Ausgabe 1 / 2004 Artikel von Johanne und Eko Alberts

Sie sind Kinder erster Klasse

Für Eltern lesbischer Töchter und schwuler Söhne

Von Johanne und Eko Alberts

„Mario singt nicht mehr“, sagte die Mutter, „es ist so still geworden bei uns im Haus.“ Und ihre eigene Stimme erstarb dabei. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Verlegen sah ihr Mann sie von der Seite an, machte den zaghaften Versuch einer zärtlichen Geste und ließ die Hand wieder sinken. Da saßen die beiden zum ersten Mal in einer kleinen Elternrunde. Mario, ihr Sohn, hatte sie aufmerksam gemacht, dass es so etwas gab: Eine Selbsthilfegruppe von Eltern lesbischer Töchter und schwuler Söhne. Im letzten gemeinsamen Urlaub hatte Mario es seinen Eltern erzählt: „Ich werde nie heiraten und Kinder haben. Ich bin schwul.“ Zwei Tage und Nächte lang war die kleine Familie, die Eltern, der ältere Bruder und Mario selbst, dann wie gelähmt im Haus geblieben. Sie hatten geweint und geklagt, laut und stumm. Ratlos waren sie alle miteinander. Dann kamen die Fragen: „Stimmt das denn wirklich?  Das kann doch gar nicht sein! Die Mädchen mögen dich doch! Und du hast immer so gerne getanzt!“ Mario wurde stiller darüber. Er sang nicht mehr. Und litt, weil er seine Eltern so enttäuschte. Sie hatten immer von einer großen Familie geträumt. Selber waren ihnen nur zwei Kinder vergönnt. Aber sie würden Enkelkinder haben! Und auch Mario selbst war ein Familienmensch, liebte Kinder und wollte Kinder.
Doch nun dies: Mario singt nicht mehr und sagt, er sei schwul!

Stockend erzählen Marios Mutter und Vater in der Elternrunde, was sie erleben. Das heißt: Zumeist redet die Mutter. Und sie redet sich den Schmerz von der Seele, während der Vater einstweilen nur verständnislos meint: „Und dabei hätte der Junge soviel Chancen bei den tollsten Mädchen…“
„Was ist da schief gelaufen? Was haben wir falsch gemacht?“ fragen sich die Eltern. Und Marios Mutter meint sich vorwerfen zu müssen, dass sie in der Schwangerschaft manchmal den Wunsch nach einer Tochter gehabt hat – und dann war es doch ein Junge. „Hat das dem Kind geschadet? Aber wir haben ihn doch auch nicht anders erzogen als den Ältesten? Was soll nun werden?“ „Ich war beim Pfarrer,“ sagt die Mutter. „Der wollte nicht viel davon wissen. Hat mich zu meiner Ärztin geschickt.
Die meint: Wenn Mario wirklich schwul ist, dann hat das nichts mit Erziehung zu tun. Dann gehört das zu ihm und wir müssen es akzeptieren. Aber wie sollen wir das? Und wenn die Kirche dagegen ist und die Bibel vielleicht auch, dann weiß ich auch nicht mehr, was mein Glaube mir noch hilft. Wenn Gott ihn nicht so will wie er ist, warum ist er dann so?“ Marios Eltern können ihre Geschichte in der Gruppe loswerden.
Und sie hören, welche Erfahrungen andere Mütter und Väter machen. Das ist eine erste Hilfe. Sie können reden und weinen, fragen und Antworten versuchen.
Sie werden gestützt und unterstützen unmerklich wieder andere Eltern, die nach ihnen kommen.
Die Gespräche kosten viel Arbeit, Arbeit für die Seele, und werden von Information begleitet. Nach einem Jahr meint Marios Mutter: „Der arme Junge, so lange hat er es gewusst, und nie mit uns darüber reden können. Dabei wollte ich immer nur, dass Mario glücklich wird. Jetzt glaube ich, er wird es auf andere Weise, als wir uns immer gedacht haben. Heute morgen kam er die Treppe herunter und hat wieder gesungen. Er ist verliebt – in einen Mann. Heute weiß ich, wenn der liebe Gott ihn so erschaffen hat, dann hat er sich bestimmt etwas dabei gedacht.“

Geben Sie jeder Frau einen Zettel und einen Stift. Lesen Sie den Text1 vor. Bitten Sie die Frauen, sich (ca. 3 min) in die Situation einer Mutter zu versetzen, deren Tochter ihr gerade erzählt hat, dass sie lesbisch ist. Fordern Sie die Frauen anschließend auf, den Satz aufzuschreiben, der ihnen nach dieser Mitteilung als erstes in den Kopf kam.
Laden Sie die Frauen ein, „ihren“ Satz den anderen mitzuteilen.
Besprechen Sie (verständnisvoll, nicht abwertend!) untereinander, ob Sie auch nach einigem Nachdenken bei den spontanen Reaktionen bleiben würden.
Geben Sie evtl. einen weiteren Impuls in die Gruppe: „Wenn der liebe Gott sie so erschaffen hat, dann hat er sich bestimmt etwas dabei gedacht.“ – Würde ich so denken, wenn meine Tochter lesbisch ist? Dürfte oder möchte ich so denken? Sollte ich so denken?

Eltern – Erfahrungen

Im März 2001 führt der „Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von „Homosexuellen e.V. (befah)“2 sein erstes Bundes-Elterntreffen durch: Homosexualität mit dem Kopf und mit dem Herzen verstehen – Eltern stehen zu ihren Kindern“. Am Ende schreiben die Eltern an den Rat der EKD, z.Hd. Präses Kock, und an die Deutsche Bischofskonferenz, z.Hd. Kardinal Lehmann: Wir haben erfahren: Mütter und Väter, die zu ihren lesbischen Töchtern und schwulen Söhnen stehen, entdecken und verstehen diese als vollständige Menschen. Ihre andere Art des Liebens  und Lebens ist ein Reichtum, auf den wir nicht verzichten wollen. Sie sind Kinder erster Klasse und eine große Bereicherung für Familie und Freundschaft. Wir freuen uns, wenn sie selbstbewusst und sich bejahend ihren Platz in Familie und Gesellschaft einnehmen.
Im Rahmen unserer Tagung haben wir uns mit der Frage befasst, was Eltern homosexueller Kinder von den Kirchen zu erwarten haben.
Wir laden die Kirchen auf Grund unserer Erfahrungen ein, den Reichtum zu entdecken, den sie in ihren homosexuellen Töchtern und Söhnen haben und erleben können. Dafür ist unseres Erachtens die Möglichkeit ungehinderter, gleichberechtigter Teilhabe von Lesben und Schwulen am gesamten kirchlichen Leben unabdingbar.
Wir laden die Kirchen ein, in der Nachfolge Jesu Christi mit uns die homosexuellen Töchter und Söhne vorbehaltlos anzunehmen.
Wir laden die Kirchen ein, den Vorrang und den Reichtum des Liebesgebotes vor allen Zeit- und Kontext-gebundenen Vorschriften und Aussagen auch im Blick auf den Umgang mit unseren homosexuellen Töchtern und Söhnen zur Geltung zu bringen. Wir laden die Kirchen ein, aus angstbesetzten Positionen aufzubrechen zur offenen und bereichernden Begegnung mit allen, auch den homosexuellen Menschen, denen Jesus Christus ein Bruder geworden ist. Wir laden die Kirchen ein, den Reichtum eines neuen Familienverständnisses, das auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften einbezieht, zu erkennen und zur Geltung zu bringen.
Wir laden die Kirchen ein zu neuem liturgischen Handeln. Die Zeit ist reif für die Ordnung der gottesdienstlichen Feier der neuen Kasualie, die nach der Einführung der eingetragenen Lebensgemeinschaft ab dem 1. August 2001 in unserer Gesellschaft entsteht.

Gerne würden wir über diese Anliegen und unsere Erfahrungen mit Ihnen ins Gespräch kommen und bitten Sie um einen Termin für eine solche Begegnung.

Geben Sie jeder Frau den Brief als Kopie und lesen ihn dann laut vor. Bitten Sie die Frauen, sich drei Zeichen zu machen: ein Plus für eine Aussage, die sie von ganzem Herzen unterstützen – ein Minus für eine Aussage, die ihnen „gegen den Strich geht“ – ein Fragezeichen für eine Aussage, bei der sie unsicher sind und die sie mit den anderen diskutieren möchten.
Sammeln Sie auf drei Plakaten sortiert die Äußerungen. Ergibt sich ein einheitliches Bild als Gruppenmeinung? Diskutieren Sie in der Gruppe (ca. 30-40 min) die unter-schiedlichen Meinungen. Finden Sie drei positive Aussagen über „Ihre“ lesbischen Töchter, die von der Mehrheit der Gruppe vertreten werden könnten?
Sollte die Gruppe nicht zu positiven Aussagen finden: Besprechen Sie, ob Ihnen das Thema wichtig genug ist, einmal eine lesbische Frau oder Eltern homosexuell liebender Kinder einzuladen und sich mit deren Erfahrungen und Sichtweisen auseinander zu setzen.

Offene Abende – Homosexualität und Kirche

Ein Seminar zum Thema „Homosexualität und Kirche“ für die Gemeinden? Das ist keine unmögliche Aufgabe. Den folgenden Versuch hat der Frauentreff der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Detmold-Ost in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Frauenarbeit der Lippischen Landeskirche unternommen.

Ziel: Drei Offene Abende sollten die Begegnung von Männern und Frauen fördern, die schwul, lesbisch oder heterosexuell sind. Die Teilnehmenden sollten authentische Informationen durch „Betroffene“ erhalten, die erzählen und sich befragen lassen. Und schließlich sollten durch fundierte Referate reflektierte Informationen weitergegeben werden.

Damit sollte erreicht werden:
– dass aus dem Reden über andere ein Reden miteinander wird;
– dass diffuse Ängste abgebaut werden;
– dass sich die oft mit Vorurteilen belasteten oder durch Unkenntnis verzerrten Bilder von anders liebenden Menschen klären;
– dass die Teilnehmenden einander besser akzeptieren und das jeweils eigene Lebensgeheimnis respektieren.

Material: Ein gutes Ambiente, aufmerksame GastgeberInnen und flotte Musik – Schlager und Lieder aus den Zwanzigern – sorgten an allen Abenden für eine entspannte Atmosphäre.
Die Teilnehmenden saßen in kleinen Tischgruppen zusammen.

Ablauf: Erster Abend: „Beziehungsweise andersherum“
Talkabend zum Thema Homosexualität

Die Moderatorin des Abends, Landespfarrerin Birgit Wulfmeier-Pötzsch, hatte mit dem Vorbereitungsteam „ganz normale“ Mitmenschen angesprochen, die sich an den Tischen jeweils einem kleinen Interview stellten: Schwule und Lesben, Hetero-Frauen und -Männer, Eltern schwuler Söhne und lesbischer Töchter…
Es zeigte sich, dass dieser unmittelbare Kontakt bereits manche Vorurteile schrumpfen ließ, zumindest bremste. Er weckte auch bei Menschen, die Homosexualität verurteilen, die Bereitschaft, genauer hinzuhören und die
eigene Position noch einmal zu überdenken. Es hat allen Beteiligten gut getan, dass der Einstieg nicht auf einem „theoretischen“ Weg gewonnen wurde.

Zweiter Abend: „Kann denn Liebe Sünde sein?“
Das schwierige Verhältnis von Kirche und Sexualität 

Das Ambiente war unverändert, einen Schwerpunkt bildete nun allerdings das Referat zum Thema. Es war bewusst nicht auf die Homosexualität eingegrenzt. Deren Behandlung durch die Kirche ist ja zum großen Teil nur ein Sonderfall der allgemeinen Problematik „Kirche und Sexualität“. Das Referat half dadurch unter anderem, dass sich die unterschiedlich lebenden und leibenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht vorschnell auseinander dividierten. Andererseits konnte deutlich werden, dass gleichgeschlechtlich Liebende immer wieder als Sündenböcke eigener unbewältigter Probleme diesen müssen.

Dritter Abend: „Verbotene Liebe?“
Was über Homosexualität nicht in der Bibel steht An diesem Abend wurde ein Kapitel biblischer Theologie vermittelt, indem nicht kasuistisch, auf konkrete „Fälle“ bezogen bei den (scheinbar) einschlägigen Texten eingesetzt wurde. Das erste Gebot mit der befreienden Überschrift stand zentral. Hier wurde aus Israels Erfahrung mit dem befreienden Gott, der diesen Heilsweg für uns in Jesus Christus bestätigt, Kriterien gewonnen für das mitmenschliche Leben in Gesellschaft und Gemeinde.
Es war klar, dass an diesem Abend die unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Leseweisen biblischer Texte aufeinander prallen würden. Ohne die vorhergehenden Abende wäre dieser Aufprall vielleicht zerstörerisch für die Kommunikation und die Weiterarbeit gewesen. So aber konnte eine andere mögliche und hilfreiche Sicht auch auf umstrittene biblische Aussagen vermittelt werden.
Bleibt anzumerken: Für die Durchführung in einer Gemeinde oder Gruppe ist es eine große Entlastung, sich eine Kooperationspartnerin zu suchen. Das kann die Frauenarbeit sein, vielleicht auch die Erwachsenenbildung, eine Beratungsstelle, eine Selbsthilfegruppe. Notwendig ist es aber in erster Linie, lesbische und schwule Mitchristinnen und Mitchristen gleichberechtigt zu beteiligen.

Johanne und Eko Alberts wohnen in einem Detmolder Pfarrhaus und haben zwei Töchter und zwei Söhne; eine Tochter ist lesbisch. Sie leiten seit fast zehn Jahren eine Gruppe „Eltern lesbischer Töchter und schwuler Söhne“, die Mitglied ist im „Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Homosexuellen e.V.“ Den Brief an den Rat der EKD und an die Bischofskonferenz hat Eko Alberts auf dem Bundeselterntreffen entworfen und vorgelegt. Er wurde auch so verabschiedet und versandt. Es gab etwa ein halbes Jahr danach ein Gespräch mit Herrn Kock: in der Atmosphäre freundlich, im Ergebnis niederschmetternd. Von Herrn Lehmann gab es keine Antwort.

 

Anmerkungen
1 Zuerst veröffentlicht als Morgenandacht im Westdeutschen Rundfunk; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Ev. Rundfunkbeauftragten beim WDR.
2 Kontakt: Anton-Freytag-Str. 43, 30823 Garbsen; im Internet zu erreichen unter: www.befah.de

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