Ausgabe 2 / 2014 Artikel von Barbara Feichtinger

System gescheitert?

25 Jahre Friedliche Revolution

Von Barbara Feichtinger

Ich bin in der DDR aufgewachsen. 1989 war ich 30 Jahre alt, hatte ein Studium abgeschlossen, den gewünschten Beruf und eine Arbeitsstelle. Einfach so von Scheitern sprechen, wenn ich an die „Wende“ denke, das kann ich nicht.

Eine Gesellschaft machen die in ihr lebenden Menschen aus, mit ihren individuellen Lebensgeschichten, in ihrer Vielfalt und Vielschichtigkeit. In unserem Denken und Handeln sind wir nie nur „entweder – oder“, sind wir nie nur SozialistInnen, ChristInnen oder RegimegegnerInnen. Wir sind auch immer gleichzeitig etwas ganz anderes und noch mehr. Wir sind nicht nur auf eindeutigen Positionen, links oder rechts, grün, rot oder schwarz. Wir bewegen uns in fließenden Übergängen, oft im Grenzbereich des Dazwischen. Wenn ich jetzt etwas zu diesem „Scheitern“ der DDR schreibe und darüber, welche Auswirkungen es auf Menschen und ihre Schicksale hatte, dann schreibe ich aus meiner persönlichen Erfahrung, aus beruflicher Verankerung sowie aus der Vielschichtigkeit meines Denkens, Fühlens und Handelns.

Bei dem Wort „Scheitern“ fällt mir ein Bild ein: das Holzscheit. Holzscheite, aufeinander geschichtet zu einem „Scheiterhaufen“, um ein Feuer zu entfachen. Im Feuer verbrennt das Scheit – und wird in veränderter Form als Asche sichtbar. Vielleicht sind da noch Reststücke, die in der Glut liegen. Im Etymologischen Wörterbuch finden wir zu dem Verb „scheitern“ unter anderem folgende Übersetzungen: erfolglos sein, zugrunde gehen, in Stücke gehen. Diese Wort-Bedeutungen zeigen, dass mit „Scheitern“ etwas Tiefes, Existenzielles gemeint sein muss – so etwas wie: an eine Grenze kommen und daran zerbrechen. Es geht also beim Scheitern um mehr als nur darum, etwas nicht zum Ende zu bringen oder es nicht gelingen zu lassen.

1989 endet das DDR-Regime. Die Mauer fällt – und damit ist das sozialistische Gesellschaftssystem gescheitert. Durch viele innere wie äußere Zwänge, unwahre bis betrügerische parteipolitsche Propaganda, unaufrichtige Informationen durch die Medien, Kollektivierung und Enteignung weiter Bereiche der Landwirtschaft und Industrie konnte diese Gesellschaftsform nicht überleben. Für die meisten Menschen in der DDR war dieses „Scheitern“ des Systems in vielerlei Hinsicht auch ein persönliches „Scheitern“. Es zerbrachen die äußeren Strukturen und Verwaltungen, es zerbrachen Industriezweige und das Geld, Familien und eigene Wertvorstellungen, es zerbrachen personale Identitäten. Vieles, was bis dahin in Schule, Elternhaus und Staat an gesellschaftlichen Werten vermittelt wurde, war weg, verschwunden, hatte sich aufgelöst.1 Wenn ich jetzt darauf zurück blicke, weiß ich, dass in diesem „Scheitern“ auch die Glut lag, Neues zu entwickeln und weiterzugehen. Das werden diejenigen am besten verstehen, die das Nazi-Regime und den 2. Weltkrieg erlebt haben.

Ich bin in der DDR groß geworden und habe in meiner Erinnerung viele glückliche Momente. Die Erziehung in meiner Familie war zweigleisig. Meine Mutter war katholisch und hat diese Glaubensüberzeugung auch deutlich an uns Kinder weitergegeben. Mein Vater ist nach der Rückkehr aus vierjähriger russischer Kriegsgefangenschaft SED-Mitglied geworden. Seine Vision war es, ein besseres, friedvolles Deutschland aufzubauen. Er wurde Kommunist, und seine Vorstellungen und Einstellungen dazu spielten in unserem Leben eine wichtige Rolle. Für mich als Kind und Jugendliche war diese Doppelgleisigkeit kein Widerspruch. Im Gegenteil: Sie vermittelte mir ein Menschenbild der Bergpredigt und der kommunistisch-proletarischen Solidarität.

Wenn ich mich heute frage, was denn damals „gescheitert“ ist, dann ist es für mich der Glaube an eine gerechtigkeitsorientierte Grundordnung, die ich immer noch als Vision in mir trage. Gescheitert sind für mich Werte des sozialen Miteinanders, der Gemeinschaftsorientierung, der Solidarität und, bei allen Mängeln, der Emanzipation der Frauen. Verloren gegangen sind die freien Zugänge zu Bildung, das Recht auf Arbeit für alle, gerechter Ausgleich sozialer Grundbedingungen. In meiner Schulzeit lernte ich im Staatsbürgerkundeunterricht, der Kapitalismus sei ein Rückschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung. Das fühle ich bis heute.

Was tue ich, wie versuche ich damit umzugehen? Das „Neue“ des Zusammenwachsens zu einem deutschen Staat hat sich vollzogen und ist weithin gelungen. Dennoch bleiben Ambivalenzen – in mir, in uns, in Ihnen. Was bedeutet das „Scheitern“ gefühlsmäßig für die einzelne, für den einzelnen? Zugrunde liegt ein Verlust, den ich betrauere. Ich denke dabei an das schnelle Umschlagen der Demonstrationen von „Wir sind ein Volk“ zu „Deutschland einig Vaterland“. Es gab keine ausreichende Kraft, keine Geduld auszuhalten, nach Wegen zu suchen, wie eine politische, eine gesellschaftliche Einigung der beiden so unterschiedlichen Teile Deutschlands aufrichtig gestaltet werden könnte. Wut über die DDR, die so geworden ist: ein Staat, der sich aus Lügen zusammensetzt und aus einseitiger Propaganda. Wo ich doch etwas anderes vom Sozialismus erwartete – Solidarität mit allen Völkern, Bemühen um einen Weltfrieden, gleiche Rechte für alle – Angst vor Stasi-Spionage und Wut über den Eingriff in unsere ganz persönliche Freiheit. „Angst und Misstrauen sind zur unreflektierten, natürlichen Selbstverständlichkeit des Alltags geworden. Sie wirken in alle sozialen Beziehungen der Öffentlichkeit hinein: Betrieb, Kollegentreffs, Seminargruppen, Gaststätte, Freundes- und Friedenskreis, Telefonseelsorge.“2 Wut auch über die Gier der Menschen, die sofort die D-Mark wollten. Wut darüber, dass ganze Berufszweige verloren gingen, Ausbildungen nicht anerkannt wurden, zeitweise der Zweifel, ob unsere Schulabschlüsse Gültigkeit behalten. Das macht etwas mit jedem Menschen. Es nagt am Selbstwertgefühl und schürt Empfindungen von Ungerechtigkeit, Angst und Resignation, bisweilen auch Verzweiflung, weil daran ganze Lebensentwürfe gescheitert sind.

Seit 1998 arbeite ich in einem Frauen-BildungsHaus in Dresden. Ganz hautnah konnte und kann ich bis heute erleben, wie diese Verzweiflung um sich greift. Frauen mit Hochschulabschlüssen, zu DDR-Zeiten erworben, leben seit über 20 Jahren als Arbeitslose und retten sich über die eine oder andere Maßnahme. Wir unterhalten in unserer Einrichtung eine Beratungsstelle für langzeiterwerbslose Frauen. Mit besonderem Blick auf die psychosozialen Auswirkungen der langen Erwerbslosigkeit ermöglichen wir den Frauen, ihre bisher nicht ausgesprochenen, heruntergeschluckten Emotionen, die dieses „Scheitern“ betreffen, auszudrücken und bearbeiten zu lernen. Unterstützung ist angesichts dieses subjektiven Unrechts notwendig und geschieht durch Beratung und Therapie, um gemeinsam die Glut, das letzte verkohlte Stück des Scheits wieder zu entfachen. Dabei helfen unterdessen auch spezifische Beratungsstellen für Diktaturfolgen.3

Wir können nicht im „Scheitern“ stecken bleiben. Wir haben die Aufgabe und die Verantwortung für uns selbst und die kommende Generation, aus der Asche aufzusteigen, wie ein Phönix. Dafür ist es notwendig hinzuschauen, auszusprechen und zuzuhören.4

Wir als DDR-BürgerInnen sind stolz auf die friedliche Revolution, die ohne Blutvergießen und Waffengewalt vollzogen wurde. Mit Licht und Kerzen und einer großen Menge von Menschen, die sich jeden Montag versammelt hat, ist tief greifende Veränderung möglich gewesen. Vorbereitet von den Kirchen, die durch ihren Konziliaren Prozess Jahre zuvor begonnen hatten, dieses System kritisch zu betrachten und die Menschen wach werden zu lassen für eine gerechte Gesellschaft und den Einsatz für die eigene Freiheit. Wenn ich daran denke, wächst tiefe Dankbarkeit in mir. Dankbarkeit, diese Zeit wach und engagiert miterlebt zu haben. Erfahren zu haben: Es ist möglich, ein System zu verändern, auch ohne kriegerische Auseinandersetzung.

Es gibt viel Beglückendes, Befreites in meinem Leben innerhalb der letzen 25 Jahre im gemeinsamen Deutschland. Intensive Freundschaften mit Menschen aus „dem Westen“ sind entstanden. Mein berufliches Leben konnte ich neu und anders fortsetzen. Die feministische Bewegung hat nach der Wende einen neuen Aufbruch genommen, mit dem Engagement der Gründerinnen entstanden Frauenprojekte. Gleich 1990 forderten wir – mit Erfolg – in Dresden innerhalb der Stadtverwaltung die Stelle einer Gleichstellungsbeauftragten. Vor fünf Jahren, 20 Jahren nach der friedlichen Revolution, entstand im FrauenBildungsHaus Dresden die Idee zu einem spannenden Projekt: Zwölf Frauen, aus Ost und West, haben sich ein halbes Jahr lang mit Methoden des kreativen Schreibens und künstlerischen Gestaltens mit dem Thema „Wende“ auseinandergesetzt. Die Arbeiten sind in einer Dokumentation zusammengefasst; sie geben ein ganz persönliches Zeugnis von Scheitern und Neubeginn.5

Unsere Aufgabe heute ist es, die verloren geglaubten Visionen und Werte neu zu beleben oder wach zu halten und öffentlich zu machen. So sind etwa Ganztagsschulen, Ärztehäuser und Kinderbetreuungseinrichtungen keine neuen Erfindungen, sie waren in der DDR bereits realisiert. Manchmal würde es schon ausreichen, derartiges im öffentlichen Raum zu erwähnen. Damit wäre ausgedrückt: Es gab uns, und wir werden mit unserer Vergangenheit ernst genommen. Wir, die Menschen der ehemaligen DDR, haben eine 40jährige Geschichte – und Erfahrungen, die uns von den Menschen im Westteil unseres Landes unterscheiden.

Für mich bringt der Theologe Eugen Drewermann es auf den Punkt: „Denn Punkt für Punkt werden insbesondere ‚Die Seligpreisungen' der Bergpredigt all die Formen menschlicher Erniedrigung aufgreifen und durchgehen – all das, wovor wir für gewöhnlich uns fürchten und was wir mit allen Kräften zu vermeiden trachten. Mögen wir in den Augen unserer Mitmenschen oder sogar schon in unseren eigenen Augen auch noch so erbärmlich da stehen – wenn wir es nur erst wagen, uns zu dem zu bekennen, was wir wirklich sind, beginnt eine unerhörte stille Revolution der gesamten Lebenseinstellung, und was ehedem noch wie ‚Verflucht' erschien, kehrt nun zurück in den Frieden eines verlorenen Paradieses.“6

Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel
Verflechtungen des eigenen Lebens mit (schmerzlichen, verstörenden) gesellschaftlichen Umbrüchen reflektieren; Respekt vor den Lebensentwürfen und -leistungen anderer, auch wenn sie „gescheitert“ sind

Material
gestaltete Mitte: Ziegelsteine für angedeutete Mauer; Holzscheite (mind. in Anzahl der TN) locker verteilt; ggf. große feuerfeste Schale; Zettel und Stifte

Ablauf
2014 – 25 Jahre Wende, Friedliche Revolution, Fall der Mauer:
Wo war ich an diesem Abend? – im Raum aufstellen; jede sagt einen Satz dazu und setzt sich wieder in den Kreis
Wo sind meine Berührungspunkte mit Teilung / Wiedervereinigung Deutschlands? – Austausch
Wann, wie, wo bin ich nach der Wende in Kontakt mit Menschen aus Ostdt./aus Westdt. gekommen? – eine Erfahrung dabei kurz benennen

Scheitern des Systems DDR: Was bedeutet das für mich persönlich? – Jede schreibt 3-5 Schlüsselwörter, die ihr dazu in den Sinn kommen, auf einen Zettel; Wörter werden (unkommentiert!) vorgelesen, die Zettel dann in die Mauer gesteckt; die Leiterin informiert kurz über das Projekt des FrauenBildungsHauses Dresden (s.o.) und fügt den Text von Anke Rödiger (geb. 1961, in der DDR aufgewachsen, Erwachsenenbildnerin) hinzu (evtl. auch den weiteren Text S. 43):

scheitern
schein vom selbst
übrig geblieben
ostseele
der westseele
zugewandt
fremd

Holzscheite – Symbol des Scheiterns: Bei großen gesellschaftlichen / politischen Umbrüchen gehen für viele auch bisherige Lebensentwürfe „in Stücke“: Wo gibt es in Ihrem Leben oder in der Geschichte Ihrer Familie Erfahrungen damit – und wie wurde mit dem „Scheitern“ umgegangen? Was dabei (welche Haltung, welche Äußerung, welches Verhalten) flößt mir Respekt ein? – Jede nimmt eins der Scheite aus der Mitte; in Stille nachdenken (5-10 Minuten)

Dann werden die Scheite in der Mitte zusammengetragen und zu einem „Scheiterhaufen“ (ggf. in der feuerfesten Schale) geschichtet – wer will, kann dabei etwas zu den eigenen Erfahrungen sagen.

Wo möglich, wird der Scheiterhaufen abgebrannt. Die TN betrachten gemeinsam die Glut (oder imaginieren das Feuer). –Impuls: Worin liegt die (meine) Kraft des Aufstehens aus der Asche, des Neubeginns?

Lied: Bewahre uns Gott (EG 171)

Barbara Feichtinger ist Religionspädagogin, Beraterin und Seelsorgerin. Sie arbeitet als Projektkoordinatorin und Vorstandsvorsitzende im FrauenBildungsHaus Dresden e.V. – mehr unter www.frauenbildungszentrum-dresden.de Mitarbeit am methodischen Teil: Margot Papenheim

Anmerkungen
1) Vgl. z.B. Sabine Rennefanz: „Eisenkinder“ – Die stille Wut der Wendekinder, München (Luchterhand) 2013
2) Norbert Peikert: Psychosoziale Beratung für Betroffene von Systemunrecht und Gewaltherrschaft, Ev. Theologie 70. Jg. Heft 2, S. 149
3) (Wie) Ist Heilung von Erinnerung möglich? Dokumentation, Hg: Institut für Diktatur Folgen Beratung, Mecklenburger Str. 38, 19053 Schwerin
4) Ich schreibe mein Leben – Kriegsfolgen im Frieden. Frauen der Wende erzählen Familiengeschichten, hg. von Ursula Pfäfflin, Andrea Siegert, Heidrun Novy, biographieVERLAG 2013
5) Biographieprojekt WENDE.PUNKT – eine Initiative der Sächsischen Staatsregierung und des Frauen-BildungsHauses Dresden e.V.
6) Eugen Drewermann: Das Matthäus-Evangelium, Bilder der Erfüllung 1. Teil, Walter-Verlag 21992, S. 386

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