Alle Ausgaben / 2015 Andacht von Erika Godel

So weinte sein Vater um ihn

Andacht zu Genesis 37,31-35

Von Erika Godel

„Da nahmen sie das besagte Kleid Josefs, schlachteten einen Ziegenbock und tauchten das Kleid in das Blut. Dann machten sie sich mit dem langärmeligen Kleid auf den Weg, brachten es vor den Vater und sagten: ‚Das haben wir gefunden, identifiziere es doch, ob es das Kleid deines Sohnes ist oder nicht!'

Und er identifizierte es und sagte: ‚Das Kleid meines Sohnes! Ein böses Tier hat ihn gefressen! Leibhaftig zerfleischt ist Josef!' Da zerriss Jakob seine Kleider, legte einen Sack um seine Hüften und hielt um seinen Sohn viele Tage Trauer. Und alle seine Söhne und Töchter machten sich daran, ihn durch ihren Trost aufatmen zu lassen, aber er verweigerte jeglichen Versuch sich trösten zu lassen und sagte: ‚Ich werde in Trauer zu meinem Sohn in die Totenwelt hinabsteigen.' So weinte sein Vater um ihn.“
Genesis 37,31-35, in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache (BigS)

Erinnerung aus Kindertagen …

In meiner nordhessischen Heimatstadt gibt es auf dem Friedhof eine kleine Abteilung mit Soldatengräbern. Schlichte Steinwürfel mit Name, Geburtsdatum und Todestag erinnern an eine schmerzliche Tragödie, die im kollektiven Bewusstsein des Städtchens noch lange nach dem Krieg lebendig war und womöglich bis heute ist. Sechzehn Jungen liegen da begraben, alle zwischen 17 und 18 Jahre alt, die gesamte Unterprima des örtlichen Jungengymnasiums. Sie waren nach der verheerenden Bombardierung von Kassel im Oktober 1943, bei der die Altstadt vollkommen zerstört worden war, zu Aufräumung­s­arbeiten dorthin gefahren – ob freiwillig oder abgeordnet, weiß ich nicht. Und alle sind beim überraschenden zweiten Angriff auf die Stadt zu Tode gekommen. Gerhard war einer von ihnen. Der einzige, hochbegabte Sohn eines Mathematiklehrers, den Generationen von Schülern nur den „Löser“ genannt haben. Ich bin erst einige Jahre nach Kriegs­ende geboren, aber ich kannte den ­„Löser“ noch und mochte ihn nicht. Er war sonderbar und mir irgendwie unheimlich. Man sah ihn eigentlich nur bei einbrechender Dunkelheit spazieren gehen und hörte ihn nur, wenn er uns Kinder ausschimpfte, weil wir vor seinem Haus Rollschuh liefen und dabei angeblich unzumutbaren Lärm verursachten. „Warum ist der Löser so komisch?“, fragte ich meine Mutter, und sie erklärte mir, dass der „Löser“ nicht komisch sei, sondern nur traurig, untröstlich tieftraurig, weil sein einziges Kind tot und mit ihm alle Freude aus seinem Leben gegangen sei. Ich weiß nicht, ob ich das damals alles verstanden habe, aber seitdem ist der „Löser“ für mich der Inbegriff eines trostlosen Mannes, eines freudlosen Menschen.

Viel später wurde mir klar, dass der ­„Löser“ gar kein Einzelfall war, sondern abertausende Väter und Mütter nach dem Krieg als verwaiste Eltern leben mussten. Unzählige Söhne sind „im Krieg geblieben“ oder „gefallen“, wie man das damals verharmlosend ausdrückte. Mit ihnen wurden zahllose Hoffnungen begraben: auf den Stammhalter, den Erben, den Nachfolger auf dem Hof, in der Werkstatt oder im ­Betrieb, auf Enkelkinder, auf Alters­versorgung und, und, und. Gesprochen wurde darüber wenig oder gar nicht. Stattdessen stürzte man sich in der Nachkriegszeit in den Neuanfang, den Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder. Wohlleben als Trost? Gut, um nicht darüber nachdenken zu müssen, ob man nicht doch irgendwie Mitschuld hat am Tod von Kindern zur Unzeit?

Heute gibt es wieder Kriegstote in Deutschland und damit auch verwaiste Eltern. Trauernde Väter und Mütter. Würden sie Trost finden, wenn sie in eine unserer Gemeinden kämen? Vielfach delegieren wir die Tröstung in institutionalisierte Trauergruppen. Ob das aber reicht?

Wer kennt ihn denn heute überhaupt noch, den Trost der ganzen Welt? Wer sehnt sich wirklich danach? Die Erde ein Jammertal? Für uns doch nicht!

Jakobs Schmerz

Die Geschichte von Jakob, dem untröstlichen Vater, ist Teil der weit gespannten Josephsgeschichte (Gen 37; 39-50). Sie spielt sich in Jakobs Haus zwischen ihm und seinen erwachsenen Söhnen ab. Indem die Geschwister dem Vater Josefs blutiges Kleid vorzeigen, täuschen sie vor, er sei in der Wüste Opfer eines Überfalls durch ein wildes Tier geworden. Sie lügen nicht und behaupten nicht, dass Josef tot ist, sondern überlassen es dem Vater, die bittere Wahrheit auszusprechen: „Das Kleid meines Sohnes! Ein böses Tier hat ihn gefressen! Leibhaftig zerfleischt ist Josef.“ In der Übersetzung (redigierte Fassung 1984) von Martin Luther liest sich die Geschichte übrigens etwas anders als in der Bibel in gerechter Sprache. Da haben sich die Brüder davor gedrückt, dem Vater selbst gegenüberzutreten und nur einen Boten mit dem „bunten Rock“ zu Jakob geschickt. Jakob beginnt, über den Tod seines Sohnes zu trauern. Alle Söhne und Töchter, die ganze Familie also, versuchen den Vater zu trösten, aber der will lieber selber sterben und bei seinem toten Sohn sein, als sich trösten zu lassen.

Der Textabschnitt verrät nicht, was zwischen den Brüdern vorgefallen war, sodass sie auf die Idee kommen, Josef dem Vater gegenüber als tot hinzustellen. Er erklärt auch nicht, warum Jakob gerade bei dem Verlust des Sohnes Josef so untröstlich ist. Dazu muss man sich die Vorgeschichte dieser Szene in Erinnerung rufen (Gen 37,1-30), die erzählt, wie aus Jakobs Vorliebe zu Josef eine Bevorzugung wird. Sichtbares Zeichen dafür ist das auffällige Kleid, das Jakob Josef geschenkt hat. Das können die älteren Brüder nicht übersehen. Und als der Kleine dann vom Vater auch noch ausgeschickt wird, um sie bei der Arbeit zu kontrollieren, sind sie ziemlich wütend. Ihr Maß ist voll, als Josef ihnen auch noch mit seinen Träumen auf die Nerven geht: „Hört doch nur, was ich geträumt habe: Wir banden Garben auf dem Feld und meine Garbe richtete sich auf und stand, aber eure Garben stellten sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe.“ Was soll man dazu sagen? Ein wunderbar phantasiebegabtes Kind, ein Spinner, ein Angeber oder einer mit prophetischer Gabe? Die Reaktion der Brüder ist eindeutig: sie hassen Josef, immer, wenn sie ihn sehen oder ihm zuhören, noch ein bisschen mehr. Dreimal wird in den Versen 4-8 auf den sich steigernden Hass der Brüder hingewiesen! Und sie sind eifersüchtig. Als Josef dann eines Tages nicht nur den Brüdern sondern auch dem Vater erzählt, dass er geträumt habe, Sonne, Mond und elf Sterne würden sich tief vor ihm verneigen, schreit ihn der Vater zwar an, mehr aber nicht. Er merkt sich die Worte, heißt es. Ein liebenswerter kleiner Bruder scheint Josef demnach nicht gewesen zu sein – und Jakob auch kein vorbildlicher Vater.

Ob es Vater Jakob beim Anblick des blutigen Rocks dämmert, dass er mit der Bevorzugung von Josef doch etwas zu weit gegangen ist? Trägt diese Erkenntnis zu seinem großen Schmerz bei? Wir wissen es nicht. Erzählt wird uns eine uralte Familiengeschichte. Sie rührt uns an, weil sie Erfahrungen behandelt, die viele selbst kennen: Geschwisterrivalität und Vorliebe und gar Bevorzugung durch Eltern. Es geht um Liebe und Hass. Und auch darum, wie man „gut“ und „richtig“ und „erfolgreich“ trauert.

Jakobs Trauer

Niemand überbringt gern eine traurige Nachricht. In Krimis wird es oft gezeigt, wie ein Polizist hilflos an der Tür klingelt und entschuldigend sagt: „Es geht um einen ihrer Angehörigen.“ Und dann bleibt es den Betroffenen selbst überlassen es auszusprechen: „Er oder sie ist tot?!“ Auch Jakob muss selbst in Worte fassen, was der blutige Rock bedeutet. In drei Sätzen fasst er zusammen, was ist (der Rock meines Sohnes), was daraus zu schließen ist (ein Tier hat ihn getötet) und was daraus folgt (leibhaftig zerfleischt ist Josef). Das Aussprechen des Namens „Josef“ ist der dramaturgische Höhepunkt dieser Szene. Dann beginnt Jakobs rituelle Trauer. Er zerreißt seine Kleider und bedeckt sich nur noch mit einem Sack um die Lenden. Jakob kann und will nicht mehr der sein, der er vorher war. Alle sollen das sehen. Auf einen geregelten Tagesablauf legt er keinen Wert mehr. Essen und Trinken sind ihm egal. Am liebsten würde er sogar das Atmen einstellen, selber tot sein und dadurch mit seinem geliebten Sohn wieder vereint. Die Tröstungsversuche der vollzählig herbeigeeilten Verwandtschaft – es wird ausdrücklich erwähnt, dass auch die Töchter kamen – erreichen ihn nicht: „Unser herzliches Beileid. Wir sind mit dir in tiefer Trauer und untröstlich über den Verlust, den du erlitten hast. Aber gib dich doch jetzt bitte nicht auf. Wir sind doch auch noch da. Du hast doch noch uns.“ Alles ist gut gemeint, aber dadurch wird nichts wieder gut. Mit dem geliebten Menschen scheint die Liebe selbst zu sterben. Wozu noch atmen, das heißt: weiterleben? Nichts wird je wieder sein, wie es einmal war.

Dass Jakob sich in seiner Trauer an Gott gewandt hätte, zu dem er doch wie kein Mensch vor oder nach ihm eine ganz besondere Beziehung hat (Gen 32,23ff), ist nicht überliefert. Hat er sich nicht gefragt, wo Gott war, als sein geliebter Sohn gewaltsam ums Leben kam? War er nicht zornig, weil Gott diesen Tod ­zugelassen hat? Zweifelte er diesem Moment kein bisschen an der Existenz Gottes?

Thomas Mann hat sich in seinem Roman ausgedacht, wie Jakobs Reaktion gewesen sein könnte. Zunächst klagt sich da Jakob selbst an, für den Tod seines Sohnes mitverantwortlich zu sein, weil er ihn ja auf den gefährlichen Weg geschickt hat, auf dem er umkam. Aber dann klagt er Gott an: „Ich bin ohne Besinnung … Gott hat sie mir entrissen, nun höre er meine Worte: Er ist mein Schöpfer … Aber was ist mit ihm, und wo wäre er ohne uns, die Väter und mich? Ist er von kurzem Gedächtnis? Hat er vergessen des Menschen Qual und Mühsal, um seinetwillen … Ich frage: Hat er des Bundes vergessen, dass er mit seinen Zähnen auf mich knirscht und sich gebärdet als wäre ich sein Feind? Wo ist meine Übertretung und Missetat …? Er zeige sie mir … Was leide ich Gewalt statt Gerechtigkeit? Er zerscheitere mich doch gleich in seiner Willkür und werfe mich in die Grube, denn es ist ihm ein kleines auch ohne Recht, und ich begehre nicht mehr zu leben, wenn es Gewalt gilt. Spottet er des Menschengeistes, dass er im Übermut umbringt die Frommen und Bö­sen?“1

Unser Schmerz und unsere Trauer

Wir wüssten so gerne, warum guten Menschen Böses widerfährt, aber eine befriedigende Antwort auf diese Frage ist noch nicht gefunden. Der Hinweis „Gottes Ratschluss ist und bleibt unerforschlich“ hilft da auch nicht wirklich weiter. Und wenn unsere Appelle an Gottes Allmacht und Allwissenheit und Güte nichts bewirken, dann passiert es leicht, dass wir die Existenz Gottes überhaupt in Frage stellen. Den vielen Menschen, die in ihrer Trauer Gott leugnen, hat Leo Tolstoi einmal geraten: „Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast, verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung. Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rührt, dass es keinen Gott gibt. Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast, so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst. Wenn ein Wilder an seinen hölzernen Gott aufhört zu glauben, heißt das nicht, dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass der wahre Gott nicht hölzern ist.“2

Worte, die uns Mut machen, mit allem Ungelösten in unseren Herzen Geduld zu haben, auch unsere ungelösten Fragen liebzuhaben. Auf manche Fragen gibt es (noch) keine befriedigende Antwort. „Leben sie ruhig manchmal nur ihre Fragen. Vielleicht leben sie dann allmählich, ohne es zu merken, in die Antwort hinein.“ Das empfahl Rainer Maria Rilke einmal einer Freundin.3 Ein schwacher Trost – aber so schrecklich und schmerzlich es auch ist, manchmal tröstet uns Gott nicht, wie uns eine gute Mutter trösten würde. Und dennoch: Unsere Trostlosigkeit widerlegt die Glaubenshoffnung nicht, dass Gott alle Tränen abwischen wird und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz. (Offenbarung 21,4) Deshalb stimmen Sie ein in das Hoffnungslied „In dir ist Freude“ (EG 398).

Segen:

Gesegnet deine Trauer,
dass du nicht erstarrst vor Schmerz, sondern Abschied nehmen und dich behutsam lösen kannst, ohne dich verloren zu geben.

Gesegnet deine Klage,
dass du nicht verstummst vor Entsetzen, sondern herausschreien kannst, was über deine Kraft geht und dir das Herz zerreißt.

Gesegnet deine Wut,
dass die Entmutigung dich nicht überwältige, sondern die Kraft in dir wachse, für dich zu kämpfen, trotzdem dein Leben zu wagen.

Gesegnet deine Einsamkeit,
dass du Raum findest, Vergangenes zu ordnen, ohne schnellen Trost zu suchen und in blinder Flucht neues Unheil auf dich herabzuziehen.

Gesegnet du,
dass du Unsicherheit aushalten und Ängste bestehen kannst, bis du wieder Grund spürst unter deinen Füßen und ein neuer Tag dir sein Licht schenkt.

Antje Sabine Naegeli4

Dr. Erika Godel, geb. 1948, ist Pfarrerin i.R.; sie promovierte mit einer Arbeit zu Bibelarbeiten von Frauen auf Deutschen Evangelischen Kirchentagen. Nach beruflichen Stationen als Gefängnisseelsorgerin in der Frauenhaftanstalt Berlin (West) und Superintendentin des Kirchenkreises Wedding in Berlin (West) war sie Studienleiterin für Theologie und interreligiösen Dialog der Ev. Akademie zu Berlin.

Murmelgruppen:
– „Trostlos“ sind Zustände, ein Anblick oder eine Situation. „Untröstlich“ sind Menschen. Was ist der Unterschied?
– „Ich bin untröstlich.“ – Haben Sie das schon einmal gesagt und/oder empfunden?
– Wie stellen Sie sich vor, zu trösten oder getröstet zu werden?

Nach ca. 10 Minuten werden die Gespräche beendet durch Anstimmen oder Vorlesen des Liedes „O Heiland reiß die Himmel auf“ (EG 7,1+4), das Friedrich v. Spee 1622 gedichtet hat:
O Heiland, reiß die Himmel auf, / herab, herab vom Himmel lauf; / reiß ab vom Himmel Tor und Tür, / reiß ab, wo Schloss und Riegel für.
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, / darauf sie all ihr Hoffnung stellt? / O komm, ach komm vom höchsten Saal, / komm, tröst' uns hier im Jammertal.

Anmerkungen
1) Thomas Mann, Joseph und seine Brüder (Band 1), Frankfurt/Main 1971, S. 481
2) Leo Tolstoi (ohne Titel) in: Verstehen durch Stille, Hannover 2001, S. 309
3) Rainer Maria Rilke (ohne Titel) in: Verstehen durch Stille, Hannover 2001, S. 37
4) aus: Gesegnetes deine Trauer, aus: Hrsg. Martin Schmeisser, Gesegnetes Leben © 2004 Verlag am Eschbach der Schwaben Verlag AG, Eschbach / Markgräfler Land. www. verlag-am-eschbach.de

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