Ausgabe 2 / 2016 Material von Ingrid Riedel

Töchter, Mütter, Freundinnen

Von Ingrid Riedel

Man darf vermuten, dass Jutta von Sponheim schon während der gemeinsamen Zeit der Erziehung auf Burg Sponheim freundschaftliche Gefühle für das Mädchen Hildegard entwickelt hatte, mütterliche zunächst für das erst achtjährige Kind,
als das Hildegard anfangs zu ihr gekommen war. Hildegard trifft zwischen ihrem 14. und 17. Lebensjahr ihre eigene Entscheidung für die aus dem anfänglichen Klausnerinnenleben heraus erwachsende benediktinische Frauengemeinschaft auf dem Disibodenberg und empfängt zwischen 1112 und 1115 die Weihe für das geistliche Leben von Abt Kuno.

Jutta wird Hildegards erste spirituelle Lehrerin im eigentlichen Sinn, eine hochgebildete, konsequente Frau, wie ihre Vita sie beschreibt, deren Einfluss auf die junge Hildegard nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Sie ist die erste, mit der Hildegard über ihre Audiovisionen spricht, der sie wohl auch die manchmal verstörenden Inhalte anvertrauen kann. Jutta war als die etwas Ältere bedeutendes Vorbild für Hildegard, eine Freundin, die mit Freuden sah, „wie aus der Schülerin die Lehrmeisterin wurde“. Als Jutta von Sponheim schon im Jahre 1136 im Alter von 44 Jahren verstirbt … da erweist sich, wie eng die Frauengemeinschaft inzwischen zusammengewachsen ist und sich mit Jutta verbunden fühlt. Die Mitschwestern hängen so sehr an ihr, dass sich die sterbende Jutta, um ihnen das Loslassen zu erleichtern, mit einem Schleier verhüllen und mit einer aschebetreuten Decke bedecken lässt, damit die Schwestern durch ihr Weinen sie nicht länger daran hindern möchten, „zu ihrem Schöpfer aufzubrechen“.

Unter den Gesängen der herbeigerufenen Mönche schließ­lich „bekreuzigte sie sich und gab ihre heilige Seele zurück“, so der „Augenzeugenbericht“ aus Juttas Vita. Sodann sollen drei ihrer Lieblingsschülerinnen Juttas Leiche gewaschen und – erschrocken – bemerkt haben, dass eine Bußkette, die sie auf ihrem Leibe trug, drei tiefe Furchen um ihren Körper eingegraben hatte. Hildegard, die eine von diesen Dreien war, sollte künftig diejenige werden, die am eindringlichsten vor den Folgen maßloser Askese warnte und die Tugend des rechten Maßes, die discretio, die Unterscheidungsfähigkeit, zur wichtigsten von allen Tugenden erklärte. Das erweist, dass sie wirklich „aus der Schülerin zur Lehrmeisterin“ geworden war. Ein Beispiel gelungener Ablösung und gewonnener Selbständigkeit. Sie hielt Jutta dabei in hohen Ehren …

Richardis war unter Hildegards Obhut und Liebe zu einer selbstständigen und hervorragenden Persönlichkeit herangewachsen. Kurz nach Abschluss des „Scivias“ im Jahr 1151 erhält Richardis die ehrenvolle Aufforderung, Äbtissin im Benediktinerinnenstift in Bassum bei Bremen zu werden. Richardis ist dem nicht abgeneigt und stimmt zu. Hildegard hingegen ist erschüttert. Als Hildegard ernstlich zögert, Richardis für das hohe Amt freizugeben, zu dem diese in Abwesenheit bereits gewählt worden ist, wird sie überdies durch einen Brief des zuständigen Erzbischofs auf eine verletzende und autoritäre Weise gedrängt, sich von Richardis zu trennen.

Hildegard antwortet in heller Empörung, kommt trotz der scharfen Drohung dem Befehl des Erzbischofs nicht nach. Sie beruft sich darauf, dass gemäß ihrer Schau die Wahl der Richardis zur Äbtissin nicht dem Willen Gottes entspreche und weist couragiert auf den in der Kirche üblichen Ämterschacher unter hohen Adligen hin. Da es letztlich um viel mehr ging als um kirchenpolitische Dinge, wohl auch um mehr als um persönlichen Ehrgeiz, wie Hildegard immer meinte, da die beiden Frauen offenbar stark aneinander gebunden waren in einer fast archetypisch zu nennenden Mutter-Tochter-Konstellation mit einem hohen Grad von geistig-seelischer Entsprechung, beschloss Richardis schließlich nach schwersten inneren Kämpfen, doch zu Hildegard zurückzukommen. Mit einer Eingabe bittet sie die Zuständigen, wieder zum Rupertsberg zurückkehren zu dürfen. Es ist dies ein völlig ungewöhnlicher Schritt für eine neu gewählte Äbtissin! Damit aber nimmt das Drama zwischen den beiden Frauen erst recht eine tragische Wendung. Als Richardis die erbetene Erlaubnis erhält, und sich zur Rückkehr bereit macht, wird sie von einer lebensgefährlichen Krankheit erfasst. Ihrem Bruder Hartwig, dem Erzbischof von Bremen, erzählt sie unter Tränen, wie sehr sie darunter leide, dass Hildegard ihrer Wahl zur Äbtissin die Zustimmung versage, dass sie innerlich so sehr davon zerrissen werde, dass sie nicht mehr anders könne, als zu Hildegard zurückzukehren. Als sie schließlich wirklich zu Hildegard aufbrechen will, wird die Krankheit so schwer, dass sich Richardis nicht mehr davon erholen kann, sondern wenige Wochen später daran stirbt.

Auszüge aus:
Hildegard von Bingen – Prophetin der kosmischen Weisheit
Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH
Freiburg im Breisgau 2014, S. 51-63

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