Ausgabe 2 / 2004 Andacht von Gisela Egler

Um des Lebens willen

Eine Andacht um Mitgefühl

Von Gisela Egler

 

Wenn der Pharao das gewusst hätte! Erst befiehlt er – aus Angst, dass das Volk Israel zu groß werden könne – alle männlichen Babys in den Nil zu werfen und alle Töchter leben zu lassen. Wenn er gewusst hätte, was die Töchter machen, hätte er sicherlich anders entschieden.

Denn es geschieht Folgendes: Eine dieser Töchter gebiert einen Sohn, und was tut sie? Sie gehorcht Pharao nicht. Jochebed, so wird die Mutter Moses an anderer Stelle genannt, greift zielbewusst in das Geschehen ein und versteckt ihr Kind. Aber nach drei Monaten geht das nicht mehr. Was nun? Wirft sie ihren Sohn in den Nil? Ja – und doch ganz anders, als sich der Pharao das gedacht hat: Sie setzt ihn in einen Papyruskasten, den sie selbst gebaut hat. Ein ähnlicher Kasten, nur viel größer, hatte schon einmal die Menschheit gerettet. Beide Male das gleiche hebräische Wort für DEN KASTEN. Einmal die Arche Noah und dieses Mal ein Papyrus-Kästchen. Beide Male dient es der Rettung des Lebens. Beide Male vertrauen Menschen darauf, dass Gott bei ihnen ist und sie in einer ausweglosen Situation nicht alleine lässt. Und nun?

Gottvertrauen und menschliches Handeln ergänzen einander. Das Kind wird nicht einen Augenblick sich selbst überlassen. Seine Schwester Miriam beobachtet aus einiger Entfernung, was ihrem Bruder zustößt. Sie will da sein, wenn sie gebraucht wird. Ja, Gottvertrauen und eigenes Handeln gehen Hand in Hand, bilden eine Einheit.

Und da ist noch die Tochter Pharaos. Sie sieht den Kasten auf dem Fluss. Zum Vergnügen ist sie an den Fluss gekommen. Baden wollte sie – die Tochter des Mannes, der den Todesbefehl gegeben hatte und mit Ungerechtigkeit herrscht.
Sie hat ihre Magd gesandt, um den Kasten zu holen. Sie ist neugierig gewesen, hat wissen wollen, was sich darinnen befindet. Und jetzt geschieht etwas Unerwartetes. So in der Bibel: „Und als sie es auftat, sah sie das Kind. Und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie und sie sprach: Es ist eins von den hebräischen Kindlein“ (1. Mose 2,6). Sie, die als Tochter des Pharaos abhängig ist vom System ihres Vaters, von ihm profitiert, sie handelt nicht als gehorsame Tochter und übergibt das Kind den Soldaten, damit sie es umbringen. Nein! Sie hat Mitleid mit diesem wehrlosen Geschöpf, das wegen seiner Herkunft vom Tod bedroht ist.

Mitleid! Eine Kraft, die den Gesetzen des Todes Einhalt gebietet. Eine Macht, die das geltende Gesetz, wenn es den Tod verordnet, überwindet.
Ohne große Worte eröffnet es den Weg zu anderem Handeln: Mitleid! Hier ist es jedenfalls keine einsame Sache, die im Fühlen stecken bleibt. Mitleid, Mitgefühl, griechisch „Sympathie“. Es ist mehr als das Sich-sympathisch-finden, das nur das eigene Gefühl betrifft und eine Einschätzung des anderen Menschen bedeutet. Mitgefühl, Sympathie – Wurzel und Grundlage des Handelns, nicht nur in dieser Geschichte überlebenswichtig.

Die Tochter Pharaos wird mit ihrem Mitgefühl nicht alleine gelassen. Im rechten Augenblick tritt Miriam auf, die das Geschehen von Ferne verfolgt hat. Sie hilft der Tochter des Pharaos, ihr Mitgefühl in die Tat umzusetzen. Sie, die hebräische Sklavin, wagt es, die Vertreterin des Unrechtsstaates anzusprechen. Welcher Mut, welches Vertrauen darauf, dass dieses Mitgefühl echt ist und nicht geheuchelt, um die Drahtzieher der Aktion zu fassen! Also die zu fassen, die sich dem Befehl des Pharaos widersetzen. Mitgefühl, Mut und Klugheit gehören hier zusammen. Jede tut, was sie kann, um Leben zu retten, an jeweils ihrem Ort.

Nun zurück zu Moses. Das Kind weint. Allen ist klar, dass es Hunger hat. Daran knüpft die Schwester des Moses an und sagt zu der Tochter des Pharaos: „Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die stillt, dass sie dir das Kindlein stille? Die Tochter des Pharaos sprach zu ihr: Geh hin.“ Daraufhin holt Miriam ihre Mutter. Keine großen Debatten darüber, was zu tun sei, werden geführt. Erst wird das auf der Hand liegende Problem angegangen, eine konkrete Lösung gesucht.
Miriam und die Tochter Pharaos, in der jüdischen Tradition Biitja genannt, wahren nach außen ihre jeweiligen Rollen. Die hebräische Sklavin fragt die Herrscherin. Die Herrscherin befiehlt. Und doch ist zugleich alles anders geworden. Ein wichtiger Schritt zur Befreiung Israels aus der Gefangenschaft Ägyptens ist getan.

Grenzüberschreitend – die Vertreterin der Macht, der Unterdrücker und Vertreterinnen der Unterdrückten arbeiten zusammen für das Leben. Gottes Wege des Lebens machen nicht Halt vor von Menschen gesetzten Grenzen.

Diese Geschichte wird nicht nur in der Bibel erzählt. Auch im Koran wird die Rettung des Mose berichtet (Sure 28,7- 13). Dort ist es die Frau des Pharaos, die Moses aufnimmt, die zusammen mit der Schwester und der Mutter Moses zusammen handelt – gemeinsam mit Mitgefühl, Mut und Klugheit. Die Frau des Pharaos wird im Koran als Vorbild für die Gläubigen bezeichnet (Sure 66,11). Denn sie setzt ihr Vertrauen auf Gott und nicht in die Herrschaft des Pharaos und nimmt dabei auch Leid in Kauf.
Mitgefühl, Mut und Klugheit – kann das nicht die Brücke sein für ein Miteinander zwischen Christen und Muslimen und nicht nur zwischen ihnen? Dann muss unterschiedlicher Glaube, müssen unterschiedliche Überzeugungen nicht trennen, sondern können alle Beteiligten, wie das Beispiel der Frauen dieser Geschichte zeigt, sich von Mitgefühl und Sympathie leiten lassen.

Gisela Egler, Jahrgang 1960, hat evangelische Theologie und Islamwissenschaften studiert und als Gemeindepfarrerin und – bis zum Beginn ihrer Erziehungszeit – auf einer Projektstelle der Ev. Kirche in Hessen und Nassau im Bereich des christlich-islamischen Dialogs gearbeitet.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus: Themenhefte: Gemeindearbeit. Schritte aufeinander zu – Muslime und Christen © Bergmoser + Höller Verlag AG, Aachen

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