Alle Ausgaben / 2012 Andacht von Hanne Finke

Still werden

Andacht zum Schweigen

Von Hanne Finke

Vorbereitung: Klangschale, Mitte mit Kerze, eine leere Schale, eine Blüte oder ein Zweig

Lied
Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr, Gott hält sich nicht verborgen (EG 452)

Schrifttext
Im Jesajabuch, 50. Kapitel, Verse 4+5 lesen wir in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache:

„Gott weckt mir jeden Morgen das Ohr, damit ich höre wie die Lernenden. Die Macht über uns, Gott, hat mir das Ohr geöffnet.“

Jeden Morgen, jeden Tag, auch heute, weckt mir Gott das Ohr, weckt uns das Ohr. Ich bitte Sie nun, sich einen Moment in der Stille, möglichst mit geschlossenen Augen, diese Situation konkret vorzustellen: Gott weckt mir mein Ohr! Wie ist das für mich?

Die Leiterin kennzeichnet mit der Klangschale den Beginn und – nach einigen Minuten – das Ende der Stille. Anschließend bittet sie die Teilnehmerinnen,
kurz zu erzählen: Wie haben Sie den göttlichen Weckruf erlebt? War es ein leiser Ruf von weit her, eine Vogelstimme, ein sanfte Berührung am äußeren Rand des Ohres? Oder etwas ganz anderes?

Gott weckt mir das Ohr
„Gott weckt mir das Ohr“ – Ich stelle mir bei diesem „Wecken“ ein Säuseln vor. Ich denke an eine Szene aus dem 1. Buch Könige, Kap 19. Elija fühlt sich bedroht, ist ratlos und allein, er braucht Gottes Zuwendung. Elija geht auf den Berg Horeb. Wir wissen, was dann geschieht. Da wird starker Wind, werden Beben und Feuer genannt – doch der Ewige findet sich nicht darin. Zu stark, zu mächtig sind diese Gewalten. Erst als Elija das Geräusch eines leisen Wehens wahrnimmt, wird er Gottes Anwesenheit gewahr. Dazu aber musste der Prophet warten, still werden. Wenn wir die Übersetzung von Martin Buber hinzuziehen, können wir uns diese Stille besonders gut vorstellen, es heißt dort: „Stimme verschwebenden Schweigens“.

Es braucht also nicht viel, um Gott nahe zu kommen, Gott zu begegnen. Und doch ist es für uns heute oft so schwer, in das Schweigen zu gehen. Ständig umgibt uns ein wechselnder Geräuschpegel. Und im Alltag erleben wir auch viel Geschwätzigkeit. Haben wir darüber das Hören verlernt? Suchen deshalb auch immer mehr Frauen und Männer heute nach Orten und Angeboten mit Stille und Schweigen? Wird das Wesentliche, das Wichtige im Leben dann wieder entdeckt?

Schweige und höre
Schweigen – was ist das eigentlich? „Schweige und höre, neige deines Herzens Ohr, suche den Frieden“, singen wir. Des Herzens Ohr neigen, das ist etwas anderes als mit dem Sinnesorgan Ohr zu hören. Vielleicht ist in dem eben gehörten Jesajatext ja auch dieses „Herzensohr“ gemeint, das Gott uns weckt?

Malen wir in Gedanken einmal so ein Herz-Ohr auf ein weißes Blatt Papier, was kann es von Gott hören? – Lassen Sie uns noch einmal eine kleine Weile schweigen und in dieses Herz hineinhören, oder besser noch: es uns von Gott wecken …

kurze Stille – wieder mit der Klangschale eingeleitet und beendet

Je öfter wir dieses kleine Schweigen in unser Leben, in unseren oft so gehetzten Alltag einbauen, desto selbstverständlicher wird es uns. Vielleicht haben Sie es eben selbst erlebt: In solchen kleinen Stille-Übungen geschieht etwas in uns, auch wenn es uns nicht immer gleich bewusst wird. Unser Hinhören, Hinwenden im Schweigen lässt eine Beziehung entstehen. Das gilt nicht nur für unsere Beziehung zu Gott. Ebenso ist es ja auch mit den sozialen Beziehungen in unserem Leben: Hören und Zuhören bereiten oft den Weg für Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen, ja, sie sind sogar eine unerlässliche Voraussetzung dafür.

Und schließlich ist auch die Beziehung zu mir selbst davon geprägt, dass ich in mein Inneres hineinhorche. Oft ist es aber so, dass ich mich nach einem vollen Arbeitstag fast von mir selbst getrennt erlebe. Oder ich komme in eine Konfliktsituation, in der ich gar nicht richtig in mich hineinspüre. Dann fühlt sich mein Herzohr taub an. Gelingt es mir aber in solchen Situationen, wenn auch nur für einen Moment, in eine Haltung der Stille zu kommen, bekomme ich wieder Kontakt zu mir. Ich eröffne mir die Möglichkeit, mich zu besinnen.

Diese Erfahrungen können wir auf die Beziehung zu Gott übertragen. Vielleicht haben Sie sich auch schon öfter gefragt, wie es Ihnen, aber auch anderen gelingt, eine Verbindung zu Gott zu finden? Bei meiner eigenen Suche erinnerte ich mich an eine vor langer Zeit gelesene Geschichte, in der eine Frau mit einem Priester (oder Rabbi) spricht und sagt, sie würde immerfort beten, aber sie könne Gott nicht hören, er antworte nicht. Seine Erwiderung war, sie könne Gott doch nicht hören, wenn sie ununterbrochen zu ihm spreche …

Die Frage nach der Gottesbeziehung durchzieht auch das Buch „Mystik und Widerstand“ von Dorothee Sölle, besonders eindrücklich in einem Kapitel über das Schweigen. Dorothee Sölle spricht von zwei Arten des Schweigens im Alltag – einmal einer gewissen Wortlosigkeit von Menschen, die zum Beispiel dann auftritt, wenn zwei Personen einander nichts zu sagen haben. Das andere Schweigen aber ist eines „nach dem Sprechen“, Schweigen aus Freiheit und Notwendigkeit heraus, ein „Fasten von den Wörtern“. Solches Schweigen gibt Raum für etwas, von dem ich nicht weiß, was daraus folgt. Das Raum-Geben setzt eine innere Haltung voraus. Dorothee Sölle beschreibt die ungewöhnlichen Erfahrungen von Mystikerinnen und Mystikern mit dem Göttlichen, die aus dem Schweigen heraus hören und sehen. Solche Erlebnisse sind nur unzulänglich oder annähernd mit unserer Alltagssprache zu benennen. Der Schriftsteller Aldous Huxley beschreibt das Schweigen als Hören der Seele auf Gott. Das würde für mich bedeuten, dass die Seele Gottes Stimme, Gottes Klänge, Gottes Gesang oder auch Gottes Mitschweigen wahrnehmen kann – so, wie wir es schon am Anfang von Elija gelesen haben: als „Stimme verschwebenden Schweigens“.

Unsere eigenen Erfahrungen mit dem Schweigen mögen vielfältig sein – manchmal gut, manchmal weniger gut. Der Pfarrer und Pastoralpsychologe Traugott J. Simon sagt, dass Schweigen zu unserem Leben gehört und unsere Lebendigkeit bedingt. Vielleicht können wir lernen, das Schweigen so zu betrachten – als in unser Leben gehörend, als Lebenspraxis. Können lernen zu schweigen – immer dann, wenn wir uns die Freiheit dazu nehmen oder es für uns notwendig ist. Hören wir! Neigen wir unseres Herzens Ohr!

Zum Nachsinnen kann noch einmal eine Stille sein. Das Lied „Schweige und höre“ leitet diese Stille ein, ihr Ende wieder die Klangschale.

Segen
Gesegnet sei unser Hören.
Gesegnet sei unser Tun und Lassen.
Gesegnet seien Worte und Klänge.
Gott, segne unser Schweigen. Amen.

Hanne Finke, 57 Jahre, ist Erzieherin und Diplompädagogin. Sie arbeitet in der städtischen Familien- und Sozialarbeit, ehrenamtlich ist sie die Landesbeauftragte im Frauenwerk der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw.

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