Ausgabe 2 / 2013 Artikel von Alexandra Manzei

Tot oder lebendig?

Über die Unzulänglichkeiten des Hirntodkonzepts

Von Alexandra Manzei


Seit dem 1. November 2012 sind die Änderungen des Transplantationsgesetzes (TPG) von 1997 in Kraft. Zweck des Gesetzes ist nun nicht mehr allein die Regelung der Spende und Entnahme von menschlichen Organen und Geweben, erklärtes Ziel des Gesetzes ist es jetzt vielmehr, „die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland zu fördern“ (§1 (1) TPG).

Alle Bürgerinnen und Bürger über 16 Jahren sollen regelmäßig angehalten werden, sich mit der Frage der Spendebereitschaft „ernsthaft zu befassen (…) und die jeweilige Erklärung auch zu dokumentieren“. (ebd.) Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie die Krankenkassen sind verpflichtet, die Bevölkerung „umfassend“ und „ergebnisoffen“ aufzuklären über die „Möglichkeiten der Organ und Gewebespende“, die „Organ- und Gewebeentnahme bei toten Spendern“ sowie die Organ- und Gewebespende zum Zwecke der Arzneimittelherstellung“ (§ 2 (1) TPG).

Die Ambivalenz dieser neuen Regelung macht stutzig. Wie ergebnisoffen kann Aufklärung sein, die gesetzlich zur Förderung der Organspende verpflichtet ist? Informiert sie umfassend über das Für und Wider des Hirntodkonzeptes, das ja laut Gesetz die Voraussetzung der Organentnahme ist und das zu kennen für potentielle SpenderInnen so wichtig wäre? Und wie vertrauenswürdig sind die Institutionen, die mit der Aufklärung betraut sind? Die BZgA und die gesetzlichen Krankenkassen arbeiten zur Aufklärung der Bevölkerung eng mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) zusammen. Deren Aufgabe ist „die umfassende Förderung der Organspende und -transplantation in Deutschland“, und ihr Ziel ist es, „allen Patientinnen und Patienten so schnell wie möglich die notwendige Transplantation zu ermöglichen“.1 Entsprechend finden sich weder in den Informationen der Krankenkassen noch der BzgA und der DSO Erläuterungen zu den intensiven Debatten zum Hirntodkonzept, die auch in Deutschland zurzeit stattfinden. Die Kernargumente dieser Debatten werden im Folgenden dargestellt.

Was ist das Hirntod-konzept?

„Hirntodkonzept“ bezeichnet die Übereinkunft, dass der irreversible Ausfall der Gehirnfunktionen mit dem Tod des Menschen identisch ist. In Deutschland dient es seit 1997 medizinisch und rechtlich als unbedingte Voraussetzung zur Organentnahme bei hirntoten PatientInnen – auch wenn es nicht explizit im Transplantationsgesetz verankert ist. Der Gesetzgeber überantwortet es der Medizin, die Gleichsetzung von Hirntod und Tod eines Menschen zu begründen. Zwar muss als Voraussetzung zur Organentnahme „der Tod des Organ- oder Gewebespenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen“ festgestellt worden sein (§ 3 (1), 2 TPG). Zudem muss vorab der Hirntod festgestellt sein, der als „nicht behebbarer Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ bezeichnet wird, und ebenfalls nach Verfahrensregeln zu diagnostizieren ist, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen (vgl. § 3 (2), 2 TPG). Aufeinander bezogen werden beide Forderungen jedoch nicht. Vielmehr wird weiter unten in § 16 festgelegt, dass es der Bundesärztekammer obliegt, den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft in Richtlinien festzulegen. Entsprechend stellt der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer In seinen „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“ fest: „Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“2
Warum der Ausfall des Gehirns mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen wäre, wird auch dort nicht begründet. Kann es auch nicht. Denn es ist nicht die Aufgabe der Medizin , den Tod zu definieren. Was als Tod – und Leben – verstanden wird, ist vielmehr eine kulturelle, eine religiöse, eine gesellschaftliche Frage. Die Medizin kann den Tod zwar feststellen, definieren kann sie ihn nicht.

Ob hirntote PatientInnen Sterbende oder Tote sind, ist seit der Entstehung des Hirntodkonzeptes Ende der 1960er Jahre höchst umstritten. In Folge des sogenannten „Erlanger Falls“ einer schwangeren Hirntoten fand in Deutschland ab 1992 eine für diese Themen verhältnismäßig breite und extrem polarisierte gesellschaftliche Auseinandersetzung über das Für und Wider von Hirntod und Organspende statt. Mit dem TPG von 1997 und der darin enthaltenen Festschreibung des Hirntodes als Kriterium für Organentnahmen fand diese Kontroverse in der Öffentlichkeit ein Ende. Seither gilt in Deutschland die „erweiterte Zustimmungslösung“ als Kriterium der Organentnahme bei hirntoten PatientInnen: Jeder und jede sollte für sich frei und ohne Druck entscheiden können, ob er bzw. sie das Hirntodkonzept – also die Annahme, dass hirntote PatientInnen tot sind – für sich akzeptieren kann und unter diesen Bedingungen einer Organentnahme am Lebensende zustimmen möchte. Dieser Gedanke ist von der unbedingten und repressionslosen Anerkennung der Selbstbestimmung der Individuen getragen und gilt auch heute noch als Grundlage der neuen Gesetzgebung. In ExpertInnenkreisen und international wurde die Debatte jedoch weitergeführt. Um die erneute Infragestellung des Hirntodkonzeptes beurteilen zu können, ist es hilfreich, seine Entstehungsgeschichte zu kennen.

Eine pragmatische Definition

Bevor Mitte des 20. Jahrhunderts die moderne Beatmungstechnologie entwickelt wurde, gab es die Vorstellung nicht, dass ein Mensch tot sein könne, obwohl sein Körper noch lebt. Menschen galten als tot, wenn ihr Herz stillstand und sie nicht mehr wiederbelebt werden konnten. Innerhalb von Minuten kam es dann zum Sauerstoffmangel im Gehirn, der das Absterben dieses Organs wie aller anderen Organe zur Folge hatte. Eine Trennung zwischen dem toten Menschen als Individuum und seinen noch lebenden Organen war weder faktisch möglich noch von medizinischem Interesse. Es war immer der ganze Mensch, der verstarb.

Das sollte sich mit der der Entwicklung der Beatmungstechnologie ändern. Bei PatientInnen, deren Atemfunktion im Gehirn aus Krankheits- oder Unfallgründen ausgefallen war, konnte man die Atmung dauerhaft maschinell ersetzen. Auf diese Weise ließ sich das Leben des/der PatientIn weiter aufrechterhalten. Es entstand jedoch ein neuer Krankheitszustand, das Coma depassé. Menschen, die im irreversiblen Koma lagen, starben nicht – wachten aber auch nicht mehr auf. Für die Medizin stellte sich damit die Frage nach dem Behandlungsabbruch: Durfte man Pa-tientInnen weiterbehandeln, die nie mehr erwachen, geschweige denn genesen würden, deren Sterben man vielmehr technisch unterbrochen hatte? Hier brauchte es ein Kriterium, das den Abbruch der sinnlosen Beatmungstherapie gestattete, ohne, dass die MedizinerInnen dafür rechtlich belangt werden konnten. Zudem weckte das irreversible Koma neue Begehrlichkeiten der Transplantationsmedizin. In den 1960er -Jahren war die Technik der Organverpflanzung soweit entwickelt, dass es dem südafrikanischen Chirurgen Christiaan Barnard 1967 gelang, erstmals ein menschliches Herz zu transplantieren. Der Patient überlebte 18 Tage. Damit aber entstand ein Bedarf an gesunden, frischen SpenderInnenorganen, über die man unabhängig von ihren TrägerInnen verfügen wollte.

Um beide Probleme zu lösen, formierte sich an der Harvard Medical School 1968 eine Expertenkommission, die pragmatisch formulierte, was die Transplantationsmedizin in ihrer heutigen Form erst ermöglichte: das Hirntodkonzept. Das irreversible Koma sollte als neues Todeskriterium fungieren, damit die PatientInnen und ihre Angehörigen, wie es heißt, „von einer schweren Last befreit“ würden, aber auch die Beschaffung von Organen zur Transplantation eindeutig geregelt und erleichtert würde. Seither gilt nahezu weltweit der irreversible Ausfall der Gehirnfunktionen als der Tod des Menschen und bildet in vielen Ländern die rechtliche Voraussetzung zur Entnahme von Organen.3

Kein Bewusstsein – kein Mensch?

Schon 1970 wies der amerikanische Philosoph Hans Jonas in seinem Aufsatz „Gegen den Strom“ auf den strategischen Charakter der neuen Todesdefinition hin und warnte vor der Bemächtigung komatöser Patienten zum Zwecke medizinischen Fortschritts.4 Zwei Jahre nach der Erklärung von Harvard wurde die Begründung daraufhin durch das Bewusstseins-Argument erweitert: Die Personalität des Individuums wurde an das Vorhandensein von Bewusstseinsfunktionen geknüpft, von denen man nach Stand der Wissenschaft annahm, dass sie vom Großhirn und von der Großhirnrinde ausgingen. Sei das Bewusstsein irreversibel erloschen, könne von einem Menschen nicht mehr als Person gesprochen werden.
Diese Begründung erwies sich jedoch als problematisch. Denn sie transportiert ein westlich-modernes Menschenbild, das den Geist bzw. das Bewusstsein zum wesentlichen Merkmal des Menschen macht. Diese Vorstellung wird weder historisch noch zeitgenössisch von allen Kulturen, Religionen und Gesellschaften geteilt.5 Zudem müssten nach dieser Definition viele andere kranke und behinderte Menschen auch für tot erklärt werden. Es gibt beispielsweise Koma-PatientInnen, sogenannte ApallikerInnen, die jahrelang bewusstlos sein können, ohne von Maschinen abhängig zu sein und ohne zu sterben. Sie leben, ohne über Bewusstsein zu verfügen. Gleiches gilt für DemenzpatientInnen im späten Stadium ihrer Erkrankung oder auch für „anenzephale Säuglinge“, also Neugeborene, die ohne Großhirn auf die Welt kommen.

Ende der 1970er Jahre wurde daher versucht, das Bewusstseins-Argument durch ein biologisches Argument zu ergänzen. Auf der Basis neurophysiologischer Erkenntnisse wurde die These aufgestellt, dass der Ausfall der im Hirnstamm angesiedelten vegetativen Funktionen die Desintegration des Orga-nismus zur Folge habe, dieser also die Fähigkeit verliere, als ganzer Organismus zu funktionieren. Allein dies konnte eine Gleichsetzung von Hirntod und Tod jedoch auch nicht rechtfertigen, da es PatientInnen gibt, deren Stammhirnfunktionen erloschen sind, deren Großhirn gleichwohl funktioniert. PatientInnen mit sogenanntem Locked-in-Syndrom sind zwar vollständig gelähmt, weil die Integrationsfunktion des Gehirns und des zentralen Nervensystems nicht mehr funktioniert. Mit Hilfe technischer Unterstützung sind sie jedoch in der Lage, Fragen zu beantworten, zu lesen, fernzusehen usw.6

Anfang der 1980er Jahre wurde vom Präsidenten der USA eine Kommission zur Klärung der Todesdefinition einberufen, die sich dazu entschloss, das anthropologische Bewusstseins-Argument und das biologische Argument der Integrationsleistung des Gehirns zu verknüpfen. Mehr als ein Jahrzehnt nach Aufkommen der Diskussion gelangte man so zur Begründung des Hirntodkonzepts, wie es heute auch in Deutschland von der Bundesärztekammer offiziell festgelegt wird: „Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversiblen erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. (…) Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“7

Neue Zweifel am Hirntodkonzept

Eben diese Gleichsetzung von Hirntod und Tod wird nun durch neue medizinische Erkenntnisse in Frage gestellt. War die anthropologische Begründung des Hirntodkonzeptes seit jeher umstritten, wird in den neuen Studien auch das biologische Integrationsargument widerlegt.8 Sie zeigen, dass die Integrationsfähigkeit des Organismus mit dem Erlöschen der Hirnfunktionen keineswegs beendet ist. Durch mindestens 175 dokumentierte Fälle wurde allein bis 1998 wissenschaftlich belegt, dass bei hirntoten PatientInnen nicht kurzfristig der Tod eintritt. Zwischen Hirntod und Herzstillstand lag vielmehr ein Zeitraum zwischen einer Woche und 14 Jahren. Möglicherweise liegt die Anzahl jener Hirntoten, die nicht tot sind, noch viel höher. Denn untersucht werden können ja nur Fälle, bei denen nach Feststellung des Hirntodes keine Organe entnommen werden, da durch die Organentnahme in jedem Fall der Tod eintreten würde.

Zudem gibt es neue technische Verfahren der funktionalen Bildgebung, die Aktivitäten des Gehirns noch zu einem Zeitpunkt feststellen könnten, an dem der Hirntod schon vermeintlich sicher diagnostiziert ist. In der Fachliteratur werden etliche Fälle benannt, die klinisch zwar als hirntot diagnostiziert wurden, bei denen jedoch mit apparativer Diagnostik eine Durchblutung des Gehirns nachgewiesen werden konnte. Damit lässt sich nun auch medizinisch belegen, warum Hirntote bei der Organentnahme oft Reaktionen zeigen, die bei anderen bewusstlosen PatientInnen als Schmerz- und Abwehrreaktionen gedeutet werden: Blutdruck und Herzfrequenz steigen sprunghaft an, das Gesicht rötet sich, Schweißperlen treten auf, Arme und Beine werden bewegt. In der Schweiz und Großbritannien etwa werden OrganspenderInnen bei der Entnahme deshalb narkotisiert, in Deutschland nicht. Schmerzmittel zu geben hieße anzuerkennen, dass es sich bei Hirntoten nicht um Tote handelt, sondern um schwerkranke Sterbende.

Dass hirntote PatientInnen Arme und Beine bewegen können, ist schon lange bekannt. „Spinale Reflexe“ oder „Lazaruszeichen“ werden diese Bewegungen genannt. Laut DSO treten sie bei 75 Prozent aller Hirntoten auf. Hier handele es sich jedoch nicht um Lebens-, sondern um Todeszeichen, konstatiert die DSO und empfiehlt deshalb, zur „Optimierung des chirurgischen Eingriffs“ bei der Organentnahme das vegetative Nervensystem auszuschalten.9 Verhindert werden so jedoch nicht die möglichen Schmerzen der OrganspenderInnen, sondern nur ihre Bewegungen und körperlichen Reaktionen. Diese Maßnahme dient vielmehr der Beruhigung des assistierenden OP-Personals; denn für das Pflegepersonal – ebenso wie für viele ÄrztInnen und vor allem für die Angehörigen am Sterbebett – ist die lebendige Erscheinung der hirntoten PatientInnen unerträglich. Hirntote haben einen warmen, durchbluteten Körper, man misst ihre Vitalzeichen (Puls, Blutdruck, Temperatur etc.), sie werden ernährt und scheiden aus, sie können Fieber entwickeln, ihre Wunden heilen, hirntote Kinder können wachsen und allein bis 2003 wurden zehn Fälle von schwangeren hirntoten Frauen dokumentiert, die über Monate ihre Schwangerschaft aufrechterhalten konnten und von einem Kind entbunden wurden.10 Nicht von ungefähr sprechen viele von der „Unanschau-lichkeit“ des Hirntodkonzepts.

Aufklärung tut Not

Die Argumente gegen das Hirntod-konzept werden in der internationalen Fachwelt breit diskutiert, spielten in der deutschen Öffentlichkeit und in den politischen Debatten um die Novellierung des Transplantationsgesetzes aber nahezu keine Rolle. Wie notwendig hier Aufklärung wäre, zeigen Studien, die die zum Teil große Uninformiertheit (auch von ExpertInnen) nachgewiesen haben.11 Auch meine eigenen Erfahrungen in zahlreichen Vorträgen zeigen, dass nur wenige den Unterschied zwischen einer normalen Leiche und einer/einem Hirntoten kennen. So ist den meisten gar nicht bewusst, dass man die EmpfängerInnen mit einem Leichenorgan vergiften würde und dass es keinen Organmangel gäbe, wenn man Leichenorgane verpflanzen könnte. In Deutschland sterben ca. 850.000 Menschen im Jahr – normale Leichen gäbe es also genug.

In den Broschüren der Krankenkassen wird das Hirntodkonzept weder erklärt noch wird über seine Infragestellung informiert. Wer über Internet verfügt, kann sich von der DSO Informationen zum Hirntod herunterladen, wird jedoch bereits im Vorwort darauf hingewiesen, dass der Hirntote nur „vermeintlich“ atme und ein schlagendes Herz habe und dass diese „vermeintlichen Lebenszeichen nur maschinell bedingt“ seien.12 Warum die gleichen Vitalzeichen, die bei allen anderen PatientInnen – medizinisch wie alltagsweltlich – als deren Lebensreaktionen gelten, die zu ignorieren weitreichende juristische Konsequenzen hätte, beim Hirntodkonzept als Todeszeichen gelten, wird auch hier nicht begründet. Dass die Atmung maschinell erzeugt wird, ist zwar richtig, aber kein Argument gegen deren Gültigkeit als Lebenszeichen. Viele Kranke – DialysepatientInnen etwa – können nur durch medizinisch-technische Unterstützung überleben und werden deshalb auch nicht für tot erklärt.

Erklärt wird auch nicht, warum der in einer PatientInnenverfügung festgehaltene Wunsch, am Lebensende nicht intensivmedizinisch behandelt zu werden, einer Organspende im Wege steht. Hirntot werden kann ja nur ein/e PatientIn, die oder der im Prozess des Sterbens bereits auf der Intensivstation liegt und intubiert und beatmet ist. Er oder sie müsste also in jedem Fall damit einverstanden sein, am Lebensende auf der Intensivstation behandelt zu werden. Denn einen Patienten vorab als potentiellen Organspender einzuschätzen und ihn nur in diesem Fall intensivmedizinisch zu behandeln, wie es die DSO in ihrer Broschüre vorschlägt, ist bei uns gesetzlich verboten.13 Patienten dürfen nur zu ihrem eigenen Wohl und niemals zum Nutzen Dritter behandelt werden; in medizinischen Richtlinien wird diese Maxime als „patientenzentrierte Behandlung“ bezeichnet. Dass jedoch auch in Deutschland offen über die sogenannte spenderzentrierte Behandlung – also die Behandlung des Patienten vor dessen Hirntod zum Nutzen des potentiellen Empfängers – diskutiert wird, bleibt hier unerwähnt.14

Nicht zuletzt bleibt unangesprochen, was besonders für all jene von Bedeutung wäre, die erwägen, ihre lebenswichtigen Organe am Ende ihres Lebens zu spenden und damit ihrem Leben einen letzten Sinn zu geben: die Würde des sterbenden Spenders, der sterbenden Spenderin. Sie hat keinen Platz in einer Debatte, die ausschließlich auf die Förderung der Transplantationsmedizin ausgerichtet ist. Eine ehrliche, offene, repressionslose Aufklärung über die Widersprüche der Organspende am Lebensende wäre das mindeste, was man Menschen zugesteht, über deren Körper man zum Nutzen Dritter verfügen möchte.

Prof. Dr. Alexandra Manzei, geb. 1964, ist Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Vor ihrem Studium hat sie als Krankenschwester in der Intensivmedizin gearbeitet und Komapatienten und Hirntote betreut. Heute hat sie eine Professur an der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar inne. Sie arbeitet zu ethischen und sozialen Fragen in der Pflege und Medizin.
Mehr unter: http://www.pthv.de/pflegewissenschaft-dozenten/prof-manzei.html

Anmerkungen

1) Vgl.: http://www.dso.de/ Zugriff: 11.03.2013.
2) Vgl.: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 30, 24. Juli 1998 (53), A-1861.
3) Vgl.: Lindemann 2003, Manzei 2003.
4) Vgl.: Manzei 2003
5) Vgl.: Manzei/ Schneider 2006.
6) Vgl.: Manzei 2003, Müller 2010.
7) Vgl.: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 30, 24. Juli 1998 (53), A-1861.
8) Vgl.: Müller 2010.
9) Vgl.: http://www.dso.de/fachinformation/organentnahme.html.Zugriff:18.3.2013.
10) Vgl.: Müller 2010.
11) Vgl.: Baureithel/Bergmann 1999, Schweidtmann/Muthny 1997.
12) Vgl.: DSO 2012, 3.
13) Vgl. DSO 2012, 31.
14) Vgl. Schöne-Seifert et al. 2013.

Literatur

Baureithel, Ulrike; Bergmann, Anna (1999): Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
Deutsche Stiftung Organtransplantation (Hg.) (2012): Kein Weg zurück… Informationen zum Hirntod. Frankfurt am Main: September 2012, 7. aktualisierte Auflage.
Lindemann, Gesa (2003): Beunruhigende Sicherheiten. Zur Genese des Hirntodkonzepts. Konstanz: UVK.
Manzei, Alexandra (2003): Körper – Technik – Grenzen. Kritische Anthropologie am Beispiel der Transplantationsmedizin. Münster/Hamburg/-London: Lit-Verlag.
Manzei, Alexandra; Schneider Werner (Hg.) (2006): Transplantationsmedizin.
Kulturelles Wissen und gesellschaftliche Praxis. Münster: Agenda Verlag.
Müller, Sabine (2010): Revival der Hirntod-Debatte. Funktionelle Bildgebung für die Hirntoddiagnostik. In: Ethik in der Medizin 22, S. 5–17.
Schöne-Seifert, Bettina; Prien, Thomas; Rellensmann, Georg; Roeder, Norbert; Schmidt, Hartmut H.-J. (2013): Behandlung potentieller Organspender im Präfinalstadium: Ethische Fragen. http://campus.uni-muenster.de/fileadmin/einrichtung/egtm/pbsurvey/GTE/WS_2011/BSS_ST_red_27.09.Schoene-Seifert_et_al.Positiospapier.pdf. Zugriff: 20.03.2013.
Schweidtmann, Werner; Muthny, Fritz A. (1997): Einstellung von Ärzten zur Organtransplantation. Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Transplantationsmedizin 9 (1), S. 2–7.

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