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Umwölkt ist mein Gemüt

Pastoralpsychologische Notizen zu Rast und Depreession

Von Thomas Beelitz

Es geht nicht! Es geht nichts. Depression nervt. Bei einem depressiven Menschen zu sitzen, ist eine besondere Herausforderung. Es geht fast nicht. „Sie könnten doch mal …“, möchte man immer wieder vorschlagen. Nein, es geht nicht. Nichts scheint zu gehen.

Eins der Dinge, die im Umgang mit depressiven Menschen auffallen, ist ihre Unerbittlichkeit, die Macht, mit der nichts geht und mit der nichts angenommen werden will. Das mag dann wie eine wüste Ödnis aussehen oder sich anfühlen wie eine lärmende Maschine. Auch ganz ungewöhnliche Bilder werden für den quälenden Kreislauf gefunden.

Eine Patientin beschreibt: „Das ist wie eine Katze, die sich in den Schwanz beißt und dabei versucht, die Ohren zu treffen.“ Dieser Geist der Verneinung ist bereit, es mit allem aufzunehmen! Die Unerbittlichkeit der Verneinung kann im Extremfall buchstäblich grenzenlos sein. Menschen, Partner, Kinder, Eltern, Helfer, Gott und die Welt, auch das Wetter und die Jahreszeiten, nichts geht, nichts geht mehr, nichts passt.

Für die schwer depressiv Erkrankten ist die landläufige November-Depression weniger das Problem:

Die Angst geht um, November droht zu bleiben.
Nie wieder langer Tage Heiterkeit.
Die letzten Fliegen fallen von den Scheiben,
und Stillstand folgt dem Schnellimbiss der Zeit.

Günter Grass, Novemberland.
13 Sonette, Göttingen 1993, 21

Für depressiv Erkrankte entsteht das Problem eher im Frühling, also wenn es draußen wieder heller wird, alles sprosst und grünt – und die eigene Welt so deutlich nicht passt und sie/er nicht mitgehen kann. Dann müssen unter Umständen die Vorhänge zugezogen werden! Bezeichnender Weise droht ja eine erhöhte Gefahr, dass sich ein/e depressiv Erkrankte/r doch noch das Leben nimmt, in dem Moment, wo es anfängt, ihr/ihm besser zu gehen. Umgekehrt wird manchmal abends, wenn es draußen dunkel wird, Erleichterung erlebt.

Platz für Depression in der Religion?
Und wenn nichts (mehr) geht, ist die Religion gefragt, sollte man meinen. Aber auch sie gerät in diese Zwickmühle. Ihre Antworten gehen nicht. Lösungen können auch von ihrer Seite nicht angenommen werden. Manchmal wird die Religion dabei auch selber zur Sprache der Depression.

Grundsätzlich aber gilt: Gut gemeinte Ratschläge schaden, sie quälen depressiv Erkrankte zusätzlich und behindern sogar den Besserungsprozess. Schlimm­s­tenfalls drängen gute Ratschläge paradoxerweise in den Suizid. Doch Fragen, die nichts bringen (dürfen), haben alle Seiten reichlich. Es herrscht buchstäblich eine grauenhafte Ratlosigkeit. Dass depressiv Erkrankte mit ihrem Empfingen eines überwältigenden Bösen auch einfach Recht haben (können), wie William James bemerkte,1 ist kaum auszuhalten. Aber inzwischen helfen oft Medikamente tatsächlich. Und erleichternd kann gewusst werden, dass Antidepressiva nicht abhängig machen. Manche Betroffenen beklagen auch, dass das aktuelle Wort „Depression“ für das, was ja früher eher Melancholie („Schwarzgalligkeit“) hieß, ein viel zu schwäch­licher Ausdruck ist.
Welchen Platz hat also, so ist zu fragen, die Religion für schwere Depression? Das müssen die einzelnen religiösen Traditionen natürlich je für sich beantworten. Selbst für die christliche Seite, der man diesbezüglich einiges zugetraut hat, ist das nicht so einfach. Man muss ziemlich lange suchen.

Im Zusammenhang mit katholischer Kreuzwegfrömmigkeit gibt es gelegentlich die Station „Christus in der Rast“. Der sitzend dargestellte Christus, manch­mal mit aufgestützter Hand, vermittelt sinnenfällig: „Es geht nicht (weiter)!“ Der Rast-Christus ist ein Platz, den die christliche Tradition für aktuelle und erlittene Depression offenzuhalten scheint. Aber geht es denn, Fäden im beziehungsweise ins Nichts zu spinnen? Wer im Krankenhaus oder im Pflegeheim arbeitet, kennt die verlassenen leeren Stühle, die manchmal in den Treppenhäusern auf den Treppenabsätzen stehen – trotz Brandschutzverordnung. Hier nehmen Patienten Platz, wenn es nicht mehr geht, wenn etwa beim körperlichen Üben auf der Treppe, die Kräfte versagen.

Im Bild hat das Günter Habermehl festgehalten: eine moderne Ikone.2 Das Bild (s.S. 79) zeigt verdichtet konkreten Kran­kenhaus­alltag, persönliches Erleben von Leid und Schmerz. In pastoralpsychologischer Fortbildung verwendet – in diesem Fall dank dem Heidelberger Institut der Erzdiözese Freiburg – versinnbildlicht und erschließt es Inseln für Rast und Aufstehen im alltäglichen Getriebe der Klinik.

Andere haben vielleicht anderes gefunden. In der protestantischen Ortho­doxie etwa gab es die Gattung der Trostschriften, die sich der Acedia, der ungeliebten, geistigen Trockenheit beziehungsweise der gefürchteten „großen Müdigkeit“, die mit Depression verwandt sind, widmeten. Die Nähe zum aktuell sogenannten Burnout-Syndrom liegt auf der Hand. Tatsächlich aber hat unsere aktuelle theologische Tradition wenig Platz für starke Gefühle, zumal wenn sie sich so heftig negativ aus­drücken. Die üblichen Hinweise auf Friedrich Schleiermacher („das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“) und Søren Kierkegaard („der Begriff Angst“) helfen nicht weiter.

Beim Thema Depression wird es vor ­allem, wie die klinische Erfahrung zeigt, um den Neid gehen müssen; dabei ist an den destruktiven, den mörderischen Neid auf jedwede Lebensqualität oder -funktion, wo auch immer sie sich findet, zu denken.3 Bereits vor mehr als 50 Jahren hatte H. Richard Niebuhr (1894–1962) eine „Wiederherstellung des Fühlens“ in der Theologie selber ­angemahnt. Richtig viel aber hat sich in den theologischen Arbeitsfeldern diesbezüglich wohl nicht getan.

Bleiben-Können. Gehen-Können.
Bei einem depressiven Menschen sitzen bleiben zu können, wie das Angehörige manchmal können, ist eine religiöse Tat. Es kann im Leben halten, einfach durch da sein und durch wiederkommen und durch stellvertretendes Hoffen. „Kurze stützende und regelmäßige Kontakte sind wichtiger als lange Gespräche, die mit depressiven Menschen sowieso häufig nicht gelingen.“4

Aber dazu brauchen auch wir selber immer wieder Lebensvergewisserungen, die in diese Situation zu sprechen scheinen. Eine, die mir jüngst begegnete, ist ein Hinweis von H. Richard Niebuhr auf Hamlet. Der jüngere der Niebuhr-Brüder war selbst Ende 1944 wegen Depression in der Klinik. Jede und jeder, schreibt der geschätzte Theologe, die in ihrer Freiheit den eigenen Tod bedenken, teilten die von Hamlet zum Ausdruck gebrachte Sorge: „Denn was im Todesschlaf an Träumen käme, wenn wir dem sterblichen Wirrwarr entschlüpft sind, das muss uns anhalten.“5 Da er auf Shakespeare hört, entgeht Hamlet zunächst der Tragödie.

Das Geschöpf-Sein als Entzug
Niebuhrs Anregung und die Frage nach Fäden ins Nichts erinnern daran, dass Sigmund Freud die Melancholie als gleichsam objektlose Trauer beschrieben hat. Anders als bei üblicher Trauer ist das Objekt der Trauer unbewusst, ist im Ich verloren.6 Wer oder was betrauert wird, wird nicht gekannt. Daher rührt wohl auch die Grenzenlosigkeit der Melancholie. Aber vielleicht bringt das ein wenig Licht ins totale Dunkel, das aufgespannt erscheint zwischen dem noch nicht zu Ende gebrachten Selbstmord und der äußerst mühevollen Annahme einer unerträglich ambivalenten Objektbeziehung.

Vielleicht hilft auch das Licht, das sich theologischer Beobachtung verdankt: „Wir sind in den Händen einer Macht, die weder unsere Zustimmung erfragt, bevor sie uns in die Existenz bringt, noch unser Einverständnis einholt zu ­einer Fortsetzung unseres Seins jenseits unseres physischen Todes. Früher oder später wird uns klar, dass die Dinge so liegen.“7 Nicht, dass es womöglich solch eine Macht gibt, ist schon tröstlich oder hier interessant. Hilfreich wird diese Beobachtung, wenn man auf die darin wahrgenommene Beziehung als spürbare existenzielle Begrenzung aufmerksam werden kann. Das lässt sich auch für sich selber festhalten. Als „Geschöpfe“ sind wir uns entzogen; darin besteht unsere „unfreie Freiheit“ (ebd.) Wie gesagt: womöglich eine Anregung, kein Ausweg und kein Rezept mit Garantie.

Religion und/oder Sozialpsychiatrie?
Noch ein praktisch-pragmatischer Nach­satz: Fehl- und Unterversorgung sind im Zusammenhang mit Depression weit verbreitet. Religion kann hier, wenn sie sich selber aktiv der Sozialpsychiatrie öffnet, bei religiös gebundenen depressiv Erkrankten das nötige Zutrauen erwecken, dass mit der eigenen Depression noch anders als bisher umgegangen werden kann. Erfahrungen mit dem aktuellen Projekt in Berlin „Psychiatrie-Info in der Moschee“ haben das zeigen können.

Wenn sich andererseits aber Religion abschottet, zum Beispiel aus missverstandener Konkurrenz gegen sozialpsychiatrische Versorgungsangebote, stellt sie besonders auch für Depressive ein ausgesprochenes Gesundheitsrisiko dar. Manche orthodoxe beziehungsweise fundamentalistische religiöse Gemeinschaften schließen sogar grundsätzlich aus, dass man als Mitglied seelische Schwächen haben kann. Das damit verbundene Gesundheitsrisiko trifft besonders die männliche Seele. Aktuelle Studien aus dem orthodox-reformierten Milieu in den Niederlanden haben das zeigen können.8


Thomas Beelitz ist seit mehr als 20 Jahren Pfarrer in der Klinikseelsorge, Schwerpunkt Psychiatrieseelsorge. Er ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie e.V. (DGfP).

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus: JUNGE.KIRCHE – Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Ausgabe 3/2014 – www.jungekirche.de

Anmerkungen
1) William James: The Variety of Religious Experience. A Study in Human Nature, New York 1902/1958, 138
2) Günter Habermehl, o.T., Graphik 1997, in: Institut für Klinische Seelsorgeausbildung (KSA) der Erz­diözese Freiburg in Heidelberg (Hrsg.), Programm für das Jahr 1997/1998.
3) Wilfried Bion: Attention and Interpretation, ­London 1970/1984, 20 (dt.: Aufmerksamkeit und Deutung, Frankfurt am Main 2006, 309).
4) Michael Klessmann, Seelsorge mit depressiven Menschen. Pastoralpsychologische Perspektiven, in: Friedrich Heckmann (Hrsg.), Lebensweisheit und Praktische Theologie (FS Christiane Burbach), ­Göttingen-Bristol 2014, 115-131, 125.
5) William Shakespeare, Hamlet III, 1 (Übersetzung Erich Fried)
6 Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (1917 [1915]), in: Ders., Psychologie des Unbewußten (Alexander Mitscherlich, Angela Richards & James Strachey [Hrsg.], Studienausgabe; Bd. III), 11. Auflage, Frankfurt am Main 2012, 193-212.
7 H. Richard Niebuhr, Faith on Earth: An Inquiry into the Structure of Human Faith (Richard R. Niebuhr, Hrsg.), New Haven-London 1989, 66 (Übers. TB).
8 siehe Elisabeth H.M. Eurelings-Bontekoe & Patrick Luyten: The Relationship Between an Orthodox Protestant Upbringing and Current Orthodox Protestant Adherence, DSM-IV Axis II B Cluster Personality Disorders and Structural Borderline Personality Organisation, in: Peter J. Verhagen, Hermann M. van Praag, Juan J. López-Ibor, John L. Cox & Driss Moussaoui (Hrsg.), Religion and Psychiatry: Beyond Boundaries (World Psychiatric Association. Religion, Spirituality and Psychiatry Section), Oxford – New York 2010, 373-387.

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