Alle Ausgaben / 2008 Material von Krystyna Wituska

Über dem Abgrund

Von Krystyna Wituska


Krystyna Wituska, mit 22 Jahren in eine polnische Widerstandsgruppe eingetreten und kurz darauf verhaftet und nach Berlin verschleppt, wird im April 1943 von der  Nazijustiz zum Tode verurteilt. Im Dezember wird sie nach Halle (Saale) verlegt und dort am 26. Juni 1944 hingerichtet, „nachdem der Führer einen Gnadenerweis abgelehnt hatte“. Während der langen 14 Monate zwischen  Todesurteil und Vollstreckung setzt sie sich in Briefen an ihre Familie und Freundinnen und Freunde mit ihrem Leben und dem zu erwartenden frühen Tod auseinander. Der folgende Auszug ist aus einem Brief vom 6. Juni 1943, noch aus dem Gefängnis Alt-Moabit in Berlin.

Liebe Halinka! Ich habe gestern einen Brief erhalten, in dem Du schilderst, wie tüchtig Du wirtschaftest, und mir das Bild Deines häuslichen Glücks malst. Uns hier, die wir völlig herausgeworfen sind aus dem normalen Leben, ist es ein sonderbarer Gedanke, dass es Plätze auf der Welt gibt, wo das Leben so friedlich und glücklich wie eh und je dahinfließt. Uns kommt es vor, als sei die ganze Welt vom Feuer des Krieges erfasst, als würden überall die  Menschen kämpfen und sich ermorden, oder weinen und unglücklich sein. Glückliche Halinka, möge Dein häusliches Nest, versteckt auf einem fernen Dorf, stets vor einem bösen Geschick bewahrt bleiben. Ich war offenbar für ein so ruhiges Leben nicht geschaffen, mich hat immer eine unbezähmbare Lust nach Eindrücken verzehrt, die ich nicht einmal hier losgeworden bin. …

Mit meiner Olenka unterhalte ich mich oft bis früh … über alle möglichen Themen, und gewöhnlich kommen wir zu dem Ergebnis, dass sich, wenn wir noch einmal irgendwann zurückkehren könnten, unsere Art, die Welt zu sehen, wesentlich von der anderer Leute unterscheiden würde. Wir stehen jetzt wie auf einem Brett, das man aus einem Schiff herausgeschoben hat, über dem Abgrund, und sonderbar, dass einem in dieser Stellung nicht schwindlig wird, ganz im Gegenteil, erst jetzt ist man imstande, alles und alle richtig einzuschätzen, ohne eine Spur von Subjektivismus. Wir gehören schon nicht mehr zur Menge, deren Stimmungen auf unsere Gefühle und Urteile Einfluss nehmen können.


Krystyna Wituska

aus:
Zeit, die mir noch bleibt
Briefe aus dem Gefängnis
hg. von Wanda Kiedrzynska
Ev. Verlagsanstalt Berlin 1973

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