Wie kommt Gottes Trost in die Welt? Wie erfahren wir, dass Gott uns trösten will? Paulus hat entdeckt, dass ein göttlich-menschliches Beziehungsnetz alles und alle tragen kann.1
Ein solches Netz entfaltet Paulus am Anfang des 2. Briefes an die Gemeinde in Korinth. Er wählt dafür einen Leitbegriff, der vielfach variiert wird; dies ist seine ganz eigene Ausdrucksweise, die alle echten Paulusbriefe kennzeichnet. Das Leitwort in 2 Kor 1 lautet: „Trost“ und „trösten“. Es ist die Wiedergabe des griechischen Wortes paraklesis und des Verbs parakalein, was „bitten, ermutigen, ermahnen“ und eben auch „trösten“ bedeuten kann. In hoch emotionalen Sätzen beschreiben Paulus und mit ihm sein Gefährte Timotheus die existenzielle Not, die sie erlebt haben, und die zugleich erfahrene unbedingte Geborgenheit in den Tröstungen, die Gott als Gott Israels ihnen und allen zukommen lässt. Angelehnt an die Lob- und Danklieder aus dem Gebetbuch Israels, den Psalmen, dichten sie selbst einen Psalm. Sie loben Gott, der sie aus höchster Lebensgefahr errettet hat. Vom Ausmaß dieser bisher beispiellosen und für sie furchtbarsten Augenblicke der Todesangst erzählen die beiden gleich anschließend zum ersten Mal der Gemeinde (2 Kor 1,8f): In der römischen Provinz Asia – in Ephesus? – waren sie verhaftet und zum Tod verurteilt worden. Ihr Schicksal schien besiegelt. Die schon nicht mehr für möglich gehaltene Rettung beschreiben sie als Gotteswunder der Auferstehung: Wir vertrauten nicht mehr auf unsere eigene Kraft, sondern auf Gott: Gott lässt die Toten aufstehen. (V. 9b)
Dieses Erlebnis von Todesnähe und Rettung muss für Paulus eine überwältigende Erfahrung gewesen sein. Und so schlägt der zweite Brief gegenüber dem 1 Kor auch einen völlig neuen Ton an und beschreibt die Verbundenheit mit den Menschen in der Gemeinde zu Korinth so, dass es die keine apostolische Überlegenheit gibt. Der Brief beginnt mit einem großen und besonderen Lobpreis, der ein weitgefasstes Beziehungsnetz aufruft. Luise Schottroff hat es überaus treffend als ein „Trostverbundsystem“ bezeichnet: „Das ist eine Art ‚Trostverbundsystem', in dem jeder den anderen braucht, Trost empfängt und Trost weitergibt.“2 In 2 Kor 1,3-11 heißt es:
3Gesegnet sei Gott, wie Vater und Mutter für Jesus, den Messias und Herrn über uns! Gesegnet sei Gott, die väterliche Quelle des Erbarmens und aller Tröstung!
4Gott tröstet uns in jeder bedrängten Lage, so dass wir andere, die auf so viele Weisen bedrängt sind, trösten können mit dem Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden. 5Denn so wie die Leidenserfahrungen des Messias über die Maßen über uns hereinbrechen, so werden wir durch den Messias auch über die Maßen getröstet. 6Wenn wir in Gefahr sind, führt das zu Trost und Rettung auch für euch. Wenn wir getröstet werden, erfahrt auch ihr Trost. Dieser zeigt seine Macht, wenn ihr dasselbe erleidet, was wir erleiden, ohne daran zu zerbrechen. 7Und unsere Hoffnung steht für uns auf festem Grund, weil wir wissen: Wie ihr das Leiden teilt, so teilt ihr auch die Tröstung. 8Denn wir wollen euch nicht verschweigen, liebe Brüder und Schwestern, dass wir in der Provinz Asia in eine beispielllose Gefahr geraten sind. Die Bedrohung ging über unsere Kraft, so sehr, dass wir am Leben verzweifelten. 9Wir selbst hatten uns in der Tat schon innerlich mit dem Todesurteil abgefunden. Wir vertrauten nicht mehr auf unsere eigene Kraft, sondern auf Gott: Gott lässt die Toten aufstehen. 10Gott hat uns aus schrecklichen Todesnöten gerettet und wird uns erneut retten. Von Gott erhoffen wir Rettung wieder und wieder, 11wenn auch ihr durch euer Gebet für uns mithelft. So wird aus dem Mund vieler Menschen für die Zuwendung Gottes gedankt, die uns geschenkt wurde.3
Damit erscheint der Trost – also ein Zuspruch, der Menschen rettet – bildlich als Substanz eines großen Kreislaufs, die fortwährend weitergereicht wird, durch Himmel und Erde fließt und so alle miteinander verbindet. Es geht ein Strom von Gott aus und fließt zu Gott zurück (V. 3). Indem Gott aus menschlichem Mund als Quelle aller Tröstung und des Erbarmens „gesegnet“4 wird, kehrt der Segen an seinen Ursprung zurück. Das geschieht im Lobpreis, mit dem der Psalm beginnt, aber auch in der Antwort der Gemeinde im Gebet (V. 11) als Dank für die Rettung anderer; hier sind es Paulus und sein Gefährte.
Paulus und Timotheus sehen in der Rettung vom Tode, die sie selbst erlebt haben, einen Trost Gottes, den sie weitergeben können (V. 4). Dabei bleibt der Trost substanziell derselbe, nämlich Gottes Trost. Als Menschen können sie also Gottes Gaben weitergeben, und es sind die genuinen Gottesgaben des Erbarmens. Dabei ist wichtig: Paulus hat selbst schon vorher durch eben seine Gemeinde den Trost Gottes erfahren, später im Brief sagt er (2 Kor 7,6-7): Aber Gott tröstet die Niedergedrückten und tröstete uns durch die Ankunft von Titus, doch nicht nur durch sein Kommen, sondern indem er den Trost mitbrachte, mit dem er von euch getröstet worden war.
Der Trost Gottes ist also ein Schatz, ein kostbares Gut, das weitergereicht werden kann von einer Menschenkette. Und innerhalb dieser Menschenkette können alle empfangen und alle geben, weil alle bedürftig sind, auch und gerade der große Apostel. Die Wortwahl zeigt: Der wahre Trost ist, dass ein Mensch aus einer Notsituation herausgeholt wird, dass er auflebt und neu gefestigt, aufgerichtet und ermutigt wird. So geschieht Gottes Hilfe, Gottes Tat zur Rettung eines Lebens. In diesem Sinne beschreiben die gegenseitigen Tröstungen des 2 Kor, dass alle, die so verbunden sind, einander fortwährend wieder ins Leben rufen und rufen können. Weil diese Bedeutung im Deutschen leicht mitschwingen kann, ist zu betonen: Wir dürfen das Trösten hier keinesfalls als Trost anstelle von wirklicher Rettung und Hilfe oder gar als „vertrösten“ verstehen, sondern vielmehr als Beendigung der Not, als wiedergewonnenes Leben.
Trost, und damit Leben, ist jedoch nicht die einzige Dimension der Realität. Sie ist gleichzeitig stets mit wiederkehrenden und neuen Situationen des Leidens erfüllt. Beide Dimensionen sind unauflöslich verschränkt. Das Zentrum, in dem Leid und Trost zusammenfallen, ist für Paulus Jesus Christus, das Sterben und Leben des Messias. Wenn er in den Katastrophen, die über ihn hereinbrechen, die Leidenserfahrungen des Messias erkennt (2 Kor 1,5), so begreift er Christus gleichzeitig als Medium des göttlichen Trostes, und beides kommt über die Maßen, im Überfluss. Hier zeigt sich ein paulinisches Lieblingswort, perisseuein, „überfließen, überströmen, überreich sein, im Überfluss, über die Maßen vorhanden sein“.
In diesem Zusammenhang von Tröstung und Leiden signalisiert dieses Wort, auf welche Weise die Existenz Christi mit dem Leben des Paulus und der Gemeinde verbunden ist: Jesus Christus ist die Instanz, die durch dieses Überfließen und Überströmen alles vermittelt. Das erinnert an verbundene Gefäße oder kommunizierende Röhren – ein Bild, das einen permanenten Austausch vor Augen führt. Dieses Bild zeigt besonders anschaulich, wie sehr Paulus in Beziehungen denkt, wie verkürzt eine Beschreibung seiner Christologie wäre, die allein die einzelne Person und ihr Verhältnis zu Jesus im Blick hätte. Ausgetauscht werden auf diese strömende Weise vor allem die Gottesgaben, die durch den Messias überfließen können auf alle, welche sie ihrerseits anderen zugutekommen lassen. In V. 5 wird aber auch gesagt, dass das Leiden, also das Sterben und Getötet-werden, ebenfalls überfließen kann. Auch das Leiden wird geteilt und mitgeteilt. Ein besonderes Leiden, das nur der Apostel erfährt, gibt es nicht.
Da aber mit Christus gleichzeitig der göttliche Zuspruch, die rettende Tröstung und Festigung weitergegeben wird, verwandelt sich die Not der Menschen. Paulus drückt auch diesen Vorgang als Weitergabe durch menschliche Beziehungen aus. Die Verwandlung des Leidens wird in 2 Kor 1,6-7 als eine paradoxe Verschränkung formuliert: Wenn wir in Gefahr sind, führt das zu Trost und Rettung auch für euch. Wenn wir getröstet werden, erfahrt auch ihr Trost. Dieser zeigt seine Macht, wenn ihr dasselbe erleidet, was wir erleiden, ohne daran zu zerbrechen. Wie ihr das Leiden teilt, so teilt ihr auch die Tröstung.
Paulus versucht zu beschreiben, dass alles, was von Gott kommt, und alles, was mit Christus überfließend ausgeschüttet wird, keine Privatangelegenheit einzelner ist, sondern sich sofort den anderen mitteilt und so weiterwirkt. In der Eigenschaft des Überfließens zeigt sich der göttliche Ursprung der Gaben, so dass alles geteilt werden kann und muss. Dadurch werden alle erreicht, miteinander verbunden zum Leben, zum Aufleben, und auf diese Weise gefestigt. Es entsteht ein Beziehungsnetz zwischen Himmel und Erde, das umfassende „Trostverbundsystem“, in welchem auch das Leiden der einen den anderen zugutekommen kann, weil es deren Beziehung zu Gott festigt, indem sie Gott anrufen und für die Leidenden bitten und danken (V. 11).
An diesem Trostkapitel in 2 Kor 1 ist über die paulinische Beziehungstheologie und -christologie also zu lernen: Die Gottesgaben, hier Tröstung und Erbarmen, wirken im Leben, in der von Leid, Schmerz und Tod bedrohten Existenz der einzelnen, indem sie diese Gottesgaben wirksam empfangen und weitergeben können. Tröstung und Erbarmen werden also in menschlichen Beziehungen als authentische Gaben Gottes erfahren und wechselseitig ausgetauscht zur Rettung des Lebens. In Jesus Christus ist beides verwirklicht und zusammengebracht: das Elend der menschlichen Existenz und gleichzeitig die Gottesgaben. In seinem Sterben und Leben überschneiden oder begegnen sich menschliche Not und göttlicher Trost. Von dieser Begegnung her wird das Leiden verwandelt, so dass es nicht stärker ist als die Erfahrung des göttlichen Zuspruchs. Indem sich die Gemeinde mit diesem Messias Jesus verbunden weiß, wird das Leiden verwandelt: Sie erfahren, dass es sie nicht mehr von Gott trennen kann.
Wie geheimnisvoll das überfließende Weitergeben des göttlichen Trostes bis heute in der Welt geschieht, können wir an einem Detail der vermutlichen Entstehung des wunderbaren Gedichts und Lieds von Dietrich Bonhoeffer sehen, das so anfängt: „Von guten Mächten treu und still umgeben, getröstet und behütet wunderbar, so will ich alle Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr“. Und so endet es: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag“ (EG 65).
Dietrich Bonhoeffer hat die Verse zum letzten Weihnachtsfest und Jahreswechsel seines Lebens im Dezember 1944 geschrieben, im Gestapogefängnis in Berlin, als Gruß für seine Verlobte Maria von Wedemeyer und für seine Eltern und Geschwister. In diesem Gedicht und in den Briefzeilen dabei geht es um den Gedanken, dass es einen unsichtbaren Raum der göttlichen Wirklichkeit um uns herum gibt, der alle Geschöpfe – Engel und Menschen – in Liebe umfängt und bewahrt, sie miteinander in Verbindung bleiben lässt, in Tod und Leben: „Wenn sich die Stille nun tief um uns weitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.“ Ich habe den ganzen Briefwechsel der Verlobten, die nie zusammen leben durften, wiederholt gelesen. Danach bin ich mir sicher, dass Bonhoeffer diesen Hauptgedanken seines Gedichts von ihr geschenkt bekommen hat, und zwar ein Jahr zuvor durch ihren Brief vom 25. Dezember 1943. Darin schreibt Maria von Wedemeyer ihm, wie sie in dieser Weihnachtsnacht allein nach draußen ging und ihm ihre Kräfte und Gedanken sandte. Sie schreibt von der Stille, die andere Stimmen hervorrufe als der Lärm am Tag, von „Kräften, die unbegreifbar, aber gut und tröstend sind“, von Gottes Welt, seinen Boten und seinem Frieden.5
Der Gefangene hat somit Worte aus einem Brief seiner Verlobten vernommen, sich von ihnen trösten und tragen lassen. Ihr Sinn, die wesentlichen Aussagen fließen dann unbewusst oder bewusst in ein Gedicht, das eine große Kraft besitzt. Eine Kraft, die aus dem Leiden und aus der Zuversicht stammt, zeitlich und räumlich fortwirkt und unzählige Menschen seither mitgetröstet hat. Das ist für mich eine der Spuren von Gottes Trost in der Welt.
Kopiervorlagen sind für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de zum Herunterladen vorbereitet.
– Austausch in Murmelgruppen:
Was / wer tröstet mich?
(Wann) brauche ich Trost?
Wie wirkt Trost?
Jede Teilnehmerin erhält ein Blatt mit diesen Fragen. Anschließend werden Gedanken aus den Murmelgruppen in der Gesamtgruppe vorgetragen, ohne darüber zu diskutieren oder zu werten.
– 2 Kor 1,3-11 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache wird in Kopie an alle verteilt, vorgelesen und besprochen. Erste Eindrücke werden gesammelt.
Impuls für das vertiefende Gespräch:
Was ist hier mit „Trost“ gemeint? Die Neutestamentlerin Luise Schottroff spricht von einem Trostkreislauf, einem „Trostverbundsystem“, in dem Gott, Jesus Christus und die Menschen der christlichen Gemeinden unlösbar miteinander verbunden sind – wie Flüssigkeit in kommunizierenden Röhren. Ist das, wenn wir uns die eben gehörten Verse noch einmal genau anschauen, nachvollziehbar?
– Danach referiert die Leiterin die Gedanken aus dem Abschnitt „Menschliches Leid teilen“ (siehe oben S. 78-80). – Das Gehörte wird gemeinsam besprochen.
– Gruppenarbeit:
Die Teilnehmerinnen erhalten in Kopie den Text des abschließenden Kapitels der Bibelarbeit „Wunderbar geborgen“. Sie lesen den Text gemeinsam und tauschen ihre Gedanken dazu aus.
– Abschließende Gesprächsrunde in der Gesamtgruppe:
Haben wir selbst erlebt oder haben von Erfahrungen anderer gehört, wie Menschen der heutigen Zeit durch Trost verbunden sein können?
– Lied:
Von guten Mächten wunderbar geborgen (EG 65)
Dr. Marlene Crüsemann, geb. 1953, ist freiberufliche evangelische Theologin mit Arbeiten zur Exegese des Neuen Testaments und zur sozialgeschichtlichen und feministischen Bibelauslegung. Sie ist Mitherausgeberin der Bibel in gerechter Sprache.
Vorschlag für die Arbeit in der Gruppe: Dr. Luise Metzler, Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw
Anmerkungen
1) Der folgende Text zu 2 Kor 1 ist eine gekürzte und geänderte Wiedergabe aus: Marlene Crüsemann, Eine Christologie der Beziehung. Trost, charis und Kraft der Schwachen nach dem 2 Kor, in: Dies., Gott ist Beziehung. Beiträge zur biblischen Rede von Gott, Gütersloh 2014, 184-205, hier: 186-191.
2) Luise Schottroff, Der Sieg des Lebens. Auslegung von 2 Kor 4,6-12, in: Dies., Der Sieg des Lebens, München 1982, 46-62, 55.
3) Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache, 4. Aufl. Gütersloh 2011.
4) Zur Gegenseitigkeit des Segnens zwischen Gott und Menschen siehe Magdalene L. Frettlöh, Gott segnen. Systematisch-theologische Überlegungen zur Mitarbeit des Menschen an der Erlösung im Anschluss an Psalm 115, EvTh 56, 1996, 482-510.
5) Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer 1943-1945, hg.v. Ruth-Alice von Bismarck u. Ulrich Kabitz, München 1992, 104f.
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