Alle Ausgaben / 2013 Material von Bärbel Wartenberg-Potter

Sie ist meine Hirtin

Von Bärbel Wartenberg-Potter


Sie ist meine Hirtin, mir mangelt nichts.
Auf Grasstreifen lagert sie mich,
zu Wassern der Ruh führt sie mich.
Die Seele mir bringt sie zurück.
Sie leitet mich auf wahrhaftigen Gleisen um ihres Namens willen.
Auch wenn ich gehen muss durch die Todesschattenschlucht,
fürchte ich nichts Böses, denn Du bist bei mir,
Dein Stab, Deine Stütze – die trösten mich.
Du rüstest den Tisch mir meinen Drängern zugegen,
streichelst das Haupt mir mit Öl, mein Kelch ist Genügen.
Nur Gutes und Holdes verfolgen mich nun alle Tage meines Lebens,
ich kehre zurück zu Deinem Haus für die Länge der Tage.
(Erika)

Nachdem ich zur Bischöfin der Nordelbischen Kirche gewählt worden war, schickte mir eine Freundin diesen Text zum 23. Psalm, von dem ich nicht weiß, wer ihn verfasst hat, außer den Namen Erika. Es ist eine ungewöhnliche Übertragung des Gottesbildes vom Hirten ins Weibliche. Gab es, gibt es überhaupt Hirtinnen? In der Zeit des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel war es wohl ein gefährlicher Beruf; die Herden waren Hauptbesitz einer Familie. Um Herden und Weideplätze wurde gekämpft und gestritten. Selbstverteidigung und Stärke waren erforderlich. Doch dann waren auch immer Knaben bei den Herden (David z.B.). Eingefallen sind mir die Geschichten und Bilder aus der deutschen Barockzeit, die Schäferinnen und Schäfer, eher spielerische Metaphern als wirklichkeitsgetreue Abbildungen; Tändelei, Erotik, Scherz und Spiel waren assoziiert.

Ich selbst habe einmal eine Hirtin getroffen, eine jener alternativ lebenden Frauen, die die Einsamkeit und Naturverbundenheit dieses Berufes liebte. Ich habe sie bewundert.

Der 23. Psalm ist einer der Texte, den auch in einer säkularen Gesellschaft noch viele Menschen kennen. Er spielt in der Seelsorgearbeit eine wichtige Rolle, weil Schutz und Geleit, Güte und Verlässlichkeit darin wie kaum sonstwo in einem einfachen Bild angesprochen werden. Vielleicht ist es für manche fast ein Sakrileg, gerade diesen Psalm „umzuschreiben“ in eine weibliche Metaphorik, von „ihr“ zu reden, die mich lagert, zu Wassern führt, die Seele zurückbringt. Wie in biblischen Psalmen oft, findet auch in diesem Psalm eine Wende von der Anrede „sie ist meine Hirtin“ in das „Du“ statt, und zwar an der Stelle, an der das beschriebene Gegenüber zum vertrauten Du wird.

In der existentiellen Nähe zu Gott, in Not und Freude fallen die Bilder, die ja nur „Hilfsworte“ sind – ob männlich oder weiblich –, zur Seite. Und die Betenden erfahren das göttliche Du, das sie tröstet, speist und salbt. Wenn wir Menschen, Frauen und Männer, diese Nähe zu Gott finden, trennt uns auch der Graben der Sprache und Metaphern nicht mehr von Gott und nicht mehr voneinander. Auf dem Weg dahin aber soll uns die Fülle der Erfahrungen, die Fülle der Bilder helfen, die „Fülle der Gottheit“ (Kol 2,9) zu erkennen.


aus:
Psalmen Leben – Frauen aus allen Kontinenten lesen
biblische Psalmen neu
hgg. von:
Bärbel Fünfsinn und Carola Kienel
© EB-Verlag Hamburg 2002

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