Ausgabe 2 / 2022 Artikel von Frauke Petersen

Sexualisierte Gewalt aufarbeiten.

Gesprächsnotizen zum Stand der Dinge in der EKD.

Von Frauke Petersen

„Wieso passiert da nichts?“ Das fragen sich zurzeit viele in Bezug auf die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt innerhalb kirchlicher Strukturen. Die Aufarbeitung zeigt sich als mangelhaft, von wirksamer Prävention ganz zu schweigen. Tatsache ist: Kirchen können zur Aufarbeitung strukturell nicht gut aufgestellt sein, da sexualisierte Gewalt in Angestellten- und Abhängigkeitsverhältnissen, etwa in seelsorglicher Begleitung, passiert, und Dienstvorgesetzte oft gleichzeitig Ansprechinstanz sein sollen.

Meine Gesprächsperson war als betroffene Person Teil des ausgesetzten Beirats der EKD und arbeitet auch im neu aufgestellten Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt mit.1 Selbst Pfarrperson, kennt sie die kirchlichen Strukturen und Instanzen, deren Chancen und Defizite. Sie empfand die Beteiligung am Betroffenenbeirat als Wagnis, denn sie musste den Gemeindealltag weiterführen und es ihren Kindern, Kleinkinder zur Tatzeit, erklären. Im Öffentlich-machen erfuhr sie aber auch Befreiung und Ermutigung – es „kann guttun, mit anderen Betroffenen auf dem Weg zu sein“. Im Kontext ihrer Arbeit(geberin) sieht sie eine Diskrepanz bei den (Re-)Aktionen, die sich durch die gesamte Aufstellung der Aufarbeitung zieht: Einerseits gibt es Unterstützungsangebote, andererseits den Stempel der Unzulänglichkeit – und immer den Versuch, den lieben Frieden wieder herzustellen. In den Reaktionen kommt die Sprachlosigkeit gegenüber dem Leid und kommt der Versuch, die Scham von sich abzuwenden, zu Tage. Statt Aufarbeitung und Übernahme von Verantwortung gibt es Mitleid, das niemandem hilft. „Ich brauche eure Seelsorge nicht.“

Also sprechen wir heute über Strukturen: des Beirats, der Personalpolitik und der Begleitung.

Bereits in der konstituierenden Sitzung des Betroffenenbeirats im Herbst 2020 zeigte sich ein Problem, das die Arbeit auch in Zukunft begleiten würde. „Kurz mal kamen die Bischöfe rein“ – will sagen: Von Anfang an war zu vieles ungeklärt. Es gab keine Geschäftsordnung, niemand wusste, wann der Beirat eigentlich beschlussfähig wäre, wann er was veröffentlicht. Und es fehlte eine Begegnungsebene mit dem Beauftragtenrat. Abgesehen von den unklaren Rahmenbedingungen war ein großer Punkt das Misstrauen im Beirat. Kirchenferne Mitglieder zweifelten an der Ernsthaftigkeit der EKD, kirchlich Angestellte am Willen, als Kirche strukturelle Veränderungen in Kirche durchzusetzen. Und ist es überhaupt sinnvoll, dass legitime radikale Positionen, die auf eine Abschaffung der kirchlichen Institutionen hinauslaufen, innerhalb der Kirche eingegliedert werden, oder verlieren sie dadurch nicht an Schlagkraft? Auch diese Frage wurde niemals konstruktiv oder transparent diskutiert.

Hindernisse liegen auch in den Strukturen der Landeskirchen. Erarbeitete Maßnahmen wurden nicht umgesetzt, oft gibt es hier keine Betroffenenbeteiligung.



Und als dann einige Mitglieder des Beirats weitermachen und andere ihn auflösen wollten, wurde er ausgesetzt. Das neue Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt setzt sich im Unterschied zu seinem Vorgänger aus Betroffenen und Amtsträger*innen zusammen. So soll das Gespräch, auch auf synodaler Ebene, im direkten Kontakt möglich werden. Im Forum selbst werden derzeit die Geschäftsordnung und klare Regeln für Verhalten, etwa in Bezug auf die Öffentlichkeit, erarbeitet. „Ich zum Beispiel möchte nicht immer überall wissen lassen, wo ich gerade in einer Sitzung bin; als Betroffene sexualisierter Gewalt sind wir mit unterschiedlichen Bedürfnissen unterwegs, auf die wir achten müssen und deren Beachtung wir auch einfordern. Schon hier zeigt sich, inwieweit Kirche gewillt ist, uns als Gesprächspartner*innen zu akzeptieren.“

Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit Themen wie der Erstellung einer Vernetzungsplattform. Denn bislang fehlt eine – dringend notwendige – Ebene, auf der Betroffene in der EKD miteinander ins Gespräch kommen. Eine andere AG kümmert sich um die Überarbeitung der Disziplinarverfahren, die für Betroffene bislang oft eine Zumutung sind. Hier arbeiten neben Betroffenen auch Vertreter*innen der Konferenz für Prävention, Intervention und Hilfe (PIHK) und Jurist*innen aus Landeskirchen mit. Die Frage bleibt auch hier: Was bleibt auf dem Weg von der EKD- auf die Landeskirchenebene am Ende von den Impulsen übrig?

Selbstverständlich sind auch an die Strukturen des neuen Forums kritische Fragen zu stellen:

Lassen sich die Interessen der amtlichen Vertreter*innen von Kirche und Diakonie und die Interessen der Betroffen überhaupt zusammenbringen und zugleich Unterschiede erkennen und benennen? „Das muss sich zeigen. Erstmal müssen wir die Diskrepanzen ernstnehmen, aushalten und öffentlich abbilden!“ Dabei bleibt wichtig, dass von innen wie von außen auch eine grundsätzliche Institutionskritik geübt wird. Denn die berechtigten Zweifel an der Kompetenz der Kirchen, sexualisierte Gewalt in ihrem Bereich selbst aufzuarbeiten, legen es nahe, unabhängige externe Begleitung und Aufarbeitung durchzusetzen. Die gesetzlichen Möglichkeiten dafür sind gegeben, es ist eine politische Entscheidung. Konsequent und verantwortlich wäre es aus Sicht meiner Gesprächsperson, auch kirchlicherseits genau darauf hinzuwirken.

Ein Thema des Beirats und Herzensanliegen meiner Gesprächsperson war und ist die Ausweitung des Strafrechtsparagrafen „StGB § 174c Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses“.

Sexualisierte Gewalt innerhalb eines Seelsorgeverhältnisses bleibt bisher von diesem Paragrafen unberührt. Auf die Ausweitung sollte kirchlicherseits dringend hingearbeitet werden, denn „was strafrechtlich greifbar ist, kann einfacher disziplinarrechtlich verfolgt werden“.

Disziplinarrechtlich gibt es keine Verjährung sexualisierter Gewalt. Aber eine Schwierigkeit ist immer, dass Verfahren erst angestoßen werden, wenn Betroffene sich melden.

Das Disziplinarrecht greift nur, wenn der Dienstherr Geschädigter ist, dann aber sind Betroffene nur Zeug*innen, während sie in straf- und zivilrechtlichen Verfahren anklagen können. Hinzu kommt, dass die Meldung eines Falls bei der Anerkennungsleistungskommission (für Unterstützungsleistungen) noch keine dienstrechtliche Meldung darstellt. Das ist auch gut so, weil Betroffene damit die Chance auf Unterstützung haben, ohne ein öffentliches Verfahren anzustoßen. Aber zugleich bleibt es eben deswegen extrem schwer, die Täter*innen – die ja etwa der Anerkennungskommission bekannt sind – zu sanktionieren. Denn ohne Bezeugen durch Betroffene verbleiben Täter*innen eher im Amt, da auf Hören-Sagen hin kein Verfahren eröffnet wird. Und damit liegt die Last bei den Betroffenen. Darüber hinaus erschweren gemeindliche und kollegiale Verwicklungen die Anzeige häufig sehr.

Wie kann man Täter*innen stoppen, die nicht angezeigt werden? Dieser Frage stellt sich die AG Dienstrecht. Dabei liegt der Fokus darauf, die Betroffenen zu schützen und zu stärken, um ihnen so zu erleichtern, dass sie sich melden.

Betroffene, die Therapie in Anspruch nehmen wollen, unterliegen großem Druck. Denn wenn sie das Pfarramt anstreben, müssen sie ihre Leistungsfähigkeit nachweisen – und eine Therapie ist ein Grund, nicht ins Beamtenverhältnis übernommen zu werden.

Meine Gesprächsperson stellt das gesamte Feld der kirchlichen Personalpolitik zur Debatte, denn sie macht mich auf die Diskrepanz zwischen dem theologischen Blick auf den Gekreuzigten und der Pfarrperson, die Autorität und Macher*in sein soll, aufmerksam: Kirchen ziehen durch ihre Strukturen Menschen mit Persönlichkeitsstrukturen an, die sich Machtpositionen wünschen. Diese Personen können sich darauf verlassen, von ihrer Kirche gewollt und gefördert zu werden, während eben solche Persönlichkeitsstrukturen es sind, die von Machtmissbrauch profitieren. Personalpolitik und Pfarrbild müssen also ganzheitlich als Teil des Gewaltkomplexes überdacht werden.

Darüber hinaus haben es die Landeskirchen versäumt, Missbrauchsfälle bei der Versicherung zu melden. Ehrenamtlich tätige Betroffene, etwa Chormitglieder, Mitarbeitende bei Freizeiten oder in der Jugendarbeit, sind über die VBG berufsgenossenschaftlich versichert, haben also Anspruch auf Rentenleistungen und gesundheitliche Förderung. Vielen wäre dies eine Hilfe, die Möglichkeit wurde aber bislang von den Kirchen nicht wahrgenommen. Dass die Versicherung im Mai 2022 selbst darauf hinwies, fördert weder das Vertrauen in vorhandene kirchliche Strukturen, noch deutet es auf vertrauenswürdige Reformen hin.

In Zukunft sollen regionale Aufarbeitungskommissionen aufgebaut werden, ebenso suchen Landessynoden und -kirchen nach Ansprechpersonen unter den Betroffenen, um unter anderem ihre eigenen Beiräte aufzustellen. Und EKD-weit läuft die Studie FORUM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland.2 Das alles sind gute und wichtige Ansätze, und dennoch entsteht wieder Druck auf Betroffene: „Zurzeit sitze ich im Zug nach Hamburg zu einer Tagung zur Teilstudie am Universitätsklinikum Eppendorf, die ich als betroffene Person begleite. 20 Wochenstunden ehrenamtliche Arbeit sind schon jetzt keine Seltenheit, noch mehr geht nicht. Bislang gibt es aber nicht ausreichend Betroffene, die in diese Arbeit gehen können oder wollen. Und selbstverständlich haben die je eigenen Bedürfnisse oberste Priorität.“

Aber was kann nun getan werden, und was wird bereits getan?

Ein viel zu wenig begangener Weg ist es, die Aufarbeitung lokal zu forcieren, zum Beispiel durch eine Gemeinde oder einen Kirchenvorstand. Das würde bedeuten, für Betroffene einen Ort der Vergewisserung einzurichten und präventiv Menschen dafür fit zu machen, sich und andere zu schützen. Öffentlich machen – von Fällen in der eigenen Gemeinde, nicht von Überlebenden – sensibilisiert alle. Dies ließe sich etwa etablieren durch ein Präventionsgesetz, das Ansprechstellen beziehungsweise Ansprechpersonen verpflichtend macht, sodass das Thema regelmäßig und flächendeckend benannt wird, auch ohne direkten lokalen Anlass. Bei konkreten Fällen brauchen Gemeinden die Unterstützung ihrer Landeskirchen, etwa durch Trainings vor Ort und regelmäßige Weitebildungen. Hier kann jede Gemeinde und jede Landeskirche ohne die Nennung von Betroffenen selbstverantwortlich handeln.

Frauke Petersen ist feministische Historikerin. Als Referentin für Projekt- und Organisationsentwicklung im Evangelischen Zentrum Frauen und Männer sind ihre Schwerpunkte Intersektionalität, Diversität und Queerness. Zuvor war sie Redakteurin der leicht & SINN.

Anmerkungen
1)  Informationen dazu auf der Internetseite der EKD unter: www.ekd.de/beteiligungsforum-sexualisierte-gewalt-startet-73952.htm
2) Siehe www.forum-studie.de/

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