Alle Ausgaben / 2012 Material von Christine de Pizan

Stadt der Frauen

Von Christine de Pizan


„Ach, Gott, warum ließest Du mich nicht als Mann auf die Welt kommen, damit ich Dir mit meinen Gaben besser dienen könnte, damit ich mich niemals irrte und ich überhaupt so vollkommen wäre, wie es der männliche Mensch zu sein vorgibt?“ …(Ich) haderte in meiner Torheit damit, von Gott in einem weiblichen Körper auf die Erde geschickt worden zu sein. Während ich mich mit so traurigen Gedanken herumquälte, … sah ich plötzlich einen Lichtstrahl auf meinen Schoß fallen, als wenn die Sonne schiene. Ich hob den Kopf, um die Lichtquelle zu suchen, und erblickte drei gekrönte Frauen von sehr edlem Aussehen, die leibhaftig vor mir standen. … „Wir … sind gekommen, dir von einem Bauwerk ganz besonderer Art zu künden. Es wird der Umfriedung einer solide gemauerten und gebauten Stadt gleichen. Dir ist es bestimmt, es mit unserer Hilfe und unserem Beistand zu errichten. Bewohnen sollen es ausschließlich berühmte und vornehme Frauen, ferner solche, die es verdienen, gepriesen zu werden. … Dir, schöne Tochter, wird das Vorrecht zuteil, die Stadt der Frauen zu errichten, und wie aus klaren Brunnen wirst du aus uns drei Frauen frisches Wasser schöpfen, um den Grundstein zu dieser Stadt zu legen und sie zu vollenden. Wir werden dich reichlich mit Baustoff versehen, der fester und haltbarer ist als Marmor und Mörtel zusammen. Deshalb wird deine Stadt von einzigartiger Schönheit und immerwährendem Bestand auf dieser Welt sein. … Ich bin die edle Frau Vernunft; nun überlege, ob du dich in guter Obhut befindest.“

Nachdem jene hohe Frau ihre Rede beendet hatte, begann die zweite folgendermaßen: „Ich werde Rechtschaffenheit genannt, und meine Bleibe ist eher im Himmel als auf Erden. Aber als Strahl und Abglanz Gottes, als Botin seiner Güte, verkehre ich mit den gerechtigkeitsliebenden Menschen und halte sie dazu an, das Gute zu tun. … Dieses funkelnde Lot ist die gerechte Regel, die Recht vom Unrecht trennt und den Unterschied zwischen Gut und Böse anzeigt: wer ihr folgt, geht niemals fehl. … Es wird dir behilflich sein, die Berechnungen für den Bau der Stadt, mit dem du betraut bist, anzustellen. Du wirst es sehr wohl brauchen können, um das Innere der genannten Stadt zu konstruieren. … Meine Aufgabe ist es, dir beizustehen.“ Alsdann ergriff die dritte Frau das Wort, um folgendes zu sagen: „Teure Christine, ich bin Gerechtigkeit, die einzigartige Tochter Gottes, deren Wesen in Ihm seinen unmittelbaren Ursprung besitzt. … Meine einzige Aufgabe besteht darin, zu urteilen, zu schlichten und Frieden nach dem gerechten Verdienst eines jeden zu stiften. … Ich bin in Gott, Gott ist in mir, und wir sind wie Eins. Wer mir folgt, kann nicht fehlen, denn mein Weg ist sicher. …
Diese Waagschale aus feinem Gold hat Gott, mein Vater, mir gegeben; sie dient dazu, einem jeden das ihm Zukommende zu bemessen. Sie trägt das Zeichen der Lilie der Dreifaltigkeit, und bei allen Zuteilungen beweist sie Gerechtigkeit: niemand kann sich über mein Maß beklagen. … Wir, die drei vornehmen Frauen, sind wie ein einziges Wesen, denn die eine kommt nicht ohne die andere aus. Was die erste verfügt, ordnet die zweite an und setzt es in Gang, und dann führe ich es weiter und bringe es zum Abschluss. So haben wir drei Frauen beschlossen, dass ich dir bei den letzten Arbeiten an deiner Stadt behilflich sein soll. … Des weiteren werde ich deine Stadt mit würdigen Bewohnerinnen bevölkern und mit der vornehmen Königin, die ich dir zuführe und der die höchste Ehre und der höchste Rang unter den vornehmsten Frauen gebührt. … Und ganz zum Schluss werde ich dir die Schlüssel aushändigen.“

… „Wie kommt es, dass gerade mir diese Gnade zuteil wird und gerade ich, nach Euren Worten, damit betraut werde, in diesem Augenblick eine neue Stadt auf der Welt zu gründen?“ … Daraufhin antwortete Frau Vernunft und sprach: „Jetzt fang an, Tochter. Lass uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinaus aufs Feld der Literatur gehen: dort soll die Frauenstadt auf einem fetten und fruchtbaren Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen, sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art. Nimm die Spitzhacke deines Verstandes, grabe tief und hebe überall dort einen tiefen Graben aus, wo es mein Lot dir anzeigt.“

aus:
Das Buch von der Stadt der Frauen
© 1986 Orlanda Frauenverlag Berlin

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