Ausgabe 1 / 2020 Material von Dorothee Sölle

Staunen

Der Beginn einer mystischen Reise

Von Dorothee Sölle


Die Stationen einer heutigen Reise gehen ineinander über wie die der alten Reisen. Ich nenne sie Staunen, Loslassen und Widerstehen.


Der erste Schritt auf dem mystischen Weg ist das Staunen. Als mein ältester Sohn die Zahlen lesen lernte, blieb er vor einem Haus auf der Straße stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Als ich ihn mit „Komm doch!“ weiterziehen wollte, sagte er: „Mama, guck doch, diese wundervolle Fünf-hundert-sieben-und-dreißig!“ Ich hatte sie natürlich noch nie gesehen. Er sprach die Zahl langsam, tastend, entdeckend. Er war versunken im Glück. Ich denke, dass jede Entdeckung der Welt uns in einen Jubel stürzt, in ein radikales Staunen, das die Schleier der Trivialität zerreißt. Nichts ist selbstverständlich! Und am wenigsten die Schönheit.


Der erste Schritt des mystischen Weges ist eine via positiva. Er geschieht im Urbild der in Gott blühenden Rose. Der Jubel des Fünfjährigen antwortet auf die Erfahrung des „radical amazement“, wie Abraham J. Heschel (1907-1972) diesen Ursprung unseres In-Beziehung-Stehens nennt. Ohne dieses überwältigte Staunen angesichts dessen, was uns in Natur und den Befreiungserfahrungen der Geschichte begegnet, ohne die erfahrene Schönheit, die auch auf einer verkehrsreichen Straße, in einer blauweißen Hausnummer sichtbar werden kann, gibt es keinen mystischen Weg, der zur Einigung führen kann. Staunen heißt, wie Gott nach dem sechsten Tag die Welt wahrnehmen und neu und zum ersten Mal sagen können: „Und siehe, es war alles sehr gut!“

Es genügt aber nicht, das Staunen nur als Glückserfahrung zu benennen. Es hat auch seine dunkle Seite des Entsetzens und der Ausweglosigkeit, die sprachlos macht. Gegen dieses Dunkel versuchten sich schon die Griechen mit einem Verbot des Anstaunens, das Horaz in das Motto „nihil admirari“ fasst, zu wehren. Aber dieses Verbot, mit dessen Hilfe das wissenschaftliche Denken einst die Angst vor der Angst bannen sollte, hat mit den Dämonen auch alle Engel verbannt, mit dem gelähmten Schrecken auch das Staunenkönnen verlernt. […]


Die Seele braucht das Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich machen, um uns lagern. Dass wir ein Berührtwerden vom Geist des Lebens brauchen, dass ohne Staunen, ohne Begeisterung nichts Neues beginnen kann, scheint vergessen. „Ohne Begeisterung“, so der Goethefreund Herder, „geschah nichts Großes und Gutes auf der Welt. Die man für Schwärmer hielt, haben dem menschlichen Geschlecht die nützlichsten Dienste geleistet.“ Gerade an diesem Punkt hat die christliche Religion heute – in einer Welt, die ein kosmisches Bewusstsein wissenschaftlich ermöglicht, und in der es zugleich möglich ist, die Schöpfung ungeschehen zu machen – von ihrem eigenen Ursprung in der jüdischen Tradition zu lernen.

Das bedeutet für den Anfang der Reise, dass wir den Weg nicht als Suchende beginnen, sondern als Gefundene; die erfahrene Güte ist uns allemal voraus. Noch vor – im ontologischen, nicht unbedingt im chronologischen Sinn – der Bitte dessen, der sich verlassen und verbannt fühlt, steht das Lob, ohne das er oder sie sich gar nicht als Verbannte wüsste. […]

Staunen oder Verwunderung ist eine Art, Gott zu loben, auch wenn sein Name nicht genannt wird. Im Staunen schließen wir uns, ob mit oder ohne Wissen, den Himmeln an, die „des Ewigen Ehre rühmen“ (Psalm 19,2).

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