Alle Ausgaben / 2007 Artikel von Ilona Eisner

Spuren der Weisheit

Mit Hänsel und Gretel das Leben suchen

Von Ilona Eisner


„Wir sollten das Leben verlassen wie ein Bankett: weder durstig noch betrunken.“ „Der Kluge lebt heute, der Narr will morgen leben.“ „Jeder will lange leben, aber niemand will alt sein.“ „Man lebt um zu lernen und lernt um zu leben.“ „Wer in Frieden lebt, schläft in Ruhe.“ „Ein Leben ohne Freund ist eine Welt ohne Sonne.“

Sprüche wie diese – der erste von Aristoteles, die anderen aus einem Sprichwörterlexikon – sind alt. Sie wollen uns helfen, in unserem Leben das Richtige zu tun und andere leben zu lassen.

Dabei ist das mit solchen Weisheiten so eine Sache. Was für die Einen klug und richtig klingt, ist für die Anderen kaum nachvollziehbar. Nur gut, dass der Schatz an Weisheiten zum Thema Leben schier unerschöpflich und daher für jede etwas dabei ist.

Eine reiche Quelle alter Lebensweisheiten sind Märchen. Sie sind aus dem gleichen Material wie Träume und sprechen in einer Symbolsprache, die wir uns oft neu erschließen müssen. Da Märchen in archaischen Bildern sprechen, treffen sie alle Ebenen der menschlichen Persönlichkeit. Sie vermitteln auf bewusster, vorbewusster und unbewusster Ebene die Lebenserfahrungen und Weisheiten vieler Generationen von Menschen, komprimiert in Bildern und Symbolen.

Sicher haben viele von Ihnen schon verschiedene Lebensweisheiten in den unterschiedlichsten Märchen entdeckt. Ich möchte Sie einladen, mit mir auf Spurensuche zu gehen im Märchen „Hänsel und Gretel“. Dabei baue ich den Artikel so auf, dass Sie die einzelnen Schritte für die Umsetzung in einer Gruppe im Fließtext finden werden.
Nehmen Sie sich einige Minuten Zeit und besinnen Sie sich auf Ihre eigenen Erinnerungen an das Märchen „Hänsel und Gretel“! Was fällt Ihnen ein, wenn Sie den Titel hören? Was verbinden Sie damit?

Es bleibt nicht aus, dass wir uns an die „böse“ Stiefmutter und die Hexe erinnern, an die Geschwister, die allein im Wald zurück gelassen werden – und dass möglicherweise eigene Verlassensängste sich zögerlich an die Oberfläche wagen. Irgendwann im Leben erfahren Kinder zum ersten Mal, dass sie verlassen werden können, dass die Mutter nicht ständig um sie herum ist. Trifft diese Erkenntnis sie unvorbereitet, so kann sie schlimme Ängste auslösen, die das Lebensgefühl nachhaltig erschüttern. Es ist eine Urangst der Menschen, ganz allein und verlassen zu sein. Vielleicht entwickeln wir deshalb so leicht das Gefühl der Solidarität mit den beiden Kindern.

Das Kuchenhaus der Hexe wird den meisten auch in Erinnerung sein, backen doch viele in der Weihnachtszeit selbst Pfefferkuchenhäuser und dekorieren sie mit den drei Figuren des Märchens. Der Vater bleibt eher im Nebel: „War der am Ende auch tot?“ Die Erinnerungen sind ungenau. Und der Rückweg der Kinder ist beim ersten Erinnern auch nicht so ganz klar. Also sollten wir das Märchen einmal lesen!

Teilen Sie die Gruppe in fünf Kleingruppen oder Paare und ordnen Sie jeder Gruppe eine Figur des Märchens zu: den Vater, die (Stief-)Mutter, die Hexe, Hänsel, Gretel. Während des Vorlesens sollte jede Gruppe besonders auf ihre Figur achten:
1 Was tut „unsere“ Figur? Wann taucht sie auf, wann verschwindet sie aus dem
   Märchen?
2 Macht sie Erfahrungen im Verlauf des Märchens? Welche?
3 Welche Entwicklung nimmt sie? Wird sie dabei unterstützt oder gehindert –
   und wenn ja: von wem?

Lesen Sie das Märchen nach der Grimm'schen Fassung von 1819. Diese ist in den meisten gängigen Märchenbüchern zu finden.(1) Spannend, oder? Haben Sie noch alles gewusst, auch das Sprüchlein für die Ente?

Für den Austausch ist es hilfreich, ein großes Blatt zur Hand zu haben, auf dem die Märchenfiguren am linken Rand in der oben genannten Reihenfolge untereinander aufgeschrieben sind. Während jede Gruppe einzeln ihre Beobachtungen mitteilt und von den anderen ergänzt werden kann, zeichnen Sie die „Lebenslinie“ der Figur daneben. Dabei gilt: Der zur Verfügung stehende Platz zwischen den Figuren und dem rechten Blattrand steht für den Gesamtrahmen des Märchens. Der Vater taucht schon am Anfang auf, also beginnt seine Linie direkt nach dem Wort „Vater“. In der Mitte des Märchens hören wir gar nichts von ihm, also ist die Linie unterbrochen. Erst am Ende taucht er kurz wieder auf, so bekommt er einen kleinen Strich am rechten Rand des Blattes. Passives Verhalten sollte mit einer waagerechten Linie dargestellt werden und aktives mit einer aufstrebenden. Die Beobachtungen der Gruppen können mit den folgenden Hinweisen ergänzt werden. Lassen Sie während des Gesprächs auch genügend Raum für eigene Lebenserfahrungen der Frauen.


Der Vater

Der Vater begegnet uns im Märchen eher passiv: Er sieht die Not, hat aber keine Idee, diese Lage zu verändern. Er fügt sich in sein Schicksal und überlässt der Frau die Entscheidungen und damit auch die Verantwortung. Er weiß, dass ihr Vorschlag moralisch nicht vertretbar ist, setzt aber nichts dagegen. Wer hat wohl im Hause des Holzhackers die Hosen an?

Wir sind geneigt, ihn positiv zu sehen und Mitleid zu haben. Aber eigentlich tut er, was so viele Männer heute auch tun: Er zieht sich aus der Verantwortung für das Familienleben zurück, tut nichts und sitzt das Problem aus. Die Ungerechtigkeit gipfelt für viele Frauen darin, dass er dafür am Ende auch noch belohnt wird. Als die Kinder mit Schätzen beladen zurückkehren, teilen sie ihren Reichtum mit ihm.


Die (Stief-) Mutter

Die Mutter erscheint uns hart und unbarmherzig. Es ist eben die Stiefmutter! Wir neigen dazu, ihr Verhalten zu verurteilen – dabei ist sie die einzige, die wirklich etwas tut. Sie denkt an sich und ihren Mann. Sie will mit ihm überleben und redet darüber. Genau das versäumen so viele Paare heute. Für sie ist die Paarbeziehung das, was erhalten werden muss, was wichtig ist. Die Beziehung zu den Kindern ist sekundär. Sie werden das Elternhaus ja irgendwann verlassen, die Paarbeziehung bleibt. Viele wissen aus eigener Erfahrung, wie schwer die Veränderungen zu ertragen sind, wenn die Kinder flügge werden und die Partner versäumt haben, ihre Beziehung zu pflegen.

An keiner Stelle im Märchen wird das Alter der Kinder erwähnt. Erlauben wir uns, einmal nicht an kleine, hilfsbedürftige Wesen zu denken. Wie wird unsere Sicht auf den Vorschlag der Mutter, wenn wir uns vorstellen, dass die Kinder bereits selbständig sein könnten? Doch das Leben im Elternhaus ist ja bequem! „Hotel Mama“ ist ein Begriff, der aufgrund sozialer Umstände heute öfter zu hören ist. Kinder, die mit über dreißig noch zu Hause wohnen, ohne Abgabe von Kostgeld oder Verantwortung für Aufgaben im Haushalt, begegnen immer häufiger. Solche Versorgung geht weit über die Fürsorgepflicht der Eltern hinaus.

Aufgabe von Eltern ist es, ihre Kinder so auf das Leben vorzubereiten, dass sie fähig werden, selbständig für sich zu sorgen und Eigenverantwortung zu übernehmen. Aus dieser Perspektive ist die Mutter diejenige, die die „Nesthocker“ aus dem Nest stößt. Und sie tut es nicht unbarmherzig: Sie teilt mit ihnen das letzte Stück Brot, und Brot bedeutet Liebe und Zuneigung. Ein Feuer will sie ihnen anzünden und in der Bechstein-Fassung befiehlt sie die Kinder dem lieben Gott. Ihre Lebenslinie ist aktiv von Anfang an bis zur Mitte des Märchens. Dann verschwindet sie aus dem Geschehen – nur durch eine kurze Notiz erfahren wir von ihrem Tod.


Die Hexe

Das Erscheinen der Hexe folgt unmittelbar auf das Verschwinden der Mutterfigur. Auch sie ist aktiv: Sie baut ein Brothäuslein, verwöhnt die Kinder zunächst mit allem, was sie zu Hause nicht hatten. Dabei verfolgt sie ein ganz anderes Ziel. Doch ihre Aktivitäten schlagen um. Aus der Versorgung wird einsperren, mästen, benutzen, herumscheuchen. Hexen und wilde, kinderfressende Weiber gehören zur Elementarsymbolik der frühen Kindheit.

Die Hexe in „Hänsel und Gretel“ zeigt uns genau die andere Seite der Mutter. Sie hat die Kinder „zum Fressen“ gern, will sie sich einverleiben und niemals hergeben. Damit würde sie jede Entwicklung und Selbstverwirklichung verhindern. Kennen wir diese Seite in uns nicht auch? Deuten wir den Verantwortungsbegriff für unsere Kinder nicht falsch, wenn wir sie vor jeder Gefahr bewahren wollen und sie der Möglichkeit der eigenen Erfahrungen berauben? Auf diese Art und Weise wird Leben verhindert. Der Käfig ist ein starkes Bild dafür.

Auch die Hexe ist am Ende des Märchens tot, und somit liegt es nahe, in den beiden Frauenfiguren eine Mutter zu sehen – mit den zwei extremen Seiten in ihrem Inneren. Wenn es um die Erziehung von Kindern geht und damit um deren Befähigung zum Leben, kann mütterliche Neigung sowohl in die eine als auch in die andere Richtung gehen. Die Aufgabe von Eltern ist es, Kinder für das Leben stark zu machen und gemeinsam den richtigen Zeitpunkt für die „Entlassung“ aus dem Elternhaus zu finden.


Hänsel

Hänsel ist klug und entschlossen. Er erfasst die Situation, tröstet seine Schwester und sucht nach Auswegen aus der Not. Im Alleingang übernimmt er die Verantwortung für das eigene Schicksal und das seiner Schwester. Er handelt nach seinen Möglichkeiten, und zunächst gelingt es ihm auch, der Not zu entkommen. Selbst als der zweite Versuch scheitert und die Kinder den Weg aus dem Wald zurück nicht finden, bleibt er aktiv. Er verbreitet Zuversicht, schlägt vor, den Weg zu suchen und wählt das süße Fensterstück für Gretel aus. Erst, als er von der Hexe in den Käfig gesperrt wird, wird seine Linie passiv. Ihm sind nun die Hände gebunden. Was er noch zu ihrer Rettung tun kann, ist nicht der Rede wert. Und an dieser Stelle lohnt es sich, bereits den Blick auf Gretel zu richten und Hänsels Lebenslinie später zu Ende zu bringen.


Gretel

Gretel ist zunächst eine „Heulsuse“. Nichts trägt sie bei und verlässt sich voll und ganz auf die Fürsorge ihres Bruders. Sie lässt sich trösten, von ihm an der Hand führen und folgt ihm blind. Sie ist zurückhaltend und verkörpert klassisch die Rolle, die Mädchen zugedacht wird. Ihnen wird nichts zugetraut und somit können sie auch nichts. Ihre Kreativität ist absolut verkümmert – und so leistet sie auch keinen Beitrag, um der Not zu entrinnen.

Erst, als dem Hänsel die Hände gebunden sind, kann Gretel zeigen, was in ihr steckt. Erst, als sie auf sich selbst gestellt ist und sich nicht mehr auf die Hilfe des Bruders verlassen kann, entwickelt sie genug Mut und Kreativität, der Situation zu begegnen und sich und den Bruder zu retten. Mit dieser Erfahrung lässt sie sich dann auch im weiteren Verlauf des Märchens nicht mehr zurück drängen. Die nächsten Entscheidungen treffen Hänsel und Gretel gemeinsam. Beide nehmen Schätze aus dem Hexenhaus mit, und mit ihrer Aufmerksamkeit am Wasser verhindert Gretel eine nächste Gefahr. Nun verlaufen die Lebenslinien der Geschwister parallel aktiv.

Hänsel und Gretel reifen mit diesen Erlebnissen. Das Märchen macht deutlich, dass solches Reifen nur möglich ist, wenn wir das Alte überwinden. Diese Reifung bedeutet eine Zunahme an Individualität und, auch das sehen wir in diesem Märchen besonders deutlich, Reifung kann auch Schuldigwerden bedeuten – auch, weil sie mit dem Erkennen von Gut und Böse einhergeht. Reifung und Entwicklung zu Selbstverantwortung, Begleitung und Unterstützung dieses Prozesses durch Eltern: das sind aus meiner Sicht die zentralen Themen dieses Märchens. Doch in der Märchendeutung gibt es kein richtig oder falsch. Mit Ihren eigenen Lebenserfahrungen gelingt es Ihnen vielleicht, noch ganz andere Aspekte zu entdecken.

Nicht, was wir erleben, sondern wie wir es empfinden, macht unser Schicksal aus. So Marie von Ebner-Eschenbach. Gelingendes Leben jedenfalls braucht Freiheit und Begleitung, braucht Vertrauen und Verständnis, Einsicht und Vorsicht, Mut und Kreativität. Und nicht zuletzt Menschen, die uns dazu ermutigen und an unserer Seite sind.


Ilona Eisner, Jahrgang 1966, hat vier Kinder.
Sie arbeitet als Referentin in der Frauenarbeit der Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland. Im Vorstand der EFHiD ist sie verantwortlich für Publikationen und in dieser Funktion auch Mitglied in der Arbeitsgruppe ahzw.


Anmerkung

1 Für AbonnentInnen ist das Märchen „Hänsel und Gretel“ unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.


Literatur
Sprichwörterlexikon, Bibliographisches Institut Leipzig, 1987
Steiner Arbeitshilfe 7, Frauen im Märchen, Bayerischer Mütterdienst 1988
Eugen Drewermann: Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter, München (dtv) 1992
Verena Kast: Liebe im Märchen, Olten (Walter-Verlag) 1992

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