Alle Ausgaben / 2014 Artikel von Doris Peschke

Über Grenzen

Aufnahme von Migrantinnen und Migranten in Europa

Von Doris Peschke


Die Kriege und Krisen, derzeit vor allem die im Nahen Osten und Ost­europa, halten die Welt in Atem. Konfliktlösungen scheinen nicht in greifbarer Nähe, und immer mehr Menschen sehen keinen anderen Weg als zu flüchten.

Im Jahr 2013 zählte der UN Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) 16,7 Millionen Flüchtlinge, 1,2 Millionen Asyl­suchende und 33,3 Millionen Menschen, die innerhalb ihres Landes vertrieben wurden.1 Und dennoch machen Flüchtlinge nur einen kleinen Teil der internationalen Migration aus; 231,5 Millionen Menschen wurden im selben Jahr als internationale Migrantinnen und Migranten gezählt.2

Für Christinnen und Christen ist das Engagement für Fremde, Wanderer und Flüchtlinge begründet in der biblischen Tradition. Von Anbeginn an war die christliche Kirche grenzübergreifend, die ersten Gemeinden wurden rund um das Mittelmeer begründet. Den Fremden, die Fremde willkommen zu heißen, ist Auftrag und Anspruch zugleich, dem sich auch heute die Kirchen auf verschiedenen Ebenen stellen. Vorrang haben dabei die in Not geratenen Fremden, Menschen ohne Papiere und Aufenthaltsstatus, Flüchtlinge, inhaftierte Migrantinnen und Migranten.


Recht auf Asyl

Die Europäische Union hat vor etwas mehr als zehn Jahren eine Grundrechte-Charta für die EU und ihre Institutionen beschlossen, die mit dem Lissabon-Vertrag 2008 rechtlich bindend wurde. Artikel 18 der Charta sagt unmissverständlich: „Das Recht auf Asyl wird (…) gewährleistet.“3 Alle europäischen Staaten haben die Europäische Menschenrechtskonvention4 unterzeichnet und sich zur Einhaltung verpflichtet. Neben anderen internationalen Konventionen sind diese beiden Menschenrechtsvereinbarungen der Staaten ausgesprochen wichtig: aus ihnen leiten sich Rechte für Migrantinnen und Migranten sowie die Verpflichtung zur Sicherstellung der Grundrechte für alle Menschen ab.

Nach dem bis dahin schwersten Unglück vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 begann die italienische Regierung im Mittelmeer die Operation Mare Nostrum. Damit hatten die Streitigkeiten zwischen Italien, Malta und Libyen, wer für die Rettung von Schiffbrüchigen und Bootsflüchtlingen zuständig wäre, ein vorläufiges Ende. Die hatten häufig dazu geführt, dass Boote tagelang warten mussten, bevor einer der Staaten sie anlegen ließ.5 Die italienische Marine hat seither tausende Menschen im Mittelmeer gerettet und nach Italien gebracht. Auch dadurch ist die Zahl der Asylsuchenden in Europa gestiegen, der Hauptgrund liegt aber weiterhin in den Krisen im Nahen Osten, die sich ausbreiten statt begrenzen. Inzwischen spricht der UNHCR von der größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Die Hauptlast für die Aufnahme von Flüchtlingen schultern derzeit der Libanon, Jordanien und die Türkei. Aber auch im Irak und in Syrien sind Flüchtlinge aus dem jeweils anderen Land, in Libyen und Ägypten suchen Menschen einen relativ sicheren Ort. Von 2,7 Millionen syrischen Flüchtlingen sind keine 10 Prozent in Europa; Deutschland und Schweden haben dabei über das Asylverfahren und Flüchtlingsaufnahmeprogramme vergleichsweise vielen syrischen Flüchtlingen Asyl gewährt. Wichtig erscheint aus kirchlicher Sicht, die Aufnahme von Flüchtlingen besser mit dem UNHCR und auch mit anderen europäischen Staaten zu koordinieren. Dazu könnte der Vorschlag für eine internationale Konferenz zur Koordination der verschiedenen Instrumente des Flüchtlingsschutzes – Hilfe für die am meisten betroffenen Länder, Flüchtlingsaufnahme aus diesen Ländern und bessere Verantwortungsteilung in der Europäischen Union – ein hilfreicher Schritt sein.


Angekommen – und dann?

Gastfreundschaft und Aufnahme, Begegnung mit den Fremden und Anderen ist ein erster Schritt. Einander annehmen und Gemeinschaft gestalten ist eine weit darüber hinausgehende Aufgabe. Hier können Regierungen und Behörden einen guten Rahmen gestalten; Aufnahme und Integration gelingen aber nur mit den Menschen in den Aufnahmeländern.

Durch Migration verändern sich Gesellschaften in Europa wie in anderen Teilen der Welt. In den Großstädten wird dies sichtbar an der Vielfalt an Restaurants und Geschäften aus allen Regionen der Welt. Die religiöse und die kirchliche Vielfalt sind nicht ganz so offensichtlich, haben aber stark zugenommen. Die Minderheitenkirchen haben dies schneller wahrgenommen als die Mehrheitskirchen. Die protestantischen Kirchen in Italien etwa sind durch Migration stark gewachsen – in manchen Gemeinden stammt die Mehrheit der Mitglieder aus anderen Ländern. Größer wurde auch katholische Präsenz in den lutherisch geprägten nordischen Ländern. Orthodoxe Kirchen und Gemeinden in Frankreich oder Belgien verzeichnen ebenso Zuwächse wie methodistische und baptistische Kirchen. Gleichzeitig gründen Migrantinnen Gemeinden und Kirchen, um in der eigenen Sprache und Tradition Gottesdienst zu feiern, innerhalb anerkannter Konfessionen wie auch außerhalb. Manche Gemeinden, etwa die Presbyterianische Kirche Südkorea, verstehen sich mehr als Auslandsgemeinden ihrer Herkunftskirche, andere sehen sich als Teil einer internationalen Gemeinschaft; einige internationale Gemeinden verstehen sich als über- oder postkonfessionell.

Religion spielt für viele Migrantinnen und Migranten eine überaus große Rolle: die religiöse Gemeinschaft bedeutet für sie ein Stück Heimat, ermöglicht Begegnung und Erfahrungsaustausch. Mehr noch: Glauben und Hoffnung, gemeinsames Gebet und Lobpreis richten den Blick über die eigene Existenz auf die Gemeinschaft der Gläubigen und Gottes Schöpfung. In dieser Gemeinschaft sind Neuankommende nicht nur EmpfängerInnen von Hilfsleistungen, sondern Teil der Glaubensgemeinschaft, Gebende und Nehmende zugleich.

Die Kommission der Kirchen für Migranten in Europa hat die Veränderungen in der kirchlichen Landschaft verfolgt und inter­nationale Konferenzen zum Austausch der Erfahrungen durchgeführt. In dem Projekt MIRACLE – Migrant Integration through Religion, Cultural Learning and Exchange konnten Empfehlungen entwickelt werden, die für das Zusammenleben und -arbeiten und für den Weg zum „gemeinsam Kirche sein“ bedeutsam sind. Grundlage war die Auswertung von Interviews mit Migrantinnen und Migranten über ihre kirchlichen Erfahrungen und Erwartungen. Es sind ermutigende Berichte, die zeigen, dass für viele von Ihnen kein „entweder-oder“, Migrations­kirche oder traditionelle Kirche, wich­tig ist, sondern beide bedeutsam für ihr Leben sein können. Wo es gelingt, Neuankommende nicht nur interessiert zu begrüßen, sondern in die Gemeinde aufzunehmen, Verantwortung und Aufgaben zu teilen, dort gelingt Integration. Dies bedeutet viel Arbeit – und doch werden viele Menschen positive Überraschungen erleben. Trauen wir uns zu, mit Migrantinnen und Migranten gemeinsam an den vielen Orten, wo Menschen neu zu uns kommen, Ängste vor der großen Herausforderung zu überwinden, Raum zu schaffen und eine Willkommenskultur zu leben?


Doris Peschke, 1957 in Hannover geboren, hat Ev. Theologie studiert. 1981 war sie Praktikantin im Programm zur Bekämpfung des Rassismus beim ÖRK. Sie arbeitete für die Vertretung der namibischen Befreiungsbewegung SWAPO of Namibia in Bonn und als Beauftragte für Kirchlichen Entwicklungsdienst der EKHN. Seit 1999 ist sie Generalsekretärin der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME), der ökumenischen Organisation von Kirchen und Kirchenräten sowie diakonischen Einrichtungen in Europa zu Migration und Integration, Flucht und Asyl und gegen Rassismus und Diskriminierung. – mehr unter www.ccme.be


Anmerkungen
1) War's Human Cost, UNHCR Global Trends 2013, www.unhcr.org/5399a14f9.html
2) Die internationale Definition erfasst Menschen, die für mehr als ein Jahr in einem anderen Land leben als in dem sie – Staatsangehörige sind.
3) vollständiger Text der Charta unter
www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf
4) Die Europäische Menschenrechtskonvention ist Grundlage und Pfeiler des Europarates in Straßburg; dort ist auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof angesiedelt.
5) Tineke Strik, Parliamentary Assembly of the Council of Europe: Lives Lost in the Mediterranean: Who is responsible?, assembly.coe.int/ASP/XRef/X2H-DW-XSL.asp?fileid=18095&lang=EN

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