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Sonnja und Sieger

Von Christa Peikert-Flaspöhler

Ein junger Kaufmann wanderte nach einem gehetzten Junitag aus der hitzegeschwängerten Luft seines Büros in den Wald. – An einer winzigen Lichtung legte sich der Duft wie ein Kranz von Zärtlichkeit um seine Stirn. Er schloß die Augen. „Warum schaust du mich nicht an?“ Ganz nahe schwebte die wohlklingende Stimme. Galt sie ihm? Nur nicht erwachen aus diesem Traum der Träume. Langsam hob er die Lider und geriet in die zierliche Blütensonne einer wilden Rose. Ein unbeschreiblich sanftes und kraftvolles Leuchten lebte in ihren zartgelben Kronblättern. Ergriffen von Liebe und Sehnsucht fragte er: „Wer bist du?! – „Die Waldrose Sonnja.“ Sie blühte an einem kräftigen Busch, von zahllosen tiefgrünen Blättern umgeben. Jedes einzelne schien sie zu loben und zu lieben. Und jeder einzelne der spitzen Dornen, die scharfe Blicke zwischen den Blättern hervorschickten, schien sie zu beschützen.

„Woher nimmst du den Paradiesduft?“ flüsterte er. „Aus meinem Herzen, Sieger.“ – „Du bist das Schönste, was ich bis heute gesehen habe, Sonnja, und das geheimnisvollste. Du kennst meinen Namen.“ Wieder empfing Sieger einen Duftkranz. „Ohne dich kann ich nicht mehr leben“, bekannte er. „Besuche mich, so oft du willst.“ – „Komm mit, daß wir uns nie trennen müssen“, bat er. „Den Wunsch kann ich dir nicht erfüllen, Sieger, der Wald ist mein Lebensgrund. Aber ich bin dir immer nahe“, tröstete Sonnja und wünschte ihm: „Träume gut.“ …

„Grabe sie behutsam aus“, befahl Sieger dem Gärtner. „Ich rate Ihnen ab, die wilde Rose zu verpflanzen“, entgegnete dieser. „Mir ist wohl der falsche Fachmann empfohlen worden“, erwiderte zornig der Kaufmann, „ich muß die Rose haben.“ – „Wenn es so ist“, murmelte der Gärtner, „aber vergessen Sie meine Worte nicht.“ Geschickt und vorsichtig begann er mit der Arbeit und hob schließlich den Rosenbusch mit einem großen Wurzelballen unverletzt aus seiner Waldheimaterde. Erschrocken flüsterten die Blätter, zornig und machtlos zugleich knarrten die Dornen. In einem luftigen Korb trugen die Männer die kostbare wilde Rose Sonnja in Siegers Garten. An der Hauswand zwischen Wohn- und Schlafzimmerfenster pflanzte der Gärtner den Rosenstock in gute Erde, goß vorsichtig an und ging seltsam traurig nach Hause. …

Sorgsam wurde der Rosenstrauch gepflegt. Einige Zweige gilbten und verdorrten. Der Gärtner zuckte mit den Schultern. „Er hat Heimweh nach dem Wald.“ …

Endlich, im dritten Jahr, erfüllte sich Siegers Hoffnung. Wie sehnte er sich nach der zierlichen Sonne, nach dem Duft aus ihrem Herzen. Er lockte sie täglich mit lieben Worten. Auf sein Geheiß hin hatte der Gärtner doppelt düngen, die Erde oft lockern und reichlich gießen müssen. Die Rosenknospe wuchs und wuchs. Am gleichen Juniabend, wie drei Jahre zuvor, sprang sie auf: eine breite behäbige Blüte mit knallgelben Kronblättern entfaltete sich. „Du bist nicht Sonnja“, stieß Sieger hervor. „Ich bin die Sonnja, die du geschaffen hast, Sieger“, antwortete die Rose. …

„Weshalb duftest du nicht, Sonnja? Ist das dein Dank?“Seine Stimme klang hart und gereizt. „Besinne dich, Sieger“, flüsterten die Blätter. „Wir hätten Sonnja so gern beschützt“, schnarrten die Dornen so sanft es ihnen möglich war. „Nun?“ forderte Sieger.
„Weil mein Herz Atemnot leidet. Du hast ihm die kühle, duftende Waldluft genommen. Du hast ohne Not meine Wurzeln gelöst aus dem Heimatboden. Du hast mich von meinen Freunden und Nachbarn getrennt. Du hast mich gemästet. Das Wichtigste hast du mir verweigert: Ich durfte mir selbst nicht treu bleiben.“
Sonnjas traurige Stimme berührte Siegers Herz. „Verzeih mir“, bat er, „ich bringe dich wieder nach Hause.“ –
„Träume gut, Sieger“, wünschte Sonnja.
Morgens, beim Erwachen, umarmte ihn der so lange entbehrte Duft der wilden Rose. Um ihr zu danken, lief er hinaus. Den Rosenbusch fand er im Garten nicht mehr.

gekürzt aus:
Jahreszeiten – Lebenszeiten
Klens-Verlag
Düsseldorf 1994

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