarisierungs- und Disziplinierungspolitik öffentlich Ausdruck zu geben. Ab Januar 1982 reagierten die Staatsorgane. Es wurde verboten, das Symbol zu tragen. Wer das Verbot nicht einhielt, wurde „zugeführt“, in der Druckerei in Herrnhut wurden die Druckstöcke eingezogen.
Die Kirchenleitungen verhielten sich ambivalent. Die Landessynode Sachsen erklärte: „Wir müssen Euch aber sagen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Euch vor den Konsequenzen, die das Tragen des Aufnähers mit sich bringen kann, zu schützen (…) Ihr müsst überlegen, welche Bedeutung dieser Aufnäher für Euer Friedenszeugnis hat…“(5) Im September 1982 sagte die Bundessynode der Ev. Kirchen in der DDR: „Wir verzichten aber darauf um des Friedens willen.“(6) Um des Friedens willen wurde die politische Bedeutung der Bewegung größtenteils von den Kirchenleitungen heruntergespielt und das Friedensengagement individualisiert. Eine innerkirchliche Bewegung hatte die Grenze überschritten. Zum Abschlussgottesdienst der Friedensdekade 1982 in Leipzig mit dem Motto „Wir können nicht schweigen“ kamen 1700 Menschen. Bis 1989 tauchte das Symbol immer wieder auf. Der Leitsatz der Friedensbewegung in West- und Ostdeutschland „Frieden schaffen ohne Waffen“ blieb verbunden mit „Schwerter zu Pflugscharen“. Ein kleines Bild hatte die Machthaber Angst bekommen lassen. Aus einem religiösen Symbol war ein politisches geworden. Die Menschen, die es trugen, wussten sich gefährdet und waren sich gleichzeitig ihrer Kraft bewusst. Das war das Wesentliche, und das wirkte fort.
2 Erfahrungen der Gruppe
– Die Teilnehmerinnen haben die Möglichkeit, die mit dem Symbol verbundenen Erinnerungen zu erzählen.
– Anschließend tauschen sie sich (in Kleingruppen) aus: 20 Jahre nach der Wende – Was hat sich für mich konkret verändert, und welche Bedeutung haben die Veränderungen für mich? Die Gruppen sammeln Stichpunkte zu den Veränderungen.
– Austausch im Plenum zu den Stichpunkten: Ist in diesen Veränderungen etwas von „Schwerter zu Pflugscharen“ zu entdecken?
– Abschließend sagt jede, die möchte, einen Satz: Ich wünsche mir, dass die Kraft des Bildes „Schwerter zu Pflugscharen“ heute spürbar wird… (Orte, Situationen).
Baustein D
– Perspektivwechsel: Jede Lebensgeschichte trägt in sich Zeiten von Schwertern und Zeiten von Pflugscharen. Die Sicht zu erweitern auf die Generationen vor mir, kann hilfreich sein, das eigene Leben und das der anderen besser zu verstehen.
– Die Teilnehmerinnen erhalten ein Blatt mit drei Kreisen und werden gebeten, die drei Kreise zu füllen (Einzelarbeit): Wo komme ich her, wo meine Mutter, wo meine Großmutter? Was war / ist besonders an diesem Ort? (in den Kreis hineinschreiben)
– In Kleingruppen stellen die Teilnehmerinnen ihre Kreise vor: Wie sehe ich die Lebenskreise meiner Mutter und Großmutter? Wie würden meine Großmutter, meine Mutter meinen Lebenskreis beschreiben?
– Im Plenum kommen die Teilnehmerinnen ins Gespräch: Was habe ich beim Erzählen und Zuhören verstanden? Verändert dies Verstehen möglicherweise meinen West-Ost-Blick? Was wünsche ich für die Töchtergeneration?
Baustein F
Lied, z.B. „Hineh ma tov“ („Schön ist's, wenn Brüder und Schwestern friedlich beisammen wohnen. In Gemeinschaft finden wir Gottes Frieden“; in einigen landeskirchl. Teilen EG, Kirchentagsliederbüchern etc.); Meditation (siehe Seite 42/43)
Marlies Richter, Jahrgang 1953, Mutter dreier erwachsener Kinder, war Pfarrerin in Leipzig und Steinhagen bei Stralsund, bevor sie von 1994 Leiterin des Frauenwerkes der Pommerschen Ev. Kirche und ab 2000 bis 2004 Leiterin des Ev. Frauenwerk Mecklenburg-Vorpommern wurde. Seit 2005 ist sie Studienleiterin am Pastoralkolleg der Ev.-Luth. Kirche Nordelbiens und der Pommerschen Ev. Kirche.
Anmerkungen:
1 Ulrike Bail: Die verzogene Sehnsucht hinkt an ihren Ort, Gütersloh 2004, S. 12
2 Vgl. Bail, a.a.O., 84ff.
3 Vgl. Bail, a.a.O., 105ff.
4 Vgl. Bail, a.a.O., 116
5 Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, 402
6 a.a.O. 403
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