Die Rollenumkehr in der Mutter-Tochter-Beziehung war ein allgemein verbreitetes Phänomen.
„Sie erzählten ihr, es seien Gallensteine. Mir sagten sie, dass sie noch sechs Monate zu leben habe. Eine Nacht raste sie vor Schmerzen, in der nächsten phantasierte sie. Die letzten sechs Tage konnte sie nichts mehr selber machen. Sie verdreckte das Bett, konnte nicht mehr alleine essen. Es war herzzerreißend, nur hinzusehen, wie sie eine Schnabeltasse benutzte. Früher hatte sie immer ungefähr 50 Tassen Tee am Tag getrunken. Sie war verzweifelt darüber, dass das jetzt nicht mehr möglich war. Sie führte die Schnabeltasse zum Mund, es dauerte eine halbe Stunde, dann wollte sie keinen Deckel drauf haben, sie war dadurch zutiefst in ihrem Stolz verletzt. Sie rief aus: ‚Nein! Ich kann das.' Also nahm ich den Deckel ab, doch dann lief alles an ihr herunter, so dass ich sie füttern musste, gerade so, wie eine Mutter es mit ihrem Kind macht. Sie weinte nur noch, sie war entsetzlich unglücklich.“ (Babs, Tochter, 41 Jahre alt)
„Es war, als ob ich die Mutter war, anstatt die Tochter, wenn ich Essen in so kleinen Stückchen herzurichten versuchte, dass es meine Mutter schlucken konnte. Sie musste ziemlich früh einen Nachtstuhl haben. Sie war tapfer und hielt sich mit Würde. Die Schmerzen waren so schlimm, dass man sie kaum anfassen durfte. Beim letzten Mal, als sie ein Bad nahm, waren wir beide in Tränen aufgelöst. Danach wusch ich ihr jeden Tag die Füße in warmem Wasser. Ich wusch ihr das Haar mit Trockenshampoo. Sie war immer eine eitle Frau gewesen. Als sie inkontinent wurde und Einlagen tragen musste, ließ sie es nur deshalb zu, weil ich ihre Nachthemden jeden Tag waschen musste. Sie war wie ein Kind.“
Sally Cline
aus:
Frauen sterben anders –
Wie wir im Leben den Tod bewältigen
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Gustav Lübbe Verlag GmbH
Bergisch Gladbach
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