In der Bibel wird gesagt, dass Menschen „alt und lebenssatt“ sterben. Sie „legen sich nieder“, versammeln ihre Töchter, Söhne und Kindeskinder um das Bett und segnen sie. Der Tod ist das Ende eines gelebten Lebens. Von Niederlage ist nicht die Rede, sondern von Heimgehen, von „sich versammeln zu den Müttern und Vätern“.
Können wir so etwas heute überhaupt noch erleben? Gibt es solche Abschiede in unserer Zeit? Oder ist uns diese Erfahrung als modernen Menschen ganz verschlossen?
Austausch mit ein bis zwei Nachbarinnen: Haben Sie schon einmal den Tod eines Menschen miterlebt? Wie war diese Erfahrung? Eher „Niederlage“ oder eher „lebenssatt?“
Lied
Meine Hoffnung und meine Freude
(Taizé) – mindestens zweimal singen
Ja, die Theologie, die Literatur und die Philosophie sind voller Behauptung: dass der Tod und das Sterben etwas Schreckliches seien, ein metaphysischer Unfall, eine Auslöschung, eine Strafe. Gott, so heißt es im ersten Mosebuch, vertreibt die Menschen aus dem Paradies „dass er (der Mensch) … nicht auch von dem Baum des Lebens … esse und ewig lebe“. Die Menschen sollen nicht ewig leben nach Gottes Willen. Ist der Tod deshalb eine Niederlage, ein verlorener Kampf – gegen die göttliche Macht? Viele Menschen sprechen vom „sterben müssen“ als hartem, unausweichlichem Schicksal. Die Medizin mit ihren differenzierten Kenntnissen arbeitet an der Lebensverlängerung mit fast allen Mitteln.
Andere sagen: Geborenwerden und Sterben gehören zusammen. Wir sind Teil der Natur, in der das Leben entsteht und vergeht. Neues Leben wächst aus dem Tod heraus. Was wäre daran eine Niederlage? Aber wir Menschen halten uns für etwas Besseres als die nichtmenschlichen Mit-Geschöpfe. Doch können wir nicht auch lernen, wie Dorothee Sölle sagt, „in die eigene Endlichkeit einzustimmen“?
Man kann den Tod eine Niederlage nennen – dann nämlich, wenn Menschen durch Gewalt, durch Gemetzel, Selbstmord-Attentäterinnen und -Attentäter, durch Hunger sterben. Das sind die wirklichen Niederlagen der Menschheit und der Menschlichkeit. Die Schande auf dem Angesicht unseres Zeitalters, dass so viel gewaltsamer und grausamer Tod von den Menschen ausgeht. An Mitmenschen, sogar an Kindern, und auch an den Tieren – an allen Gottes-Geschöpfen. Auch Jesu Tod war ein gewaltsamer Tod, eine Niederlage, ein Scheitern. So gesehen ist sein Tod die Niederlage schlechthin, das Scheitern des menschlich-göttlichen Projektes. In der Tat: eine Niederlage Gottes.
Gespräch: Kann, darf man von einer „Niederlage Gottes“ sprechen?
Lied
Meine Hoffnung und meine Freude
Wenn es ums Sterben geht, haben viele ein ganz bestimmtes Bild vor Augen: Ein Mensch kommt am Ende seines Lebensweges an – am tiefsten Punkt seiner Existenz. Der Tod löscht ihn aus. Es ist purer Zwang. Es ist eine Niederlage. Wir müssen sterben. Vielen erscheint der Tod als ein Gang ins Nichts. Wir stellen uns vor, dass das Leben sich von der Geburt an wie ein Bogen zu wölben beginnt. Irgendwann erreicht dieser Bogen den Höhepunkt des Lebens, den Zenit. Dann beginnt sich unser Lebens-Bogen zu senken. Alles nimmt ab, die Fähigkeiten zu hören, zu sehen, zu tanzen, zu denken, zu lieben, zu arbeiten. Und schließlich treten wir dem Tod gegenüber. Der Lebensbogen endet im Grab, in diesem dunklen Loch in der Erde. Auch viele Christinnen und Christen deuten ihre Existenz mit diesem Bild vom aufsteigenden und absteigenden Bogen, auch wenn sie über das Grab hinaus hoffen.
Trifft dies auch Ihre Gedanken über den Tod? Schreiben Sie einen Satz auf, der für Sie im Blick auf den Tod wichtig ist. – Für jede(n) liegen eine Karte und ein Stift bereit. Die Karten werden wortlos an einer Pinnwand aufgehängt oder in die Mitte gelegt.
Wir können aber auch anders auf unsere menschliche Existenz und den Tod blicken. Mit einem anderen, inneren Auge. So wie der Maler Kaspar David Friedrich, der ein Bild gemalt hat, ein Kruzifix am Meeresstrand, und dazu gesagt hat: „Am nackten steinigen Meeresstrand steht hoch aufgerichtet das Kreuz: Denen, so es sehen, ein Trost. Denen, so es nicht sehen, ein Kreuz.“
Das innere Auge sieht eine andere, eine innere Wahrheit. Vor ihm erscheint der Tod anders. Er ist mit unserem Anfang verknüpft. Wir kommen aus dem Schoß unserer Mutter – und mit dem inneren Auge gesehen: aus dem Schoß Gottes. Wir haben einen doppelten Ursprung. Wenn wir aus dem Schoß Gottes kommen, dann beginnt unser Lebensbogen nicht „unten“. Denn wir haben einen göttlichen Ursprung. Er beginnt „oben“, in der Fülle des Lebens. Wir kommen aus dem Glück, denn bevor wir zur Welt kommen, sind wir bei Gott. „Gott nahe zu sein ist unser Glück.“ Martin Luther nennt Gott einen „Backofen voller Liebe“. Wir erleben eine Art Inkarnation, wir nehmen Fleisch und Blut an. Wenn sie Geschichten erzählte, die vor meiner Geburt spielten, antwortete meine Mutter auf meine Frage „Wo war ich denn da?“ mit dem Satz: „Du warst noch beim lieben Gott.“
Gegenüber dem ersten Bild ist es genau die umgekehrte Bewegung: Wir steigen seit der Geburt in das Leben hinunter. Unser Lebensbogen beginnt am oberen Ende, ist ein offenes „U“. Indem wir in das materielle Leben treten, entfernen wir uns zugleich von unserem Ursprung. Was die äußeren Augen als den Zenit des Lebens ansehen, das ist, mit den inneren Augen gesehen, zugleich der Punkt der größten Entfernung vom göttlichen Ursprung. Und in der Tat ist für viele Menschen die Zeit ihrer größten Selbstentfaltung auch die Zeit der größten Ferne von Gott. Je mehr sie aus der eigenen Kraft schöpfen, umso weniger kommt Gott in ihrem Leben vor. Sie haben das Wissen über ihren doppelten Ursprung einfach vergessen.
Aber: Wir haben etwas mitgenommen bei unserer Ankunft in der physischen Welt. Ein Erbe, ein Wissen, eine Ahnung, einen göttlichen Funken in uns, von Gott, Ursprung der Liebe, der Empathie, der Gerechtigkeit. Von dort also, vom göttlichen Ursprung kommt unser Hunger nach Gerechtigkeit. Unser Verlangen nach Frieden. Unsere Sehnsucht nach Ganzheit. Unser Mitgefühl mit Tieren und Pflanzen. Unser Einsatz für die Mitmenschen. Für menschenwürdiges Sterben. Das ist unsere Stärke, unser Erbe als Menschen.
Der Apostel Paulus, der von vielen Todesgefahren umgeben war, bekennt:
Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,
weder Engel, Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes, noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.
Röm 8,38+39
Diese Sätze muss man auswendig lernen. Sie sind ein Schutzschild gegen die Not und Ratlosigkeit des Lebens. Nichts kann uns von der Liebe Gottes trennen. Sie ist der rote Faden, der sich durch unser Leben zieht. Auch wenn er manchmal ganz unsichtbar ist oder verschwunden oder gerissen erscheint.
Im Tod gehen wir dahin zurück, woher wir gekommen sind. Wir gehen zurück zu unserem Ursprung, in einen Raum, den wir schon kennen. „Gott nahe zu sein ist unser Glück.“ Wir tauchen auf wie aus Wasser. Wir sehen im Dunkeln das Licht. Wir werden frei und spüren, dass wir eingebettet sind in eine kosmische Ordnung. Christus geht uns voran. Das Woher und Wohin des Lebens münden ineinander, angstfreier oder getroster in der Angst. Es ist ein Schreiten in Freiheit, ein Entkommen aus dem Scheitern des Lebens. Wir legen das Leben ab wie ein altes Gewand. Denn wir haben einen doppelten Ursprung. „Tod, wo ist dein Sieg?“
Der Tod, das Sterben, ist kein Scheitern, keine Niederlage. Das Bild vom doppelten Ursprung widerspricht ihm. Es ist ein Bild der Kraft, die das Niederlage-Denken aus unseren Köpfen vertreibt. Unser Weg ist ein Weg von Gott zu Gott. Dies ist ein Satz, den man nur im Vertrauen sprechen kann. In diesem Vertrauen können wir uns auch den Gewalt-Toden in der Welt widersetzen. Können wir sogar versuchen, den jähen und zu frühen Toden einen Sinn zuzusprechen. Wir werfen unser Vertrauen einfach nach vorn, zum Ursprung.
Lied
Auf meinen lieben Gott (EG 345, 1+6)
Auf meinen lieben Gott
Trau ich in Angst und Not;
Der kann mich allzeit retten
Aus Trübsal, Angst und Nöten,
mein Unglück kann er wenden,
steht all's in seinen Händen.
Amen zu aller Stund'
sprech' ich aus Herzens Grund.
Du wollest selbst uns leiten,
Herr Christ, zu allen Zeiten,
auf dass wir deinen Namen
ewiglich preisen. Amen
Gebet
Gott, Du Quelle des Lebens,
zu Dir wenden wir uns
und legen unsere Unklarheiten und Ängste vor Dir nieder.
Hilf uns leben.
Hilf uns sehen,
dass Du der rote Faden unseres Lebens bist.
Zu Dir rufen wir:
Alle: Mach uns mutig, mach uns stark.
Gott, Du Quelle des Lebens,
Mach uns mutig,
gegen den gewaltsamen, vergeudenden Tod aufzustehen
und gegen das Scheitern der Menschlichkeit in unserer Zeit.
Zu Dir rufen wir
Alle: Mach uns mutig, mach uns stark.
Bei Dir ist der Ursprung unseres Lebens,
ist Anfang und Ende.
Wir, als Mit-Geschöpfe auf dieser Erde mit all ihren Tieren und Pflanzen
wollen ihrer Zerstörung entschieden entgegentreten.
Lass Dein „Projekt Erde“ nicht scheitern.
Zu Dir rufen wir.
Alle: Mach uns mutig, mach uns stark.
Im Namen Jesu,
unseres Bruders und Vorkämpfers für das Leben,
bitten wir.
Amen
Segen
Geht in der Kraft, die euch gegeben ist,
geht einfach, leichtfüßig und zart
und haltet Ausschau nach der Liebe,
und Gottes Geist geleite Euch.
Gott segne euch und behüte euch,
Gott lasse das Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig.
Gott erhebe das Angesicht auf euch
und schenke euch Frieden.
Amen
Bärbel Wartenberg-Potter, geb. 1943 in der Pfalz, hat Theologie und Germanistik studiert. Nach ihrer Ordination hat sie auf verschiedenen beruflichen Stationen vor allem in der und für die Ökumene gearbeitet, u.a. als Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland. 2001 bis 2008 war sie Bischöfin in Nordelbien. Jetzt lebt sie zusammen mit ihrem Mann im Ruhestand in Lübeck. – mehr unter
www.baerbel-wartenberg-potter.de
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