Alle Ausgaben / 2004 Material von Cornelia Gerlach

Stefan der Spieler

Von Cornelia Gerlach

 

Stefan ist nicht da. Aber dies ist ein Laden, in dem er gerne verkehrte. Ein Buchmacher. „Sportwetten“ steht über der Tür. Im Halbdunkel sitzen Männer, und ihre Gesichter sind konzentriert als wären sie in einer wichtigen Konferenz. Überall sind Bildschirme. Darauf: Pferde. Trabend und galoppierend. Beim Rennen.

Mit 17 trat Stefan zum ersten Mal hier ein. Er spielte ein bisschen. Verlor. Und kam wieder, gepackt von dieser Atmosphäre, diesem Flair, gepackt von der Lust, sein Geld auf bestimmte Pferde zu setzen und dann vor dem Monitor zu zittern, ob sie gewinnen. Noch 1000 Meter. Noch 100. Die Stimme des Moderators rattert durch den Raum. Die Männer spannen die Muskeln. Reiter schlagen die Pferde mit der Peitsche, los, mach schon, rufen die Männer, jaaaa, noch 50 Meter, lauf, verdammt nochmal, lauf, du schaffst es. Oh, nein!

„Es ist eine Welt für sich“, erzählt Stefan. Und man spürt: Er erzählt gerne davon. Er mochte die Typen, die sich in dieser Szene bewegen. „Ich habe Leute getroffen, die mit den Tausendern nur so um sich geschmissen haben – vom Zuhälter bis zum Kriminellen. Die haben mir auf die Schulter geklopft. Ich war zwar nicht wirklich einer der ihren, aber ich war anerkannt als Wetter.“

Er schwänzte die Schule. Er zog sich von den Freunden zurück. Er lernte zu lügen. Bald hatte er sich eine zweite Existenz aufgebaut, „wie in einem Spionagefilm“, sagt er. Diese Buchmacherläden waren die Welt, in der er der sein konnte, der er meinte sein zu wollen.

Stefan ist heute 31. Er studiert Germanistik und Geschichte. Eigentlich hätte er längst Examen gemacht haben können. Stattdessen hat er Schulden. Und zwar reichlich. Wohl an die 100.000 Euro hat er in den vergangenen Jahren beim Buchmacher gelassen. Einen Teil davon hat er redlich wieder reinverdient, mit Zeitungsaustragen, als Wachschutz, als Verkäufer im Kaufhaus. Aber viel davon ist geliehen. „Es macht einen fertig. Ich will nicht sagen: Ich bin ein Versager, ich habe noch nichts auf die Reihe bekommen, und an der Uni bin ich seit zehn Jahren eingeschrieben und war nie in einem Seminar.“ Wobei: Nie stimmt nicht. Die erste Woche von jedem Semester hat er es probiert. Und jedes Mal gedacht: Jetzt packst du´s. Und jedes Mal in der zweiten Woche schon wieder versagt.

So raste er auf den Abgrund zu. Hat erst einen Monat nicht die Miete bezahlt, dann zwei, drei, vier. Sein Telefon wurde abgestellt. „Ich wusste“, sagt Stefan, „dass, wenn ich verliere, mir die Hölle droht. Und trotzdem bin ich spielen gegangen. In der Hoffnung, dass ich gewinne. Aber der Verlust, der in viel häufigerem Maß vorkam, war sehr, sehr erniedrigend.“ Irgendwann waren die Freunde dann fertig mit der Uni. Ziemlich zur gleichen Zeit war Stefan fertig mit der Welt. Sein Kartenhaus brach zusammen.
Erst jetzt offenbarte sich Stefan, schwor sich und allen, nie wieder zu spielen, und begann eine Psychoanalyse. In dieser Zeit fing er tatsächlich an zu studieren, und eine ganze lange Weile sah es so aus, als habe er die Sucht im Griff. Und dann ging seine Beziehung in die Brüche. „Wette einfach ein bisschen“, habe er sich da gesagt, erzählt er, „das hilft dir vielleicht, nicht nachzudenken, was dir Kummer macht und was dich stört.“
Um Abstand zu gewinnen und sich was Gutes zu tun, kaufte er sich ein Flugticket nach Irland. Fünf Tage hat es gedauert, da hatte er den letzten Penny verspielt. Was wirklich in Irland passiert ist, hat Stefan niemandem erzählt. Und auch nicht, dass er danach wieder „drauf“ war. Er tat so, als sei alles wie in den Monaten davor: Als sei er clean und ginge fleißig an die Uni. Auch die Analyse setzte er fort. Seiner neuen Freundin erzählte er alles über seine Sucht: Wie er angefangen hat zu spielen und immer weiter gespielt hat und dann nicht mehr aufhören konnte, obwohl das Geld längst alle war und die Schuldenberge wuchsen, und wie er irgendwann am Ende war und dachte, Schluss jetzt, ich spring zum Fenster raus, aber sich dann doch nicht traute, sondern weiter machte bis überhaupt nichts mehr ging und er sich offenbaren musste und die Psychoanalyse anfing. Und wie viel er dabei gelernt habe. Er erzählte ihr auch, was die Warnsignale sind und woran man erkennt, dass einer spielt. „Alles habe ich ihr erzählt. Nur  nicht, dass ich wieder spiele.“

Ein Jahr ging das so, dann ging es nicht mehr und Stefan musste sich erneut offenbaren. Aber wieso, um alles in der Welt, hat er nicht einfach viel früher aufgehört? Stefan zitiert den Satz, der an wohl jedem Spieler nagt. Der heißt: „Vielleicht hätte ich am Ende doch gewonnen.“

© bei der Autorin

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