Alle Ausgaben / 2008 Material von Christa Wolf

Tabula rasa

Von Christa Wolf


Leisten wir uns ein Gedankenexperiment. Eine Kraft, nicht näher zu bezeichnen, lösche durch Zauberschlag jede Spur aus, die sich durch Lesen von Prosabüchern in meinem Kopf eingegraben hat.
Was würde mir fehlen?
Die Antwort ist nicht nur mörderisch; sie ist auch unmöglich. Wenn einer sie geben könnte, wüsste man Genaueres über die Wirkung von Literatur.

Beginne ich in mir abzutöten:das makellose, unschuldig leidende Schneewittchen und die böse Stiefmutter, die am Ende in den glühenden Pantoffeln tanzt, so vernichte ich ein Ur-Muster, die lebenswichtige Grundüberzeugung vom unvermeidlichen Sieg des Guten über das Böse. Ich kenne auch keine Sagen, habe mir nie gewünscht, an der Seite des hürnenen Siegfried dem Drachen gegenüberzutreten; niemals bin ich vor einem Rauschen im finsteren Wald erschrocken: Rübezahl! Die Tierfabel habe ich nie gelesen, ich verstehe nicht, was das heißen soll: „listig wie ein Fuchs“, „mutig wie ein Löwe“. Eulenspiegel kenne ich nicht, habe nicht gelacht über die Listen der Schwachen, mit denen sie die Mächtigen besiegen. Die sieben Schwaben, die Schildbürger, Don Quijote, Gulliver, die Schöne Magelone -hinweg mit ihnen. Weg mit dem ohnmächtig donnernden Zeus und der Weltesche Yggdrasil, weg mit Adam und Eva und dem Paradies. Nie ist eine Stadt mit Namen Troja um einer Frau willen bestürmt und eingenommen worden. Nie hat ein Doktor Faustus mit dem Teufel um seine Seele gerungen.

Arm, ausgeplündert, entblößt und ungefeit trete ich in mein zehntes Jahr. Brennende Tränen sind ungeweint geblieben; der Hexe im Märchenbuch wurden nicht die Augen ausgekratzt; die jubelnde Erleichterung über die Rettung eines Helden habe ich nicht kennen gelernt; nie bin ich zu den phantastischen Träumen angeregt worden, die ich mir im Dunkeln erzähle. Ich weiß nicht, dass Völker verschieden sind und doch einander ähnlich. Meine Moral ist nicht entwickelt, ich leide an geistiger Auszehrung,  meine Phantasie ist verkümmert. Vergleichen, urteilen fällt mir schwer. Schön und hässlich, gut und böse sind schwankende, unsichere Begriffe.
Es steht schlecht um mich. Wie soll ich ahnen, dass die Welt, in der ich lebe, dicht, bunt, üppig, von den merkwürdigsten Figuren bevölkert ist? Dass sie voller Abenteuer steckt, die ausgerechnet auf mich gewartet haben? Kurz: der Gang zu den Müttern hat nicht stattgefunden, aus den Quellen ist nicht getrunken worden, das Maß für Menschen und  Dinge wurde nicht gesetzt.
Tabula rasa. Ich bin am Ende. Mit den Wurzeln  ausgerissen, ausgelöscht in mir eines der größten Abenteuer, die wir haben können: vergleichend, prüfend, sich abgrenzend allmählich sich selbst sehen lernen. Sich messen an den deutlichsten Gestalten aller Zeiten. Nichts davon. Verblasst das Zeitgefühl, da es nicht wirklich geweckt wurde. Die eigenen Konturen, anstatt deutlicher zu werden, lösen sich auf;
das Bewusstsein, anstatt sich zu klären, verschwimmt. Die Verwilderung wird zunehmen.
Nicht nur meine Vergangenheit ist mit einem Schlag geändert: meine Gegenwart ist dieselbe nicht mehr. Nun bleibt das Letzte zu tun: auch die Zukunft zu opfern. Ich werde niemals ein Buch lesen. Der Schrecken, der in diesem Satz steckt, berührt mich, den Nicht-Leser, nicht.

Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich.


Christa Wolf
aus:
Lesen und Schreiben
Aufsätze und Betrachtungen
(c) Aufbau-Verlag
Berlin und Weimar 1971

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang