Ausgabe 1 / 2002 Frauen in Bewegung von Cordula Lissner

Selma Lagerlöf

Schriftstellerin mit sozialem Weitblick

Von Cordula Lissner

Seit die Wildgänse ihre Herbstreise angetreten hatten, waren sie immer geradewegs südwärts geflogen; aber als sie das Fryksdal verließen, änderten sie die Richtung und flogen nun über das westliche Värmland und Dalsland nach Bohuslän. Die jungen Gänse hatten nun so viel Übung im Fliegen bekommen, daß sie nicht mehr über Müdigkeit klagten, und Nils Holgersson gewann allmählich das Gleichgewicht wieder. Noch immer war er hochbeglückt über das Erlebnis auf dem Hofe. Nun hatte er sich einmal mit einem Menschen aussprechen können; und die fremde Dame hatte ihn aufgemuntert und gesagt, er solle nur wie bisher gegen alle, mit denen er zusammentreffe, gut und hilfreich sein, dann werde es ihm gewiß nicht schlecht ergehen.

Nils Holgerssons Reise mit den Wildgänsen war, mehr als 90 Jahre vor Harry Potter entstanden, eines der meistgelesenen Kinderbücher seiner Zeit. Die Schriftstellerin Selma Lagerlöf wurde weltberühmt damit. Dabei war es eigentlich eine Auftragsarbeit, mit der die schwedische Schulbehörde hoffte, den Kindern die geographischen Besonderheiten ihres Heimatlandes näher zu bringen. Ein schön verpacktes Erdkundebuch also hatte es werden sollen, und wer konnte das besser schreiben, als eine ehemalige Lehrerin, die auf weiten Reisen ihren Blick für die Verschiedenartigkeit von Landschaften geschärft hatte.
„Nun hatte er sich einmal mit einem Menschen aussprechen können.“ – Die fremde Dame, die der kleine Nils Holgersson hier auf einer Rast getroffen hat, und die ihn wieder aufmunterte, ist eine literarische Stellvertreterin der Autorin selbst. Eine gute und hilfreiche Trösterin wollte sie ihr Leben lang sein.

Selma Ottiliana Lovisa Lagerlöf wurde am 20. November 1858 auf dem Gutshof Marbacka im schwedischen Distrikt Varmland geboren. Marbacka, im 18. Jahrhundert noch ein Pfarrhof, lag am Rande eines weiten Tals mit Wiesen und Feldern. Selma war das dritte Kind von Erik Gustav Lagerlöf , einem fröhlichen Leutnant im Ruhestand, und seiner Frau Louise Elisabeth geb. Wallroth, die als Tochter eines Kaufmanns und Grubenbesitzers mit praktischer Erfahrung und zupackendem Wesen Haus und Hof verwaltete. Als die kleine Selma drei Jahre alt war, erkrankte sie an Kinderlähmung und war nun mehrere Jahre lang in ihrem Bewegungsdrang sehr eingeschränkt. Ein leichtes Hinken behielt sie davon zurück und die frühe Kenntnis der Bibliothek ihrer Eltern, denn das Lesen wurde ihr ein Ausgleich für das entgangene Herumtoben. Tröstend für das Kind waren aber auch die Märchen und Sagen, mit denen ihm Großmutter und Tanten die Zeit vertrieben.
Während die Lagerlöfschen Jungen die städtische Schule besuchten, wurden die beiden Mädchen von einer Hauslehrerin unterrichtet. Mit Stolz und Emphase schrieb die heranwachsende Selma ihr erstes Gedicht: „Ich bin 15 Jahre alt, und ich habe alle Dichter gelesen, die wir zu Hause haben. (…) nie zuvor ist mir eingefallen, dass ich Verse schreiben könnte. (…) Aber jetzt habe ich ein paar gereimte Zeilen zusammengestellt. (…) Stelle dir vor, was du willst, an großem, unerwarteten Glück, und du wirst dir doch kein größeres denken können, als das ich in diesem Augenblick empfand.“
Die junge Poetin musste aber zunächst noch viele Enttäuschungen verwinden. Die ersten Verse, die sie an eine Zeitung schickte, wurden höflich zurückgesandt. Selma entschloss sich, eine Ausbildung als Lehrerin zu machen, nicht um ihre Dichterinnenträume aufzugeben, sondern um selbständig und ökonomisch unabhängig zu werden. Als sie im Herbst 1882 die Aufnahmeprüfung bestanden hatte, war sie darüber genau so glücklich wie über ihre ersten Lyrikversuche. „Ich bin nicht mehr hilflos und abhängig. Ich habe eine Laufbahn vor mir. Ich werde imstande sein, selbst mein Brot zu verdienen.“ 
Für eine Bürgerstochter im späten 19. Jahrhundert war der Lehrerinnenberuf auch in Schweden oft die einzige Alternative zur Ehe, aber er war eine Alternative, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichte.
1885 wurde Selma Lagerlöf an der Höheren Schule für Mädchen in Landskrona angestellt, einer kleinen industrialisierten Hafenstadt in Südschweden. Die Schülerinnen liebten ihre freundliche und kreative Lehrerin mitsamt ihren Gedichten. „Mit allem gingen wir zu ihr, und alles bekamen wir erklärt. Sie wies niemals unsere Fragen damit ab, dass wir zu jung wären, diese Dinge zu verstehen, denn sie hatte ein wundervolles Vermögen, so zu schildern und zu erzählen, dass wir es verstanden.“  Ein schönes Kompliment einer ehemaligen Schülerin, in dem deutlich wird, dass Selma Lagerlöf gerne unterrichtete. Trotzdem gab sie ihren Traumberuf nicht auf. In den Abendstunden und an den Sonntagen begann sie, etwas anderes zu schreiben, als gereimte Verse. Sie formte die varmländischen Sagen, die ihre Kindheit begleitet hatten, zu Erzählungen und versuchte sich an ersten, zögernden Kapiteln zu einem Roman.
Die Wende kam schließlich mit einem Preisausschreiben. 100 Kronen hatte die Frauenzeitschrift 'Idun' für eine Novelle ausgeschrieben, und Selma reichte ihre Romananfänge ein. „Recht merkwürdig, nicht ohne Originalität und Poesie“ urteilte der Preisrichter und bot sich an, nach Fertigstellung das ganze Werk zu drucken.
1886, kurz nach dem Antritt ihrer Stelle in Landskrona, war Selma Lagerlöf der Baronin Sophie Adlersparre begegnet, die in der schwedischen Frauenbewegung eine wichtige Rolle spielte und eine Literaturzeitschrift herausgab. Die adlige Dame hatte der jungen Lehrerin zu Übung und Geduld beim Schreiben geraten und weitere Hilfe in Aussicht gestellt. Diese Hilfe gewährte sie jetzt, ein Jahr Urlaub von der Schule wurde möglich, und 1891 war 'Gösta Berlings Saga' fertig – Selma Lagerlöfs erster Roman.
Die Kritiker waren sehr unterschiedlicher Meinung über die Frage, ob da ein neuer Stern am literarischen Horizont aufgegangen wäre. Aber Selma hatte Mut gewonnen. Drei Jahre später veröffentlichte sie eine Sammlung von Erzählungen  und gewann eine neue Freundin. Sophie Elkan, die sich der fast sechs Jahre jüngeren Selma annahm, war selbst Schriftstellerin, alleinstehend und welterfahren. 1895 unternahmen die Damen gemeinsam eine Reise nach Italien und Sizilien. Nach der Rückkehr erhielt Selma Lagerlöf ein Stipendium und konnte den Lehrerinnenberuf ganz aufgeben.
1899 folgte eine Reise, die sie über Griechenland und die Türkei bis nach Ägypten und Palästina führen sollte. In den Werken 'Jerusalem', 'Die zweite Prophezeiung' und 'Rahels Weinen' sind Orte, Menschen und Legenden geschildert, die sie auf dieser Reise kennen gelernt hatte.

Mit einem Kinderbuch, der wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, gelang Selma Lagerlöf endgültig der Durchbruch als Schriftstellerin. Nach dem Erscheinen des ersten Teils 1907 verlieh ihr die Universität Uppsala die Ehrendoktorwürde. 1909, ein Jahr nach ihrem 50. Geburtstag, errang Selma Lagerlöf höchste literarische Weihen mit dem Nobelpreis für Literatur „in Würdigung des hohen Idealismus, der lebendigen Einbildungskraft und der durchgeistigten Darstellung, die sich in ihrem Werk offenbart.“  Eine gesellschaftlich vielleicht noch bedeutendere Ehrung wurde ihr 1914 zuteil, als die schwedische Akademie sie in ihren erlauchten Kreis aufnahm, der bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich männliche Mitglieder gekannt hatte.

1911 hielt Selma Lagerlöf vor dem Weltkongress für Frauenstimmrecht im Stockholmer Opernhaus eine schlichte aber sehr beachtete Rede zum Thema 'Heim und Staat'. Schon früh hatte sie sich für das Frauenstimmrecht eingesetzt, wenn sie sich auch sonst von politischen Tagesgeschäften recht fern hielt und einer eher traditionellen Auffassung der Geschlechterrollen verpflichtet war. Der Staat, dessen Utopie die Schriftstellerin in ihrer Rede entwarf, sollte ein menschliches, soziales Gesicht tragen, 'fremde Völkerschaften' in seinen Grenzen glücklich machen und die unglücklichen, schwachen, jungen und alten Mitglieder seiner Gesellschaft erziehen und umsorgen wie eine Mutter. „Ach, wir Frauen sind keine vollkommenen Wesen“, so schloss die Dichterin ihren Vortrag, „und ihr Männer seid nicht vollkommener als wir. Wie sollten wir das, was groß und gut ist, vollbringen, ohne einander zu helfen?“  Und sie setzte hinzu: „Wir glauben, dass Gottes Wind uns führt.“
Die Pazifistin Selma Lagerlöf erlebte entsetzt den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In ihren Büchern geißelte sie den Krieg und beschrieb die Sehnsucht nach Frieden, aber sie wählte weiterhin die literarische Form und nicht den Weg der öffentlichen Statements und Aufrufe. Ihr Buch 'Bannlyst',1919 in deutscher Übersetzung 'Das heilige Leben', ist letztlich ein Antikriegsroman. „Auf uns kommt es jetzt an“, so heißt es darin, „ob wir den Menschen einen Ekel vor dem Krieg einflößen und ob wir ihnen diesen so fest einprägen, daß ihn keine Reden von Ehre und Heldentaten mehr aus ihrem Herzen verdrängen können.“ 1925 beeindruckte Selma Lagerlöf die Christliche Weltkonferenz in Stockholm mit dem Vortrag einer kleinen Erzählung mit unmissverständlicher Botschaft: Einigkeit zwischen allen Völkern und allen Religionen der Erde. 1929 gehörte die Schwedin zusammen mit Käthe Kollwitz zum Ehrenkomitee der Konferenz der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) in Frankfurt.

Selma Lagerlöfs Bücher wurden ab der Jahrhundertwende bereits in ganz Europa verbreitet. Die aus ihren Schriften sprechende Religiösität und Menschlichkeit erreichte die LeserInnen.
Aus Berlin sandte Nelly Sachs ihre erste Veröffentlichung 'Legenden und Erzählungen' zum 63. Geburtstag mit einem „innigen Gruß“. Das Buch, so erklärte Nelly Sachs, „ist geschrieben von einer jungen Deutschen, die in der großen schwedischen Dichterin ihr leuchtendes Vorbild verehrt.“ .
Im Juli 1939 erhielt Selma Lagerlöf Besuch von einer verzweifelten Freundin der jüdischen Dichterin. Nur die Hilfe aus dem Ausland konnte Nelly Sachs und ihrer Mutter noch die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland ermöglichen. Selma Lagerlöfs Empfehlungsschreiben trug mit dazu bei, dass die beiden Frauen die Einreisegenehmigung nach Schweden bekamen.
Die Ankunft der Flüchtlinge erlebte Selma Lagerlöf nicht mehr. Am 16. März 1940 starb sie auf ihrem Gut Marbacka.


Literatur
Bis heute gibt es keine deutschsprachige Biographie Selma Lagerlöfs, die ihren in Stockholm liegenden und bis 1991 gesperrten Nachlass einbezieht.
Ein Kurzporträt findet sich in: Martha Schad, Frauen die die Welt bewegten, Augsburg 1997.

Cordula Lissner, geb. 1957, ist Historikerin und Journalistin mit den Arbeitsschwerpunkten Frauengeschichte, Migration, Nationalsozialismus und Auseinandersetzung nach 1945. Der Schriftstellerin Selma Lagerlöf ist sie im Rahmen einer von ihr entworfenen Serie 'rätselhafter' Frauenporträts begegnet; ihre Tochter Philine hat mit acht Jahren Nils Holgerssons Reise mit den Wildgänsen verschlungen

 

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