Ausgabe 2 / 2011 Artikel von Eske Wollrad

Teilhabe ist Menschenrecht

Pflegebedürftigkeit als Behinderung anerkennen

Von Eske Wollrad


Empört berichtete die Presse vor einiger Zeit über schwerstbehinderte Säuglinge – ein Zwillingspärchen, das nur wenige Wochen nach der Geburt vom Krankenhaus ins Altenheim ziehen sollte. Und von einem 43-jährigen Hessen, der seit einem Unfall querschnittsgelähmt war und aus Kostengründen in ein Altenpflegeheim umziehen sollte.

„Fehlplatzierte“ nennt sie die Fachsprache. Ein Pflegeheim sei weit günstiger zu betreiben als ein altersgerechtes Behindertenwohnheim, sagt Wolfgang Urban, dessen Verein zur Förderung der Integration Behinderter sich gegen Fehlplatzierungen in Hessen einsetzt. „In Pflegeheimen beschränkt sich die Betreuung oft darauf, die Bewohner satt und sauber zu halten. Ansonsten sind sie sich selbst überlassen.“ Das Kostengerangel zwischen Kommunen und Pflegekassen gehe also zulasten der jungen BewohnerInnen, die aufgrund ihrer Behinderung Anspruch auf Eingliederungshilfe haben.

Aufschlussreich sind diese Berichte deshalb, weil sie einen Unterschied machen, der in unserer Gesellschaft als selbstverständlich gilt: den zwischen pflegebedürftigen „Behinderten“ und pflegebedürftigen „Alten“.

Aber sind pflegebedürftige Alte nicht auch behindert? Und können pflegebedürftige Behinderte nicht auch alt sein? Beleuchten wir die Konstruktionen von „Alter“, „Pflegebedürftigkeit“ und „Behinderung“ einmal genauer und fragen: Welche Körpernormen stehen eigentlich dahinter?


Was heißt denn hier behindert?

Körperliche Beeinträchtigungen können in jedem Lebensalter auftreten. Sie werden nur in unserer Gesellschaft unterschiedlich eingeordnet und bewertet. Kaum jemand würde mit einer vierzigjährigen Brillenträgerin eine körperliche Beeinträchtigung assoziieren, wenn sie hingegen ein Hörgerät trägt, ist es schon nicht mehr so eindeutig.

Der Mythos von einer gradlinigen Körperentwicklung prägt die Wahrnehmung. Er setzt den Verlauf vom gesunden Wachsen und Gesundsein im Erwachsenenalter zur zunehmenden Gebrechlichkeit im höheren Alter voraus. Folglich gilt Behinderung im Kindes-, Jugend- und früheren Erwachsenenalter als Abweichung, im höheren Alter hingegen als normal, eben „altersbedingt“. Begriffe wie „Gebrechlichkeit“, „Siechtum“ oder „Pflegebedarf“ sind mit Vorstellungen vom Alter verknüpft, alle anderen Lebensphasen scheinen „natürlich“ mit Gesundheit verbunden.

Das Sozialgesetzbuch (SGB) IX, in Kraft getreten im Juli 2001, definiert in Paragraph 2, Absatz 1, was unter Behinderung zu verstehen ist: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (Hervorhebung E.W.) Der Gesetzgeber setzt voraus, dass es für jedes Lebensalter einen typischen körperlichen Zustand gibt – nur wenn er nicht dem Typischen entspricht, liegt eine Behinderung vor. Da aber statistisch gesichert ist, dass mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit des Auftretens körperlicher Beeinträchtigungen ansteigt, gelten diese dann unter Umständen nicht als Behinderung.


Was heißt denn hier NORMal?

Das SGB IX beruht auf der Idee, dass jeder Altersstufen eine bestimmte körperliche Verfasstheit entspricht und setzt die Norm des alten Körpers, der zufolge Beeinträchtigungen im Alter eine gewissermaßen natürliche Begleiterscheinung sind und hingenommen werden müssen wie das Wetter, „obwohl zumindest in Fachkreisen bekannt ist, dass entsprechende Risiken auch auf soziale Umstände wie etwa die Schichtzugehörigkeit zurückführbar sind.“(1) Diese Norm hat gravierende Folgen sowohl bezüglich der medizinischen Behandlung als auch der Möglichkeit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der 6. Altenbericht, vorgelegt 2010, konstatiert unumwunden: „Auch werden Gesundheitsbeschwerden im Alter von Professionellen (wie auch von den Betroffenen selbst) oft als altersgemäß eingestuft und weniger als Zeichen von Krankheit angesehen, was mit unterschiedlichen Behandlungsentscheidungen verbunden ist.“ Hinsichtlich der hausärztlichen Versorgung ist festzustellen: Es „ist ein Maximum ärztlicher Bemühungen im mittleren Alter zu beobachten, während bei den über 90-Jährigen durchgehend die wenigsten Leistungen erbracht wurden.“ (165)

Das SGB IX verknüpft in seiner Definition Behinderung mit der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft – ein wichtiger Punkt, dem die Erkenntnis zugrunde liegt, dass Körperverfasstheiten etwas mit dem Sozialen zu tun haben und dass Behinderten die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht verwehrt werden darf – bestimmten pflegebedürftigen alten Menschen allerdings schon.

Im Jahr 2004 klagte eine ältere pflegebedürftige Frau, die in einem Heim lebt, auf Kostenerstattung für einen Lagerungsrollstuhl, der ihr Mobilität ermöglichte. Das Bundessozialgericht lehnte den Anspruch ab, da die Frau zur Teilhabe nicht mehr fähig und nur noch „Objekt der Pflege“ sei. Der Jurist und Experte auf dem Gebiet des Pflegerechts Felix Welti kritisiert das Leitbild des Sozialgesetzbuchs, wonach Pflegebedürftigkeit und Teilhabe einander ausschließen. Menschen werden in zwei Schubladen einsortiert: Auf der einen steht „pflegebedürftig“, „Hilfe zur Pflege“ und „Pflegeeinrichtung“, auf der anderen steht „behindert“, „Eingliederungshilfe“, „Behinderteneinrichtung“. Alte Menschen mit Pflegebedarf, die eine vermeintlich typische Behinderung aufweisen, werden flugs in die Pflegeschublade eingeordnet und entsprechend behandelt. Die Maßgabe „satt und sauber“ hat nichts mit der Qualität eines Pflegeheims zu tun, das Problem besteht vielmehr darin, dass eine Regelung, wonach stationäre Pflegeeinrichtungen über die Pflege hinaus Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erbringen müssen, nicht existieren. Im Sozialgesetzbuch Kap. XI ist von der „sozialen Betreuung“ und „Versorgung“ die Rede – ohne Konkretisierung. Felix Welti schreibt: „Damit begründet das SGB XI in seinem Leistungserbringungsrecht eine Trennung von Pflege und Teilhabe, die sachlich kaum zu begründen ist.“

Vielleicht gibt es ja doch einen Grund für diese Trennung: Ageismus. Dieser Begriff meint die strukturelle Gewalt gegen Menschen aufgrund ihres Alters (age). Alte Menschen, wenn sie nicht mehr zu den Best-Agers zählen, die munter für Kommune und Kirchengemeinde ehrenamtlich arbeiten, sind der neoliberalen Verwertungslogik zufolge nutzlos und teuer. Sie sind nur noch da, pure Körper, die versorgt werden, wie man eine Maschine wartet. Unabhängig davon, wie freundlich und zugewandt Pflegepersonal aus sein mag – Pflegeberufe sind nach heutigem Ausbildungsstand für die Rehabilitation, die auf Teilhabe zielt, nicht umfassend fachlich qualifiziert. Es fehlen vor allem pädagogische Fachkenntnisse, die oftmals dem Teilhabeziel angemessener sind als medizinische und pflegerische. Der Fehler liegt somit im System:
Im Gesetz ist das Recht auf Teilhabe pflegebedürftiger (alter) Menschen nicht vorgesehen, diese Menschen sind lediglich „Objekte der Pflege“.


Teilhabe ist Menschenrecht

Bislang ist die Möglichkeit der Teilhabe ein Privileg bestimmter Menschen. Im Jahr 2009 ratifizierte Deutschland nach jahrelangem Sträuben endlich die „Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen, die die bereits bestehenden Menschenrechte behinderter Menschen konkretisiert. Die Konvention spricht nicht wie bislang in Deutschland üblich von Integration, sondern sozialer Inklusion. Das bedeutet, dass Behinderte im vollen Umfang auf allen Ebenen an allen gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen und dabei ihre Autonomie und Unabhängigkeit wahren können. Dabei muss sich die Gesellschaft auf die Bedürfnisse der Behinderten einstellen und nicht umgekehrt die Behinderten ihre Bedürfnisse an den Notwendigkeiten der Gesellschaft ausrichten.

Im Artikel 3 ist von der vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft die Rede und von der Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und der Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit. Die Konvention wendet sich damit gegen die Gesundheitsfixierung, durch die all diejenigen an den Rand gedrängt werden, deren Körper nicht der gesellschaftlichen Norm von „Gesundheit“ entsprechen.

Artikel 19 legt fest, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Zudem haben sie das Recht auf Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten und persönliche Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist. Was wäre, wenn diese Rechte auch für alte Pflegebedürftige gälte?


I have a dream …

Was wäre, wenn Pflegebedürftige, von denen die große Mehrheit hochaltrig ist, die gleichen Rechte hätten wie Behinderte? Die Gebrechlichen hätten ein Recht auf Leben und umfängliche soziale Inklusion. Ihre Autonomie und Unabhängigkeit wären unbedingt zu wahren. Pflegebedürftige würden respektiert und geachtet als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit. Die Gesellschaft hätte sich auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen einzustellen – und nicht umgekehrt. Pflegebedürftige könnten ihren Aufenthaltsort frei wählen und entscheiden, wo und mit wem sie leben, und sie wären nicht verpflichtet, in besonderen Wohnformen zu leben. Zudem hätten sie das Recht auf Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten und persönlicher Assistenz. Es gäbe keine Fehlplatzierten mehr, keine Reduktion auf „satt und sauber“. Alte Pflegebedürftige wären den ganzen Tag von Menschen umgeben, die ihre Würde achten und sie als wertvollen Teil der Menschheit ansehen. Die alte Frau könnte sich in ihrem Lagerungsrollstuhl von ihrem Assistenten gemütlich durch die Gegend rollern lassen – „Objekte der Pflege“ gäbe es nicht mehr.


Die Hinkende zum Anfang machen

Der Prophet Micha fasst eine der großartigsten Friedensutopien des Ersten Testaments in Worte: „Ich werde die Hinkende zum Anfang machen, und
die Kranke zu einem mächtigen Volk. Regieren wird Adonaj über sie auf dem Berg Zion von jetzt an und für immer.“ (Micha 4,7; Übersetzung von Ulrike Bail) Nach Zerstörung und Exil verkündet Micha einen Neubeginn für den „Rest“, die Überlebenden, die keinen Ort mehr haben. Seine Vision vom mächtigen Volk hat nichts mit Triumphalismus zu tun – „wer hinkt, kann nicht im militärischen Gleichschritt gehen“, sagt Ulrike Bail.(2) Der Neubeginn ist ein hinkender, kranker, erschöpfter. Diejenigen, die keinen „fitten“ Körper haben, bestimmen das Tempo.

In der biblischen Vision bilden die Behinderten und die Kranken den Maßstab für eine Zeit, in der alle Menschen friedvoll miteinander leben. „Ins Zentrum eines Neubeginns werden die an den Rand gedrängten und verschwiegenen Menschen gerückt – ihr hinkendes Gehen und ihre Perspektive prägen die Hoffnung auf eine Zeit und einen Raum, in dem Frieden lebbar wird.“ (Bail)


Wirklichkeiten

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist zwar rechtskräftig, aber bei weitem nicht umgesetzt. Behindertenverbände kämpfen nach wie vor für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, denn Teilhabe ist für sie längst nicht garantiert. Schlimmer noch, es ist zu befürchten, dass Schwerbehindertenausweise seltener ausgestellt werden als bislang, weil mit dem Status „behindert“ eine Reihe von Rechten verknüpft sind.

Wenn nun die Anerkennung von (alten) Pflegebedürftigen als Behinderte gefordert wird, schwächt das die Position von Behinderten und den Kampf für ihre Rechte? Teilhabe darf nicht länger ein Privileg bestimmter Gruppen sein, sie ist Menschenrecht und gilt für jede Person, ungeachtet der körperlichen und/oder geistigen Verfassung. Beide Gruppen – Behinderte und Pflegebedürftige – werden strukturell diskriminiert, und es ist allemal sinnvoller, die Kräfte zu bündeln als sich gegeneinander ausspielen zu lassen.

In einer Gesellschaft, die von „Austherapierten“ spricht und damit Menschen meint, bei denen „nichts mehr zu machen ist“, die traditionell bestimmte Menschen aufgrund ihrer Körperverfasstheit aussondert und in speziellen Einrichtungen verwahrt, ist ein Perspektivwechsel dringend geboten. Anstatt auf Körper zu starren und ihnen den Stempel „mangelhaft“ aufzudrücken, weil sie nicht gängigen Vorstellungen entsprechen, muss sich der Blick auf das Umfeld richten und auf das, was fehlt: Rampen, Schilder in Braille-Schrift, Assistenz usw. Das Defizit liegt nicht in Körpern, sondern im System.


Dr. Eske Wollrad, 48 Jahre, ist evangelische Theologin. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbands „Gendering Disability.
Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht“, Bielefeld (transcript) 2010. Zurzeit arbeitet sie als Referentin für Gerechtigkeit und gesellschaftliche Verantwortung der EFiD und leitet das Projekt Frauen gestalten ALTER.


Anmerkungen:
1 Michael Zander (2007), Selbstbestimmung, Behinderung und Persönliche Assistenz, in: Forum Kritische Psychologie 51, 38-52
2
Ulrike Bail, Verletzbarkeit, Trauer und Asymmetrie. Überlegungen zu Micha 4, 6-7, weitergedacht mit Judith Butler, in Duncker, Christina / Keita, Katrin (Hg.), Lieblingsfrauen der Bibel und der Welt. Ausgewählt für Luise Metzler zum 60. Geburtstag, Norderstedt (BoD) 2009, 114-119

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang