Alle Ausgaben / 2011 Artikel von Sigrid Pfäfflin

Selig sind die Barmherzigen

Ehrenamtliches diakonisches Engagement

Von Sigrid Pfäfflin


Ehrenamtliches diakonisches Handeln ist ein wichtiger Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft. Wo Barmherzigkeit ohne Verdienst und Ansehen als tätige Nächstenliebe geübt wird, ist eine Kraft am Werk, die sich aus inneren Quellen speist.

Und doch stellt sich immer wieder die Frage, ob mit den „Werken der Barmherzigkeit“ nicht ungewollt auch ein ungerechtes System stabilisiert beziehungsweise vertuscht wird, dass der (Sozial-) Staat seine Aufgaben nicht erfüllt. Gewerkschaften befürchten den Wegfall von bezahlten Arbeitsplätzen, wenn Ehrenamtliche in Einrichtungen für alte und behinderte Menschen oder für Kinder eingesetzt werden. Politiker und Politikerinnen setzen auf die unbezahlte Arbeit von Frauen bei der Kinderbetreuung, bei der Begleitung von Menschen mit Demenz, bei den Tafeln und in vielen anderen Bereichen mehr. Wäre die Konsequenz also, Ehrenamt in der Diakonie möglichst zu vermeiden? Gilt es, die Bedingungen in der sozialen Arbeit politisch so zu verbessern, dass Ehrenamt überflüssig ist?

Ehrenamt ist nie überflüssig! Ehrenamt ist eine besondere Form des gesellschaftlichen Engagements. Ob die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die sozialen Leistungen, auf die alle einen Anspruch haben, auskömmlich sind oder nicht: Ehrenamtliche sind eine nicht zu unterschätzende Ergänzung zu den Professionellen, da sie anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen.

Ich möchte das Ehrenamt, von innen nach außen, aus vier Blickwinkeln betrachten:
– Motivation und Gewinn
– Besonderheit der Zielgruppe
– Institution
– Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Dabei geht es mir nicht um die Frage Ehrenamt oder politische Einflussnahme – die ja auch zu großen Teilen ehrenamtlich ist. Vielmehr gilt es zu schauen, wer im Gesamtsetting welche Interessen und Motivationen hat, welche Rahmenbedingungen aufeinander abgestimmt werden müssen, damit alle ihren Gewinn haben.

Motivation und Gewinn

Regelmäßig besucht Frau A ihre Mutter im Pflegeheim. Sie unterstützt ihre Mutter, ist in gutem Kontakt zu den anderen Bewohnerinnen, den Mitarbeitenden und anderen Angehörigen. Für mehrere Jahre wird das Haus zu einem Teil ihres Lebens. Nachdem die Mutter gestorben ist, nimmt Frau A sich derer an, die keine Angehörige haben.

Frau B liegt im Krankenhaus. Die Zeit will nicht vergehen, sie braucht viel Geduld. Da kommt die „Grüne Dame“ mit dem Wagen der Patientenbücherei. Ein Gespräch, ein Tipp für etwas Kurzweiliges zum Lesen – und schon sieht der Tag anders aus. „Das hat mir gefallen, da will ich mitmachen“, sagt Frau B.

Jahrelang hat Frau C Nachtwache im Pflegeheim gemacht – jetzt kommt sie einmal in der Woche nachmittags zum Spielen. „Mensch ärgere dich nicht“ steht natürlich ganz oben auf der Hit-Liste. Frau C erlebt die Bewohnerinnen des Pflegeheims ganz neu, indem sie ein Stück Leben mit ihnen teilt.

Herr D schließlich hat sich in seinem Beruf überwiegend mit Zahlentabellen und Statistiken beschäftigt. Eben in Rente, liest er die Anzeige eines Familienzentrums, das Ehrenamtliche für die Unterstützung von Kindern und ihren Familien sucht. Spontan meldet er sich als „Behördenbegleiter“.

Unterschiedliche Wege führen in die Ehrenamtlichkeit. Allen gemeinsam ist die eigene Betroffenheit und die Erfahrung, dass es für Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, mehr gibt als das, was sie von den Mitarbeitenden erwarten können. Doch nicht nur alte, kranke, behinderte Menschen oder benachteiligte Familien und Kinder haben etwas davon, wenn Ehrenamtliche ihnen einen Dienst erweisen. In hohem Maße erfahren diese selbst dadurch große Befriedigung. Eine Aufgabe, die freiwillig, nach eigener Auswahl, Zeiteinteilung und Aufwand übernommen wird, erzeugt das Gefühl, gebraucht zu werden – häufig viel stärker als in beruflichen Zusammenhängen.

Arbeit in der Gruppe:
Die Leiterin liest die vier Beispiele vor, wie Frau A, Frau B, Frau C und Herr D zu ihrem jeweiligen Ehrenamt gekommen sind.

Impuls für das Gespräch:
Welches Ehrenamt hatte oder habe ich? Wie bin ich dazu gekommen? (in größeren Gruppen evtl. in Murmelgruppen)
Anschließend werden zehn Argumente für ehrenamtliches Engagement zusammengetragen.

Besonderheit der Zielgruppe

Wer sich ehrenamtlich engagiert, kommt nicht umhin, sich mit der besonderen Lebenssituation der Menschen zu befassen, denen der Dienst gilt. Welches sind die körperlichen Besonderheiten? Wie erkenne ich die Ressourcen, wie gehe ich mit den Defiziten um? Gibt es spezielle Symptome oder Krankheitszeichen, die ich besonders beachten muss? Insbesondere bei alten und behinderten Menschen ist das Wissen um ihre Biografie hilfreich. Was war ihnen wichtig im Leben? Welches Leben hatte sie oder er vor der Behinderung? Wie geht er mit seiner Behinderung um? Wie ist ihr eigenes Lebenskonzept? Welche Stärken hat er oder sie?

Eine ganz wichtige Auseinandersetzung wird von denen erwartet, die sterbende Menschen begleiten. Da geht es um Fragen des eigenen Umgangs mit dem Tod, dabei werden erlebte Abschieds- und Trauersituationen wieder lebendig. Was kann ich sagen, wenn ich sprachlos bin? Wie kann ich trösten, wenn ich selbst Trost brauche? Hospizgruppen bieten Fortbildungen, Vorträge und regelmäßige Treffen an. Aber auch für Ehrenamtliche in der Altenpflege gibt es Angebote – häufig als Angebote für Angehörige von demenziell Erkrankten. Diakonische Werke, diakonische Einrichtungen und Krankenhäuser haben oft ein breites Spektrum an Fortbildungen, die Wissen über und Verständnis für die Besonderheit einer bestimmten Zielgruppe schaffen.

Arbeit in der Gruppe:
Die Leiterin liest die beiden ersten Absätze des Kapitels „Besonderheit der Zielgruppe“ vor und lädt zu einem Austausch darüber und Vergleich mit eigenen Erfahrungen der Teilnehmerinnen ein.

Vorschlag zur Weiterarbeit:
Die Frauen erkunden bis zum nächsten Treffen die Angebote, die es in ihrem Umfeld zu Vorbereitung und Fortbildung für ehrenamtliche MitarbeiterInnen in der diakonischen Arbeit gibt.

Die Institution

Eine zentrale Frage, die einer Antwort bedarf, ist: Wessen „Helferin“ bin ich – die des alten Menschen, des Personals auf der Station, der Heimleitung, der Pastorin, die für die Begleitung der Ehrenamtlichen zuständig ist? Wer ist mein Auftraggeber, meine Auftraggeberin, wer ist mir gegenüber weisungsbefugt?

Um eine wirklich befriedigende ehrenamtliche Arbeit zu tun, braucht es klare Absprachen über Zuständigkeiten. Manchmal ist der Auftrag klar und die Abgrenzung zu den Professionellen eindeutig. So wird sich zum Beispiel die Krankenschwester in der Klinik nicht zuständig fühlen für die fahrbare Leihbücherei. Aber manchmal ist eben auch unklar, wer für was zuständig ist. Helfe ich oder hole ich die Schwester, wenn der alte Mensch während des Vorlesens zur Toilette muss? Dinge, die ich im häuslichen Umfeld selbstverständlich tun würde, bedürfen im institutionellen Kontext der Absprache.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen stehen unter einem großen Zeitdruck und haben von ihren Aufgaben her das zu leisten, was die Kassen bezahlen. In der Regel leiden sie selbst unter dieser Situation und würden gerne mehr Zeit für die alten, kranken und behinderten Menschen haben. Die Mitarbeit der Ehrenamtlichen kann da ganz unterschiedliche Gefühle freisetzen – von dankbarer Anerkennung, bis zum Neid, dass Ehrenamtliche die „schönen“ Aufgaben des eigenen Berufes wahrnehmen können. Diakonische Einrichtungen haben in der Regel eine Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner für Ehrenamtliche, die oder der diese begleitet, sie regelmäßig zu Treffen einlädt und wo nötig zwischen Professionellen und Ehrenamtlichen vermittelt.

Arbeit in der Gruppe:
Die Leiterin führt anhand des Kapitels „Die Institution“ kurz in die Fragen der Abgrenzung von professioneller und ehrenamtlicher Arbeit ein.

Impuls:
Stellen Sie sich vor, Sie möchten demnächst ehrenamtlich in unserem Krankenhaus (unserem Pflegeheim, unserer Altentagesstätte …) mitarbeiten. Welche Fragen müssten aus Ihrer Sicht vorher unbedingt geklärt werden?

Die Frauen sollten sich zunächst in Kleingruppen austauschen, dann die Fragen im Plenum zusammentragen. Wenn es in der Gruppe Interesse an künftiger ehrenamtlicher Arbeit in einer der örtlichen Einrichtungen gibt, sollte für die Beantwortung der Fragen zum nächsten Treffen eine Vertreterin oder ein Vertreter aus einer oder mehreren Einrichtung(en) eingeladen werden.

Gesellschaftlicher Rahmen

Ehrenamtliche Tätigkeit erfährt eine zunehmend hohe gesellschaftliche Anerkennung. Die Bedeutung des Ehrenamtes nimmt zu – nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnis, dass ohne freiwilliges Engagement der Zivilgesellschaft „kein Staat zu machen“ ist. Viele Städte fördern das Ehrenamt durch die Engagement-Card für Menschen, die mindestens 100 Stunden pro Jahr freiwillig tätig sind. Inhaberinnen und Inhaber der Karte haben kleine Vergünstigungen in den Bereichen Kultur, Freizeit und Mobilität. Noch wichtiger zu wissen ist, dass Ehrenamtliche grundsätzlich denselben Versicherungsschutz wie hauptamtlich Angestellte haben. Personen-, Sach- und Vermögensschäden sind durch eine Haftpflichtversicherung gedeckt, wer selbst einen Personenschaden erleidet, ist über die Berufsgenossenschaft abgesichert. Insbesondere junge Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, sollten nicht vergessen, sich für spätere Bewerbungen ein Zertifikat ausstellen zu lassen.

Gleichwohl dürfen wir die problematische Seite des Themas nicht aus dem Blick verlieren. Da ist auf der einen Seite der gesellschaftliche Bedarf an ehrenamtlichem Engagement – etwa durch die steigende Zahl alter Menschen, die Zunahme von Familien und damit Kindern, die an der Armutsgrenze leben, durch viele Bereiche in Sport und Kultur. Dem gegenüber stehen die leeren Kassen der Städte und Gemeinden und die Deckelung der Kosten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Die Gefahr, dass durch den Einsatz von Ehrenamtlichen der Personalmangel kompensiert werden soll, dass Ehrenamtlichen Aufgaben übertragen werden, die den hauptamtlichen Kräften obliegen, dass ganze Aufgabenbereiche (Tafeln, Teile der häuslichen Pflege) auf das ehrenamtliche Engagement gebaut werden, ist groß. Dass es vielerorts so ist, ist nicht zu leugnen. Hier sind Verbände und Organisationen gefragt. Frauenverbände, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen im gemeinsamen Interesse diesem Trend politisch entgegenwirken. Damit wird das Ehrenamt nicht weniger wichtig. Denn die Bedeutung des Engagements für die Ehrenamtlichen und die Menschen, die von ihnen begleitet werden, bleibt gleich. Es ist nicht die Sache derer, die ehrenamtlich handeln, auch die politische Situation zu ändern. Sie sollten sich aber des Zwiespaltes bewusst sein, ihn reflektieren und wissen, welche Haltung die Parteien und Verbände in dieser Frage vertreten.

Arbeit in der Gruppe:
Die Leiterin führt anhand des Kapitels „Gesellschaftlicher Rahmen“ kurz in die Problematik ein.

Impuls:
Die Gruppe trägt Informationen darüber zusammen, welche Verbände sich mit dem Thema befassen und es in kirchlich- diakonische und politische Gremien einbringen. Gibt es in der eigenen Kommune eine Stelle für bürgerschaftliches Engagement? Wo gibt es Lobbyarbeit für gerechte Strukturen?
Bei weiter gehendem Interesse kann zum nächsten Treffen eine Vertreterin oder ein Vertreter der Kommune und/oder des Diakonischen Werks zu Information und Gespräch über dieses Thema eingeladen werden.

Der Not der Zeit begegnen

Da ist die Not vieler Menschen, denen eine erfüllende Aufgabe fehlt, die ihre Zeit sinnvoll nutzen wollen, die so gerne etwas mit anderen und für andere Menschen tun möchten. Menschen, die etwas zurückgeben wollen von dem, was sie selbst bekommen haben. Menschen, die in der Zuwendung zum anderen einen Ausgleich zu ihrem menschenfernen beruflichen Alltag finden.

Da ist zugleich die Not vieler alter, kranker und behinderter Menschen, die Not armer Familien und Kinder, am gesellschaftlichen Leben nicht (mehr) teilnehmen zu können. Einsamkeit, Ausgrenzung und Chancenlosigkeit bestimmen das Leben so vieler.

Und da ist die Not der Institutionen und Einrichtungen und ihrer Mitarbeitenden, unter immer schwierigeren Bedingungen ihre Arbeit tun zu müssen. Pflegende – überwiegend Frauen – die ihren Beruf auch als „Beziehungsarbeit“ sehen, pflegen im Minutentakt und brauchen oft mehr Zeit zur Dokumentation ihrer Arbeit, als für die Pflege selbst.

Und da ist schließlich die Not der Gesellschaft, die sich nicht an den Schwächsten orientiert, sondern in der die Starken das Sagen haben.

„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ – Nehmen wir doch die Jahreslosung beim Wort. Begegnen wir der Not der Zeit im ehrenamtlichen diakonischen Engagement.

Sigrid Pfäfflin, 58 Jahre, ist gelernte Krankenschwester. Die Diakonische Schwester ist Oberin des Ev. Diakonissenmutterhauses Bremen. In der EFiD-Mitgliederversammlung vertritt sie den Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissen-Mutterhäuser e.V.

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