Ausgabe 1 / 2021 Andacht von Dagmar Krok

Sehnsucht nach Leben

Von Dagmar Krok

Votum:
Lasst uns innhalten und Gottes Nähe suchen. // Komm heilige Geistkraft, göttlicher Atem, / öffne uns für Deine Gegenwart. / Erquicke und belebe, was erschöpft ist und müde. // Komm heilige Geistkraft, göttlicher Atem, / wecke unsere Sehnsucht, Amen
Lied

Die güldene Sonne
EG 449, 1,2+10

Gott weckt unsere Sehnsucht. Weil Menschen Liebe oder Freude oder Schönheit, Angenommen Sein, Kunst oder den duftenden Wald schon einmal erlebt haben, weckt dies ihre Sehnsucht nach einem Leben, das angefüllt ist mit solchen Lichtfunken des Glücks. Weil andere Menschen davon erzählen, wie gut sich Leben anfühlen kann, haben auch Menschenkinder ohne diese Erfahrungen Sehnsucht nach Leben. Diese Sehnsucht lädt ein, über das Leben nachzudenken: Was ist mir wichtig? Wie möchte ich leben? Woran habe ich Freude? Wonach sehne ich mich?

„Alles beginnt mit der Sehnsucht“ sagte Nelly Sachs. Es ist diese Sehnsucht, die uns drängt, jeden Morgen aufzustehen und Leben zu gestalten. Vielleicht so, wie in diesem Gedicht:

Morgenwonne
Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt.
Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Aus meiner tiefsten Sehnsucht zieht
mit Nasenflügelbeben
ein ungeheurer Appetit
nach Frühstück und nach Leben.
(Joachim Ringelnatz )

Leicht, voller Energie, im tänzerischen Rhythmus beschreibt Ringelnatz das Aufwachen am Morgen. Es scheint fast so, als würde sich die Energie aus Sehnsucht und ungeheurem Appetit nach Leben speisen.

Diese Sehnsuchtsenergie tritt in den Alltag. Sie nährt sich an den knallvergnügten Tagen und lässt innehalten, wenn es ruhiger zugeht, oder traurig oder einfach nur wie immer. Gerade dann ahnen wir, dass es mehr geben muss. Mehr Ruhe, mehr Freude, mehr Liebe, mehr …

In jeder*m von uns steckt die Sehnsucht nach Leben. Sie weckt Hoffnung und schenkt Sinn. Aus ihr entsteht ein Ziel: Wir begehren etwas, das durch uns in die Welt gelangen will. Sie ist der Anstoß für menschliches Wachsen und das Motiv für menschliches Streben nach Sympathie und Zuwendung. Sehnsucht ist aufregend.

Unsere Sehnsüchte bilden eine Brücke zum Göttlichen. Alles beginnt mit der Sehnsucht und Gottes Schöpfung bildet den Ursprung von allem. Wir sehen Spuren der Liebe Gottes in unserer Welt – in guter Musik, in Lebenslust, in Gedichten, im Anblick der Schöpfung, im Kontakt mit anderen Menschen. Solche Augenblicke nähren die Sehnsucht, in Gottes Liebe aufzugehen, uns zu spüren und hier heil zu sein. So kann aus Sehnsucht Glauben werden. Die Sehnsucht nach Nahsein ist stark, Gott selbst nährt sie und die Psalmsänger und Propheten beschreiben sie.

So hören wir beim Propheten Jesaja über das zukünftige Heil (Jes 35,1-6)

1Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. 2Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des EWIGEN, die Pracht unsres Gottes. 3Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 4Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.« 5Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 6Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.

Wunderschöne Bilder dessen, wie es einmal sein wird. Noch sind wir nicht angekommen, aber dies zeigt die Sehnsucht nach Leben, in dem Gutes und Gerechtigkeit wohnen. Darauf können wir vertrauen: „Gott hat gewiss keine Sehnsucht erschaffen, ohne auch die Wirklichkeit zur Hand zu haben, die als Erfüllung dazugehört. Unsere Sehnsucht ist unser Pfad.“1


Was wohl das Größte an der Sehnsucht ist? Schon Augustinus hat sich mit der Frage beschäftigt. Seine Antwort lautet: „Du, o Gott, hast uns zu dir hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir.“ Er bringt zum Ausdruck: Gott hat Sehnsucht nach uns Menschen und unsere Sehnsucht findet ihr Ziel in Gott. Auch Mechthild von Magdeburg kennt diesen sehnsüchtigen Gott: „Du brennender Gott in deiner Sehnsucht!“ Gott hat Sehnsucht und aus Sehnsucht nach uns Menschen hat Gott die Welt geschaffen! Der Gedanke, dass die ganze Schöpfung und besonders die Menschen ihre Ursache und ihren Ursprung in der Sehnsucht Gottes nach einem menschlichen DU haben, ist so großartig, dass frau ihn nicht oft genug denken kann. Gott hatte Sehnsucht nach uns Menschen, darum wurden wir geschaffen.

Und weil Gott Sehnsucht nach Milliarden verschiedener Menschen hatte, wurden viele verschiedene geschaffen: Hautfarben und Nationen, Gesichter und Gesten. Und weil Gott Sehnsucht nach Dir und mir hatte, hat Gott Dich und mich geschaffen.

Gott ist die Liebe, das ist sehr viel. / Gott ist die Sehnsucht, das ist noch viel mehr. / Gott ist ein sehnsüchtiger Gott. / Etwas Schöneres lässt sich von Gott nicht sagen, / als dass er aus Sehnsucht / alles geschaffen hat; / aber man kann wohl auch nichts Schöneres von uns Menschen sagen, / als dass wir der Sehnsucht Gottes entsprungen sind. / Dann steht tatsächlich die Sehnsucht am Anfang.

Und mit den Worten von Nelly Sachs können wir beten:

„Alles beginnt mit der Sehnsucht, Gott / immer ist im Herzen Raum für mehr, / für Schöneres, für Größeres. / Das ist des Menschen Größe und Not: // Sehnsucht nach Stille, / nach Freundschaft und Liebe. / Und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf. // Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott, / mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an? // So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen, / Dich zu suchen, / und lass sie damit enden Dich gefunden zu haben.2
Amen

Lied

Da wohnt tief ein Sehnen in uns3

Segen
Zum Segen bitte Euch dazu aufzustehen und in die Bewegungen einzustimmen:

Atemholen
Loslassen und aufbrechen.
Sich dem Rhythmus des Atems anvertrauen und sich durch eine angeleitete Atemerfahrung ermutigen lassen.

Mit meiner Sehnsucht öffne ich mich dem Himmel
einatmen, dabei die ausgebreiteten Arme nach oben führen

Ich bin ganz bei mir
Atem innehalten,
dabei die Handflächen vor die Augen führen

Ich öffne mich der Welt
ausatmen,
dabei die ausgebreiteten Arme seitlich nach unten senken.

Diese Übung mehrere Male im eigenen Atemrhythmus wiederholen.

Mit unserer Sehnsucht
kommen wir zu dir,
Gott
dass deine Berührung
uns segne.

Gott, du füllst
unsere Seelen
mit deiner Musik,
mit deinem Frieden,
mit deiner Freude.

Gott du nährst
unsere Sehnsucht
Sendest uns auf
unserem Weg
und segnest uns.
Amen

Anmerkungen
1 Tania Blixen, Babettes Fest und andere Erzählungen
2 Nelly Sachs, Alles beginnt mit der Sehnsucht
3 Originaltitel: There is a longing. Text und Melodie Anne Quigley 1973, Deutscher Text Eugen Eckart 1986

Dagmar Krok ist Diakonin und Dipl.-Sozialpädagogin. Sie arbeitet als Referentin im Frauenwerk der Nordkirche und ist Mitglied im Redaktionsbeirat leicht & SINN.

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