Alle Ausgaben / 2017 Artikel von Christiane Thiel

Überbrückt

Spirituelle Wasserwege in Leipzig. Ein Modell.

Von Christiane Thiel

Ich bin dem Kirchentag seit meiner Jugend verbunden. Damals waren es die Kirchentage im Osten, die mir Weite und Gespräch erfahrbar machten. Das ist bis heute eine Quelle meiner Kraft. Aber sechs „Kirchentage auf dem Weg“ in acht Städten zwischen Berlin und Wittenberg? Drei Tage im Mai 2017. Eine große Herausforderung für die ostdeutschen Kirchen.

Sie kamen, so viel sei doch angemerkt, über uns wie Unwetter, die nicht abzuwenden sind. Das war aus ostdeutscher Sicht keine gute Art des Umgangs miteinander, aber auch keine so große Überraschung mehr. Nun standen wir also da und dachten: Was machen wir am besten? So viel war nicht planbar: Wer wird da kommen? Kommt da jemand? Wer wird mitmachen? Macht da jemand mit? Haben wir die Kraft dafür? In Leipzig bekamen wir die Planzahl: 50.000 Dauergäste aus der ganzen Welt werden in Leipzig sein, die Stadt erfahren, die Kirche suchen und dann nach Wittenberg weiterziehen – zum großen Gottesdienst auf der Wiese. Zweifel? Egal. Jetzt machen wir das Beste draus.

An Weißer Elster, Pleiße und Parthe

Leipzig liegt am Wasser. Es gibt fast 180 km Wasserwege in Leipzig. Weiße Elster, Pleiße und Parthe sind die größeren Flüsse, in deren Auen die Stadt liegt. Der Auenwald ist der größte europäische innerstädtische zusammenhängende Wald, und wer ihn noch nicht im Frühsommer gesehen hat, hat was verpasst. So schön blühen im ersten Frühling der Bärlauch und die Buschwindröschen, dazwischen Aronstab und Maiglöckchen. Schließt sich das Blätterdach, ist der Auenwald ein immer feuchter Laubwald mit Wasserlöchern und Lachen, Flüssen und Wiesen. Spätestens im Herbst gibt es Pilze. Es gibt Bereiche echter Wildnis zu entdecken, Passagen gelungener Renaturierung, Parklandschaften, Stadtlandschaften. Im Winter ist ein reiner Laubwald ein bisschen trostlos. Das gebe ich zu.

Bei einer Ideenwerkstatt kommt der ­Gedanke der Spirituellen Wasserwege auf. Spirituelle Wasserwege? Kirchen liegen am Wasser, und Gemeinden haben wunderbare Flussläufe und Wander- und Radwege in ihrem Gebiet. Es gibt Ideen von Gottesdiensten auf dem Weg: durch Stadt und Parklandschaft, an Gewässern vorüber, über Brücken bis zu Quellen und Fischen im Mosaikboden der Kirchen.

Wer machte mit?

Die Säkularisierung hat viele Folgen. Eine davon ist, dass uns kreative Menschen fehlen. Natürlich gibt es kreative Christinnen in Leipzig, aber eben nur wenige, weil es nur sehr wenige Christinnen gibt. Ein Wunder gelingt: Die ­Akteure und Akteurinnen der Nachbarschaften lassen sich ins Projekt einbinden. Auch Schulen, Kneipen, Künstlerinnen, Vereine, Verbände. Kirchenmitgliedschaft ist Nebensache. Das Wasser hat seine eigenen Kräfte und setzt Energien frei, die sich nicht in ein eineindeutiges Glaubensbekenntnis pressen lassen, deren selbstverständlichster Ausdruck aber die Liebe zur Stadt, zu ihrer Schönheit und ihren Menschen ist. „Heimatverbundenheit“ im besten Sinne. Naturschutz und Bewahrung der Schöpfung gehören auch zu den Triebkräften der gemeinsamen Pläne.

Was war möglich?

– Ein Pilgergottesdienst durch ein Stadtquartier mit vielen Wasserwegen: Eröffnung, Anrufung, Bekenntnis und Tauferinnerung unter dem Motto „Ströme lebendigen Wassers“ an verschiedenen Orten, in Kirchen, in Gartenzimmern des Parks.
– Pilgerwanderungen in Verantwortung der an den Gewässern liegenden Gemeinden: Kooperationen mit dem BUND, Heimatvereinen, Kleingartenspar­ten, Gaststätten, Völkerschlachtsdenkmal, Initiativen auf dem Weg. Das waren keine frommen Spaziergänge, sondern Erkundungen im Naturraum der Stadt unter der Fragestellung: Welche Kräfte der Schuld, der Verdrängung, des Widerstands, der Lebenslust aus Vergangenheit und Gegenwart trägt der Ort?
– Spiritueller Tourismus: Das war mein liebster Teil des Projekts. Wir haben mehr als Stadtführungen entwickelt. Wir haben andere Fragen gestellt und andere Orte gesucht und gefunden. Und manches ist – weil eben keine 50.000 Menschen kamen, nicht mal 10.000, sondern nur 3.000 – auch ausgefallen.
– Höhepunkt waren die Brücken: 17 Brücken führen über den Karl Heine Kanal, eine belebte und beliebte Wasserstraße der Stadt. Wir haben diese Brücken „bespielt“, sie gestaltet mit Kunst, Klang, Gespräch, Bildern, Geräuschen. Orte zum Aussteigen und Reden – auch ein Gespräch mit einer Nachfahrin Katharina Luthers war möglich. Theater auf der Brücke vom Wasser aus erleben: Die ausleihbaren Boote waren zwei Tage lang ausgebucht. Lebendige Begegnungen an Zeuginnen der Geschichte, an Symbolen der Stadtentwicklung.

Was war das Geistliche?

Gottesdienst als Bewegung im Stadtraum, als Begegnungsort für Passanten und Akteurinnen, als Kommunikation des Evangeliums in der Öffentlichkeit. Raus aus den Kirchen, rein ins Leben. Es ist möglich: Das war für mich keine Überraschung, aber eine Genugtuung, dass es wieder gelungen ist. Es braucht begeisterte Menschen und dann Einfallsreichtum und Mut, das Unvollkommene gelten und den Geist Gottes wehen zu lassen, wo sie will. Die Spuren der Vergangenheit führen uns den Weg: Erinnerungen wecken und wahren – etwa ein ehemaliges Zwangsarbeiterinnenlager im Park benennen. Menschen Räume eröffnen, Deutung des Lebens ermöglichen und Gott ins Spiel bringen. Das sind Zeichen der Gegenwart Gottes, Elemente des Gottesdienstes im Profil solcher Angebote.

Aufbrechen. Ankommen. Verweilen. Vertiefen. Umkehren. Ankommen.

Lied
Alle meine Quellen entspringen in dir
Materialteil S. 46

Eröffnung
Wir machen uns miteinander auf den Weg. In unserer Nähe befindet sich eine Quelle (…), ein Bächlein (…). Diesen Ort wollen wir entdecken.

Aufbrechen. Ankommen.
Informationen zum Ort gebenvielleicht durch eine Kontaktperson aus dem Um­­feld, die sich der Quelle, dem Gewässer besonders verpflichtet fühlt

Psalm 87
Wir lesen im Wechsel:
1Auf heiligen Bergen ist die Stadt gegründet.
2Ha-Schem liebt die Tore Zions mehr als alle Wohnstätten Jakobs.
3Bedeutendes wird von dir gesagt, Stadt der Gottheit.
4Ich rechne Rahab und Babel zu denen, die mich kennen,
auch Philistäa und Tyrus zusammen mit Kusch:
Dieser und diese sind dort geboren.
5Über Zion wird gesagt: Jede und jeder ist in ihr geboren.
Gott selbst erhält sie, Gott in der Höhe.
6Ha-Schem zählt, während er die Völker aufschreibt:
Dieser und diese sind dort geboren.
Alle:
7Sie singen, während sie tanzen: In dir sind alle meine Quellen.
7Sie singen, während sie tanzen: In dir sind alle meine Quellen.

Lied
Alle meine Quellen entspringen in dir

Verweilen. Vertiefen.
Zwei Frauen sprechen abwechselnd (langsam, mit Pausen) die folgenden Wort- und Sprachspiele. So bilden sie eine Art „Textraum“ zum Verweilen und Vertiefen.

Wasserspiel – Licht
Schöpfungsbeginn – Lebensquelle
Zuflucht – Mangel
hüten – graben
suchen – finden
Wassergeister – Segenswasser
Taufwasser – stilles Wasser
Tränenwasser – Fruchtwasser
ertränken – gebären
stillen – brausen
Wellen – ruhen
Wasserader – Wasserweg
Durst – Hoffnung

Lesung aus Genesis (16,1-16)
1Doch Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin, deren Name Hagar war. 2Da sagte Sarai zu Abram: „Sieh doch, Adonaj hindert mich zu gebären. Geh doch zu meiner Sklavin, vielleicht wird durch sie mein Haus gebaut.“ Und Abram hörte auf die Stimme Sarais. 3Nachdem Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, nahm deshalb Abrams Frau Sarai ihre ägyptische Sklavin Hagar und gab sie ihrem Mann Abram zur Frau. 4So ging er zu Hagar und sie wurde schwanger. Doch als sie merkte, dass sie schwanger war, verlor ihre Herrin an Gewicht in ihren Augen. 5Da sagte Sarai zu Abram: „Die Gewalt, die mir geschieht, komme über dich! Ich selbst habe meine Sklavin in dein Bett gelegt. Doch kaum merkt sie, dass sie schwanger ist, verliere ich an Gewicht in ihren Augen. Adonaj soll richten zwischen mir und dir.“ 6Abram sagte zu Sarai: „Schau, deine Sklavin ist in deiner Hand. Mach mit ihr, was dir gefällt.“ Da demütigte Sarai sie so, dass sie vor ihr die Flucht ergriff.

7Adonajs Bote fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur, 8und sprach sie an: „Hagar! Du Sklavin Sarais, woher kommst du und wohin willst du?“ Sie sagte: „Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.“ 9Da sprach Adonajs Bote zu ihr: „Kehr um zu deiner Herrin und lass dich von ihrer Hand demütigen.“ – 10Weiter sprach Adonajs Bote zu ihr: „Ungeheuer vermehren will ich deine Nachkommen, so dass man sie vor Menge nicht zählen kann.“ – 11Weiter sprach Adonajs Bote zu ihr: „Sieh dich an, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären, den sollst du Ismaël nennen, ›Gott hört‹, denn Adonaj hat deine Demütigung gehört. 12Der wird ein Wild­esel-Mensch sein, seine Hand streckt er nach allem aus und die Hand aller ist gegen ihn. Allen Kindern Sarais und ­Abrams zum Trotz wird er sich niederlassen.“

13Da schließlich gab sie Adonaj, der Gottheit, die mit ihr redete, einen Namen: „Du bist El Roï, ein Gott des Hinschauens.“ Denn sie sagte: „Sogar bis hierher? Ich habe geschaut hinter der her, die mich anschaut.“ 14Daher heißt der Brunnen: ›Brunnen der lebendigen Schau‹. Siehe, er liegt zwischen Kadesch und Bered. 15Und Hagar gebar dem Abram einen Sohn, und Abram nannte seinen Sohn, den Hagar geboren hatte, Ismaël. 16Abram war 86 Jahre alt, als Hagar für Abram den Ismaël gebar.

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Die TN einladen, Worte in die Runde zu rufen, die bleiben sollen.

Du bist ein Gott, ein hinschauender Gott, eine sehende Göttin.
Du siehst mich.

Mit wechselnden Stimmen langsam vorlesen – mit Zeit für die Zuhörenden, den so entstehenden Sinn-Raum wahrzunehmen und einmal hierhin, einmal dorthin zu denken:

Kehr um, lass dich demütigen. – ein
„text of terror“ (Phyllis Trible)
niemals – immer wieder
sehenden Auges – reine Wahrheit
Widerstand – aufstehen
hingehen – dulden
widerstehen – mächtige Angst
ohnmächtiges Hoffen – gesehen
angesehen – wahrgenommen
ungeschönt – Gewalt

Lied
Du bist ein Gott, der mich anschaut

Umkehren
Geht zurück. Kehrt um.
Nicht in die Gewalt, hoffentlich.
Sondern in die Tiefe eures Lebens.
Geht unter dem Segen des sehenden Gottes.
Gott sieht dich an. Du bist angesehen.

Ankommen …
… am Ausgangsort der Erkundung: Wasserwege in unserem Ort / in unserer Stadt. Am Wasser gebaut.

Christiane Thiel, geb. 1968 in Freiberg/Sachsen, ist mit Leib und Seele Pfarrerin in Ostdeutschland – und jetzt überglücklich, in Halle mit Studierenden und an Hochschulen arbeiten zu dürfen. Ihrer Leidenschaft für Sprache gibt sie auch als Autorin verschiedener Bücher Raum. Christiane Thiel ist verheiratet mit Christian Rabe und Mutter von drei wilden Söhnen.

Lied: Du bist ein Gott, der mich anschaut (Hahars Lied)

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