Ausgabe 1 / 2017 Artikel von Andrea Blome

Soll ich dies tun? Oder das andere?

Warum manche Entscheidungen im Leben so schwer fallen

Von Andrea Blome

„Was soll ich nur tun? Bitte sag' mir, was richtig ist! So eine Situation habe ich noch nie erlebt.“ Und ich habe meine Freundin noch nie so absolut verzweifelt erlebt. Sie ist seit Jahren Professorin in Frankfurt und hatte sich auf eine Professur in Hannover beworben. „Ich bin 50, da ist das meine letzte Chance, in dieser Posi­tion noch mal zu wechseln.“

Jetzt, da der Ruf auf den Lehrstuhl da ist, weiß sie nicht mehr, was richtig ist: Gehen oder bleiben? In Frankfurt fühlt sie sich nicht zu Hause, sie mag die Stadt nicht sehr und sieht an ihrem Lehrstuhl keine großen Herausforderungen mehr für sich. Aber: Nach der Aufbauarbeit und vielen sehr arbeitsintensiven Jahren hatte sie auch Lust, es etwas ruhiger angehen zu lassen. Außerdem sind ihre drei Kinder hier mit ihr zuhause, haben Freundinnen und Freunde, vertraute Wege. Es gibt ein eingespieltes System für die Kinderbetreuung und Notfälle.

Die Alternative: Der Wechsel in eine Stadt, in der sie schon mal mit ihren Kindern gelebt hat, wo sie Freundinnen und Freunde hat und immer noch ein Haus, in dem sie mindestens einmal im Monat ein Wochenende und in den Ferien sind. Auch die berufliche Chance auf einen Neuanfang verbunden mit dem Auftrag, ein Forschungszentrum aufzubauen, mit der entsprechenden Ausstattung und dem Vertrauen der Hochschulleitung.

„Ich habe mein Leben verpfuscht“

Das Nachdenken über diese Alternativen und der Entscheidungsprozess verlaufen über Wochen und überaus quälend. „Ich bin richtig krank“, sagt sie am Telefon zu mir. „Eine solche Krise hatte ich noch nie. Die einen sagen zu mir: Das kannst du doch deinen Kindern nicht antun. Die anderen bestärken mich zu gehen und sagen: Du hast doch immer neue berufliche Herausforderungen gesucht. Sag' du mir doch, was ich tun soll! Was ist richtig?“, fragt sie verzweifelt.

Wir haben uns angeschaut, warum sie sich auf den Lehrstuhl in Hannover beworben hatte, welche Rolle das Private und welche das Berufliche spielt. Wir ­haben Pro- und Contra-Listen gemacht und das Bauchgefühl versucht zu beschreiben. Am Ende der Eindruck: Beide Entscheidungen sind möglich. Und beide können richtig sein. „Ob du so oder so entscheidest, du kannst es nur richtig machen“, versuche ich meine Freundin zu ermuntern. Es hilft ihr nicht. Sie sitzt fest in der Falle und in der Angst, das Falsche zu tun. Über Wochen verlängert sie immer wieder die Fristen, die die Hochschulen ihr setzen. Die Angst wird dadurch nicht kleiner, im Gegenteil.

Irgendwann bekomme ich eine SMS: „Ich habe mich entschieden. Ich bleibe hier.“ Und dann noch eine: „Ich habe mein Leben verpfuscht. Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt.“

Ich bin ratlos. Warum geht es ihr so schlecht mit ihrer Entscheidung? In meiner Antwort zitiere ich einen Kollegen, dessen Gedanke mich sehr gestärkt hat: „Wenn wir auf Lebensentscheidungen zurückblicken und mit ihnen hadern, wenn wir uns fragen, warum wir so und nicht anders entschieden haben, dann können wir sicher sein: Wir treffen immer die Entscheidung, die wir in diesem Moment unseres Lebens treffen konnten. Hätten wir das andere gekonnt, dann hätten wir es getan.“

„Wenn es klar wäre, dann wäre es ja nicht so schwer“

Ich will verstehen, warum manche Entscheidungen so ungeheuer schwer fallen oder lange brauchen. Woher kommt die Angst, das Falsche zu tun? Was hätte es meiner Freundin leichter machen können? Was hätte geholfen?

Ich spreche mit Astrid Hochbahn. Sie ist Berufswegberaterin und systemische Beraterin in Münster und sagt von sich, dass sie das Thema Entscheiden sehr mag. In ihrer beruflichen Praxis hat sie immer wieder mit Menschen zu tun, die vor Entscheidungen stehen und sich dazu Hilfe holen. „Vor einer wichtigen Entscheidung zu stehen, ist ein Dilemma“, sagt sie und verweist auf den Psychotherapeuten und Coach Gunther Schmidt: „Wichtige Entscheidungen im Leben sind immer 51 zu 49. Beide Alternativen sind eigentlich gleich gut. Wenn es klar wäre, dann wäre es ja nicht so schwer.“

Was eine Entscheidung so schwer mache, das sei das Verhältnis zwischen ­Gegenwart und Zukunft. „Im Moment des Entscheidens handele ich im Jetzt und muss ein Gefühl für die Zukunft entwickeln. Wir versuchen diese Fäden zusammenzubringen, aber wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird. Problematisch wird es dann, wenn das zukünftige Ich dem jetzigen Ich Vorwürfe macht. Um zu guten Entscheidungen zu kommen, braucht es die Solidarität des zukünftigen mit dem jetzigen Ich.“

Astrid Hochbahn ist davon überzeugt, dass wir in Entscheidungssituationen auf das zurückgreifen, was wir in der Kindheit gelernt haben. Familiäre Entscheidungsmuster der Familie prägen meine Haltung: Wie gehe ich mit mir und meinen Entscheidungen um? Wie gehen andere mit meinen Entscheidungen um? Haben meine Eltern geschimpft? Oder habe ich gelernt: Egal wie du es tust, es wird gut sein. „Wie ich mit meinen Entscheidungen umgehe, ist eine Frage der Haltung: Bin ich bei mir, egal, was dabei herauskommt? Oder bin ich gegen mich, egal, was dabei herauskommt?“

Ich rufe Kathinka Dettmer an. Sie ist Psychotherapeutin, Focusing-Seminarleiterin und hat eine Praxis für Supervision, Therapie und Training in Freiburg.
„Wie Menschen an Entscheidungen herangehen, hat mit ihrer psychologischen Disposition zu tun“, sagt auch sie. „Wenn es Fifty-Fifty steht und man das eine wählt, dann ist damit logischerweise der Schmerz über das Nicht-Gewählte verbunden. Ent-scheiden heißt eben auch, sich von der anderen Möglichkeit zu verabschieden. Das Problem entsteht dann, wenn ich glaube, das Nicht-Gekannte wäre besser gewesen.“

„Pro- und Contra-Listen helfen nicht weiter“

Aber was bedeutet das ganz praktisch? Wie komme ich zu einer guten Entscheidung? Wie verabschiede ich wohlwollend das Nicht-Gewählte? Wie gelingt die Solidarität des Zukunfts-Ich mit dem Gegenwarts-Ich? Wie bin ich in einer Entscheidung – egal wie sie ausgeht – bei mir und nicht gegen mich?

„Pro- und Contra-Listen helfen nicht weiter“, sagt Astrid Hochbahn. „Weil sie nicht gewichtet sind und weil das Gefühl fehlt. Entscheidungen treffe ich mit dem Gefühl und nicht mit dem Kopf. Der Kopf rationalisiert nur das Gefühl.“ Sie arbeitet mit Beratungskundinnen und -kunden, die vor Entscheidungen stehen, gerne mit Methoden, in denen nicht nur geredet wird – mit Aufstellungen oder Malen, einen Weg zusammen gehen …
Kathinka Dettmer weist mich auf eine ganz banale Beobachtung hin: Erst wenn es schwierig wird, bei großen Entscheidungen, kommt der Kopf ins Spiel. Dann beginnen wir zu rationalisieren, erstellen Listen, machen eine Matrix, all diese Dinge. Im Alltag entscheiden wir dauernd – und tun das immer aus einem Gefühl heraus. Zum Beispiel bei der morgendlichen Entscheidung: Was ziehe ich heute an? Oder: Was will ich jetzt gerne essen?

Vermutlich geht es also darum: Dem Gefühl auch bei den großen Entscheidungen wieder viel mehr Raum zu geben.

Kathinka Dettmer arbeitet in Freiburg unter anderem in der Studienberatung und hat immer wieder mit jungen Leuten zu tun, die vor der Frage stehen: Soll ich dieses oder jenes Fach studieren? Soll ich das Studium abbrechen oder weitermachen? „Pro- und Contra-Listen, das ganze rationale Zeug haben sie längst durch und sich damit gequält, wenn sie in die Beratung kommen.“ Sie arbeitet mit Übungen, in denen sie das systemische Tetralemma und das Focusing miteinander verknüpft. Focusing ist eine besondere Form der Achtsamkeitspraxis, in der es um die Resonanz des Körpers geht – den so genannten „felt sense“. Eine zentrale Grundannahme im Focusing bezieht sich auf diese Körperweisheit: Der Körper weiß mehr als unser Kopf. Das Tetralemma ist eine Methode der systemischen Strukturaufstellung und soll helfen, den Entscheidungs- und Handlungsraum bei einem sogenannten „Dilemma“ zu erweitern.
Elemente von beidem nutzt Kathinka Dettmer, um Menschen bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen, wenn es zwei gleich starke Alternativen gibt. Sie beschreibt eine solche Übung:

„Ich bitte die Person, sich einen Platz im Raum zu suchen, der für die Alternative A steht. Eine ganze Zeitlang bleiben wir dort, um zu spüren: Wie fühlt es sich dort an? Was entsteht in dir körperlich zu all dem? Frag dich mal nach innen … während du mit diesem Gefühl verweilst … entsteht in dir vielleicht ein Wort oder ein Bild, das zu diesem Körpergefühl passt? Dann bitte ich die Person, sich einen weiteren Platz im Raum zu suchen für die Alternative B und auch hier geht es wieder darum, das Ganze zu dieser Alternative auf seinen Körper wirken zu lassen und abzuwarten, was ihr daher entgegenkommt. Manchmal ist es dann schon klar, auch wenn die Menschen dem noch nicht trauen. Ich bitte die Person, sich auch eine Position für das Sowohl-als-auch zu suchen. Wie fühlt es sich an, wenn du beides tun könntest? Hier passiert schon eine Erweiterung der Möglichkeiten und ein erstes Ausbrechen aus der Problemtrance. Das Kopfkino, was da losgeht, ist auch eher positiv, weil es Möglichkeitsräume für kreative Ideen eröffnet. Welche Kompromisse müsste ich schließen? Mal ist die Vorstellung mit Witz verbunden, mit Überraschung oder mit Verwirrung: Wie soll das gehen? Hier springt die Kreativität an. Gleichzeitig achte ich aber darauf, dass dann auf jeden Fall danach wieder der Felt Sense zu all dem befragt wird. Denn dann hat man beides …

Die vierte Position im Tetralemma ist dann die Position Keins-von-beiden. Und diese Position wird oft wie eine Erlösung wahrgenommen: Es gibt ja noch mehr, die Welt ist größer. Um das Ganze rund zu machen, gehen wir runter von der ,Bühne' und schauen uns das Ganze von außen an. Und auch hier stelle ich wieder die Frage: Wie geht es dir jetzt, wenn du von dieser Position auf das Ganze schaust? Auch wenn die Entscheidung noch nicht klar ist, so kommen die Klientinnen und Klienten dort in einen Freiraum, in eine Position, eine Entscheidung zu treffen.“

Kathinka Dettmer ist davon überzeugt, dass gerade die Kombination aus systemischer und körperorientierter Arbeit in solchen Entscheidungsprozessen den Unterschied macht. „Nur der Kopf ist zu wenig. Das Körperliche, das Spüren hat auch einen Heilungseffekt. Das ist viel profunder und mehr verankert im Er­leben.“

„Eine Weile mit der Frage leben“

Manche Entscheidungen brauchen Zeit. Für andere macht es Sinn, sich eine Frist zu setzen. Das ist von der ­Sache, aber auch vom Typ abhängig. „Manchmal kann es wichtig sein, eine Weile mit einer Frage leben zu dürfen“, sagt die Berufswegberaterin Astrid Hochbahn. In einem Brief des Dichters Rainer Maria Rilke über die Geduld an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus klingt das so:

„Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“

Auch so können Entscheidungen wachsen, manche brauchen eben länger. Aber: „Nichts zu entscheiden, heißt nichts zu leben.“ Oder im Bild, das Kathinka Dettmer ins Gespräch einwirft: „Der Esel, der zwischen zwei Heuhaufen steht und sich nicht entscheidet, von welchem er fressen soll, wird verhungern.“

Und auch das Hadern mit dem Vergangenen, das „Was wäre gewesen, wenn …“ finden beide vollkommen unproduktiv und durchaus zerstörerisch. Dabei erleben sie auch das in ihren Beratungen immer wieder. Dass Menschen sich fragen, warum sie bestimmte Dinge in ihrem Leben nicht erreicht haben. Dass sie damit hadern, wo sie angekommen sind und heute stehen. „Jeder Mensch startet mit einem anderen Rucksack“, sagt Astrid Hochbahn. „Manche mit leichtem, andere mit schwerem Gepäck. Entscheidungen verlangen einen liebevollen Blick auf sich selbst – und Verständnis für das eigene Gepäck.“

Manchmal brauche es auch einen Weitwinkel statt eines Vergrößerungsglases, um die Bedeutung der bevorstehenden Entscheidung zu relativieren. Dass das mit zunehmendem Alter schwerer wird, auch das ist eine Beobachtung aus der Beratung. Astrid Hochbahn spricht in dem Zusammenhang von der Sterblichkeitskrise – der Erkenntnis, dass mein Leben irgendwann zu Ende geht und ich viele Dinge nicht mehr unendlich oft probieren kann. Was mache ich, wenn die Möglichkeiten endlich sind?

Meine Freundin hatte dieses Gefühl ganz extrem: „Wenn ich jetzt nicht auf einen neuen Lehrstuhl wechsle, dann werde ich es in diesem Leben nicht mehr tun“, lautete ihre dramatische Drohung gegen sich selbst. Mein aufmunterndes „Vielleicht kommt stattdessen was viel Besseres“, war ihr deutlich zu abstrakt.

Ein normaler Tag im idealen Leben

Aber wie abstrakt sind Visionen oder Träume wirklich? Vielleicht helfen sie ja dabei, in einer Entscheidungssituation weiter zu blicken? Vielleicht macht es ja Sinn, sich das Visionäre zu gestatten, um nicht nur die zwei so quälenden Optionen zu sehen, sondern viel mehr.

Kathinka Dettmer macht Visionsreisen, wenn Menschen vor offenen Fragen stehen und nicht so richtig wissen, wie es weitergehen soll. Dann lädt sie sie ein, sich einen normalen Tag in ihrem idealen Leben in zehn Jahren auszumalen. So konkret wie möglich. Mit ganz genauen Beschreibungen von Orten und Räumen, Menschen, Tätigkeiten, Gefühlen, Zeiträumen – bis ins letzte Detail. In einer solchen Vision bekommt jede noch so abgedriftete Wunschvorstellung ihren Platz – auch die Gefühle, die damit verbunden sind. Ist ein solcher Tagesablauf dokumentiert, dann bittet sie die Person, die diese Visionsreise unternommen hat, jeweils unterschiedlich farbig zu unterstreichen, was ein Essential ist, also absolut nicht fehlen darf, was wünschenswert wäre und was ein I-Tüpfelchen oder das Sahnehäubchen wäre. Für die Essentials wird dann eine Tabelle angelegt, um sie noch genauer zu beschreiben und in ihren Kern der Bedeutung zu erfassen, die dies für die Person hat.

„Sich zu erlauben, so zu denken und zu fühlen, ohne Zweifel und sich daran zu erfreuen, hat eine unglaublich identitätsstärkende Wirkung“, sagt Kathinka Dettmer. „Wenn wir das in die Realität zurückführen, stellen wir fest, dass die so geweckten Gefühle eine starke Macht für das Vertrauen in den weiteren Weg haben. Diese Haltung hilft sehr bei Entscheidungen für die Zukunft, die ja immer ungewiss ist.“ Eine Übung wie diese basiere auf der Annahme, dass es immer die inneren Planken sind und nicht die äußeren, die uns Richtung geben, dass es eine Identität des Seins gibt. „Du weißt, was du brauchst.“

Als meine Freundin schließlich die Entscheidung getroffen hatte, mit ihren Kindern in Frankfurt zu bleiben, da war sie längst nicht mehr mit ihrem Kopf dabei. Am Ende war es ein spontanes – sicher noch unbewusstes – Gefühl, welcher Weg in diesem Moment der richtige sei. Und auch wenn sie direkt und spontan dachte „Ich habe mein Leben verpfuscht“, so kommt auch das langsam wieder ins Lot und es beginnt etwas Neues. Astrid Hochbahn sagt es so: „Menschen sind durch große Ereignisse nur kurzfristig aus der Bahn zu werfen. Du pendelst dich wieder ein auf dem vorherigen Zufriedenheitsniveau und integrierst irgendwann das eine wieder mit dem anderen.“

Mit der Entscheidung an der Hochschule in Frankfurt zu bleiben, entschied meine Freundin auch, sich nicht mehr zu verstellen, weniger Rollen zu spielen, klarer zu sein – selbst wenn es dadurch mehr Konflikte und Konfrontationen gibt. Sie hat ein großes Forschungsprojekt beantragt und bekommen. Sie hat Lust auf etwas Neues am alten Ort. Eingependelt.

Andrea Blome (geb. 1965) ist Journalistin und Moderatorin in Münster und zurzeit vertretungsweise Redakteurin der ahzw.

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