Ausgabe 1 / 2008 Material von Corinna Dammeyer

Sozialarbeit in der Küche?

Von Corinna Dammeyer


Es klingelt. Nadja hat einen Beratungstermin. Die 22-Jährige wird seit zwei Jahren von einer Mitarbeiterin der Beratungsstelle Nadeschda betreut. Sie hat traumatisierende Gewalterfahrungen in der Zwangsprostitution gemacht und steht kurz vor dem Strafverfahren gegen die Zuhälter und Bordellbetreiber, in dem sie als wichtigste Belastungszeugin und Nebenklägerin auftritt. Nadja ist ziemlich angespannt, hat Angst vor dem Verfahren, vor der erneuten Begegnung mit den Tätern. Ich bitte sie in mein Büro, und – es ist fast schon ein Ritual – sie möchte lieber in der Küche der Beratungsstelle sitzen. Dort darf sie rauchen, kann sie sich entspannt auf einen Tisch stützen, dort steht schon der Kaffee bereit und ist es „irgendwie gemütlich“, sagt sie. Anfangs habe ich mich gefragt, ob etwas mit meinem Büro nicht stimmt, aber das ist es nicht. Es ist eher das Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit, das in der Küche entsteht. Wir schließen die Tür hinter uns und gehen noch einmal den bevorstehenden Prozess durch. Langsam entspannt Nadja sich.

Wieder die Klingel. Die Polizei bringt eine neue Klientin. Alle setzen sich wie selbstverständlich an den großen Tisch in der Küche, lehnen sich zurück und bedanken sich – manchmal nur durch Blicke oder ein leises Seufzen – für die gelöste Atmosphäre, die die anfängliche Scheu der neuen Klientin lindert. Auch die Polizei ist dankbar für die weniger offizielle und nüchterne Begegnung.

Sozialarbeit in der Küche? Ist das unprofessionell? Ich finde: nein. Unsere Erfahrung ist, dass Beratung sich auf die individuellen Bedürfnisse der Klientinnen auch räumlich einstellen sollte. Dass wir das können, verdanken wir einer großzügigen Spende einer ostwestfälischen Küchenfirma, die uns diesen „anderen Beratungsraum“ eingerichtet hat. Natürlich gibt es auch Beratungen, wo es wichtig ist, sich gerade nicht in die Küche zu setzen; ich entscheide es im Einzelfall. Nadja sagt: „Das ist hier irgendwie ein bisschen wie zuhause.“ Und denkt an früher, an ihre Heimat Litauen, an ihre Familie, an die Geborgenheit in ihrer Kindheit. Diese Assoziationen und Gefühle scheinen sie zu öffnen und gleichzeitig zu entlasten. Wenn Klientinnen über ihre Erfahrungen in der Prostitution berichten, dann ist es vor allem die Kälte und Härte der Täter und der Freier. Sie werden gar nicht mehr als Person wahrgenommen, sondern nur noch als Ware. Ein Körper, der zum Verkauf steht. Gerade nach solchen Erlebnissen ist es wichtig, für Vertrauen und Geborgenheit zu sorgen. Das geht durch die eigene Person, auch durch muttersprachliche Beratung und durch die entsprechende räumliche Atmosphäre. Dennoch muss auch in diesen Gesprächen die fachliche Distanz gewahrt bleiben. Es ist eben keine private Begegnung in einem Privatraum. Es ist die Küche einer Beratungsstelle. Interessanterweise habe ich es aber in meiner ganzen Zeit als Mitarbeiterin der Beratungsstelle nicht erlebt, dass hier – anders als bei Hausbesuchen – seitens der Klientinnen Grenzen überschritten wurden.

Die Küche ist ein Raum der Gefühle. An unserem Küchentisch wurden schon viele Tränen geweint. Tränen, die helfen loszulassen und befreien. Eine Packung Papiertaschentücher steht immer bereit. Aber auch gelacht wurde schon viel. Nicht zuletzt bei den Teambesprechungen, die selbstverständlich auch in der Küche stattfinden.

Nach einem längeren intensiven Gespräch steht Nadja plötzlich auf, geht zur Mikrowelle und wärmt ihren bis dahin unberührten und völlig abgekühlten Kaffee wieder auf. Auch ein Ritual. Ich sehe ihr dabei zu und denke, trotz des belastenden Themas der heutigen Beratung fühlt sie sich hier wohl.


Corinna Dammeyer
Mitarbeiterin von Nadeschda
Frauen-Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel in Herford

Informationen:
www.frauenhilfe-westfalen.de 
(Einrichtungen /Anti-Gewalt-Arbeit /Menschenhandel)

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