Ausgabe 2 / 2009 Bibelarbeit von Katrin Keita

Und fanden Abischag aus Schunem

Bibelarbeit zu 1 Könige 1-2

Von Katrin Keita


„Jetzt nehmen wir mal die Äpfelchen“, sagt der junge Pfleger und wäscht behutsam Oma Emmis Brüste. Er könnte ihr Enkel sein. Sie freut sich jedes Mal, wenn er kommt.

Der junge Mann macht aus der hygienischen Notwendigkeit ein Verwöhnprogramm mit erotischen Anklängen. Er behandelt Oma Emmis Körper nicht wie einen geschlechtslosen Gegenstand, sondern bewahrt ihre Würde als Frau. Sie genießt es und ist ihm dankbar.

Shala ist Studentin aus dem Iran und muss jobben, um sich ihr Studium in Deutschland zu finanzieren. Sie findet schließlich eine Stelle bei einem schwer körperbehinderten Mann, der sie als seine persönliche Assistentin beschäftigt. Er kommt mit seinen Einschränkungen nicht klar und lässt oft seinen Frust an ihr aus. Er weiß, wie sehr sie auf das Geld angewiesen ist. Schließlich verlangt er von ihr, dass sie ihn sexuell befriedigen soll. Sie weigert sich und kündigt.


Sie soll seine Pflegerin sein

Wo immer Frauen Männer oder Männer Frauen pflegen, wo immer Männer Männer und Frauen Frauen waschen und anziehen, kann Sexualität im weiteren Sinne eine Rolle spielen. Nacktheit, Körperkontakt und freundliche Zuwendung können zärtliche Gefühle und erotische Phantasien auf beiden Seiten auslösen. Die Bibel erzählt in 1 Kön 1-2 von einer solchen Pflegebeziehung. Das Besondere an dieser Erzählung ist: Hier werden Sexualität und Pflege geplant ineinander verwoben. Die Gefolgsleute des alternden David suchen eine junge, schöne Frau, die den König pflegen soll. Sie finden Abischag aus Schunem. Ihr Dienst besteht darin, dass sie David wärmen und – wörtlich – in seinem Schoß(1) schlafen soll. Dass der König letztlich mit Abischag nicht sexuell verkehren kann oder will, ist ein Zeichen für seine zunehmende Schwäche. Und ein Signal für diejenigen seiner Söhne, die David beerben und nach ihm König werden wollen.

1König David wurde alt, er kam in die Jahre. Da hüllten sie ihn in Decken, doch wurde es ihm nicht mehr warm. 2Und -seine Gefolgsleute sagten zu ihm: „Für meinen Herrn, den König, soll eine junge, unverheiratete Frau gesucht werden. Und sie soll vor den König hintreten und seine Pflegerin sein, sie soll sich an seine Brust legen, damit meinem Herrn, dem König, warm werde.“ 3Da suchten sie im ganzen Gebiet nach einer schönen jungen Frau und fanden Abischag aus Schunem. Diese brachten sie zum König, 4denn die junge Frau war sehr schön. Und sie pflegte den König und betreute ihn; der König aber rührte sie nicht an.2

Die Geschichte Abischags geht noch weiter. Wenige Verse später ist in einer scheinbaren Randbemerkung von ihr die Rede: 15Und so ging Batseba ins Schlafzimmer des Königs. Der König aber war sehr alt geworden und Abischag aus Schunem betreute ihn. Bei diesem Besuch überredet Batseba David, ihren gemeinsamen Sohn Salomo zum König zu machen anstelle seines ältesten Sohnes Adonija. Und Abischag hört alles mit an.

Nachdem David gestorben ist und Salomo auf dem Thron sitzt, wünscht sich sein Bruder Adonija Abischag zur Frau (1 Kön 2,13-25). Er bittet Batseba, für ihn bei Salomo Fürsprache zu halten. Salomos Reaktion auf diese Bitte seiner Mutter ist heftig: 22Und warum erbittest du Abischag aus Schunem für Adonija? Erbitte doch gleich das Königtum, denn er ist mein älterer Bruder und hinter ihm stehen der Priester Abjatar und Joab ben-Zeruja. Weil Adonija die Pflegerin seines Vaters heiraten möchte, lässt Salomo ihn töten. Zum weiteren Schicksal Abischags schweigt der biblische Text. Es ist anzunehmen, dass sie den Rest ihres Lebens als unverheiratete Frau in den Haremsgemächern König Salomos verbringen musste.


Nur Krankenschwester?

Wer war Abischag wirklich? War sie Davids Krankenschwester, seine Geliebte, seine Königin oder eher eine Art Verwalterin? Warum wurde sie an den Hof geholt? Welche Hintergedanken hatten Davids Gefolgsleute, als sie Abischag zu dem greisen König brachten? Sollte sie ihn pflegen? Oder ihn testen? Die Antworten, die der Text gibt, sind widersprüchlich.

Die Erzählung stellt Abischag ausführlich vor, nennt zu ihrem Namen auch die Stadt ihrer Herkunft, Schunem. Das geschieht sonst nur bei Königinnen oder anderen wichtigen Frauen und passt nicht zu einer Dienerin oder Krankenschwester. Auch die heftige Reaktion Salomos auf den Heiratswunsch Adonijas ist kaum zu erklären, wenn Abischags Rolle lediglich die einer Pflegerin gewesen ist. Der König hat mit Abischag nicht (im sexuellen Sinne) geschlafen, deshalb kann sie auch nicht als seine Geliebte verstanden werden. Doch was war sie dann?

Zweimal wird Abischag in 1 Kön 1,1-4 als sokint bezeichnet. Dieses Wort kommt nur hier im Alten Testament vor. Deshalb ist seine Bedeutung nicht ganz sicher. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt es mit „Pflegerin“. Die männliche Form dieses Wortes, sokin, wird auch in Jes 22,15 gebraucht; dort bedeutet es „Verwalter“, „Statthalter“, „Beauftragter“. Das dazugehörige Verb sakan ist nur im Hiobbuch zu finden und heißt dort so viel wie „nützlich sein“ (z.B. Hi 15,3). Die Übersetzung „Pflegerin“ ist demnach in erster Linie aus dem Textzusammenhang begründet: David ist alt und hinfällig. Abischag soll den greisen König wärmen, sie soll sich zu ihm legen, sie soll ihm dienen. Das könnte im weitesten Sinne als „Pflege“ bezeichnet werden.

Die Alttestamentlerin Maria Häusl ist anderer Auffassung. Sie nimmt an, dass das Wort sokint – ähnlich wie die männliche Form sokin – eine Amtsbezeichnung ist. Doch was für ein Amt sollte Abischag inne gehabt haben? Verwalterin des Harems? Sonderbeauftragte für Pflegefragen? Und warum musste sie für die Ausübung dieses Amtes „schön“ (VV. 3-4) sein? Warum suchten Davids Gefolgsleute eine junge Frau im heiratsfähigen Alter? Der Text gibt mehr Rätsel auf, als er löst.

Vielleicht liegt eine Erklärung darin, dass Abischag eine zweifache Aufgabe hat: Zum einen soll sie König David wärmen und ihm damit neues Leben einflößen. So wird ihm ihre Anwesenheit auch verkauft. Ihre Schönheit qualifiziert sie gemäß dieser Deutung für den Dienst beim König, für den nur das Beste gut genug sein kann. Dass eine Jungfrau einem alternden männlichen Körper neue Kraft verleihen konnte, war eine verbreitete magische Vorstellung. Ob dazu in der israelitischen Vorstellung sexueller Verkehr mit der Jungfrau nötig war, bleibt unsicher. In anderen Kulturen und zu anderen Zeiten gab und gibt es beides: In Europa gab es beispielsweise bis zur Renaissance die Auffassung, dass es die Gesundheit eines alten, kranken Mannes fördere, wenn er neben einem jungfräulichen Mädchen liege, aber ohne sexuellen Kontakt. Denn dieser sei der Gesundheit eines solchen Mannes eher abträglich3. Anders ist es noch heute in manchen Teilen Afrikas: Dort glauben einige Männer, dass der sexuelle Verkehr mit einem jungfräulichen Mädchen gesund macht und Leben verlängert. Insbesondere AIDS-kranke Männer stecken aufgrund dieses Aberglaubens immer wieder junge Mädchen an.

Zum anderen wollen die einflussreichen Leute am Hof wissen, ob König David noch fähig ist, mit einer Frau sexuell zu verkehren. Dies zu prüfen ist die zweite Aufgabe Abischags – ohne, dass anzunehmen ist, dass sie in diesen Plan eingeweiht ist. Ihre Schönheit gehört hier quasi zum Versuchsaufbau. Hinter diesem Test steht offenbar die Überzeugung, dass die Potenz eines Königs seine Potenz als Mann voraussetzt. Umgekehrt: Ist der König sexuell impotent, taugt er auch als Herrscher nicht mehr. Dass im Umfeld König Davids so gedacht worden ist, ist aus den hektischen Aktivitäten am Hof zu schließen, die unmittelbar nach Feststellung seiner Impotenz (V. 4) losbrechen: Adonija meldet seinen Anspruch auf den Königsthron an und bemüht sich, die Palastwache und den Priester auf seine Seite zu ziehen (V. 5). Der Prophet Natan und Königin Batseba intrigieren gegen Adonija und überreden König David, den jüngeren Salomo als Nachfolger zu bestimmen.

Und Abischag ist mittendrin (V. 15).
Sie erlebt, wie einer nach dem anderen zu dem bettlägerigen David kommt, ihm aus seiner Sicht die neuesten Ereignisse schildert und versucht, ihn zu manipulieren. Sie wird zur unfreiwilligen Zeugin. Als solche kann sie Salomo gefährlich werden, der sich in diesen Wirren schließlich als König durchsetzt(4) . So lange sie unter seiner Aufsicht im königlichen Harem lebt, hat er von ihr nichts zu befürchten. Doch eine Heirat Abischags mit Adonija würde die Wahrheit ans Licht bringen. Deshalb muss Salomo die Heirat unbedingt verhindern. Indem er Adonija ermorden lässt, behält er die Kontrolle über Abischag und räumt gleichzeitig noch einen lästigen Konkurrenten um den Thron aus dem Weg. Hier zeigt sich eine weitere Funktion des Motivs der Schönheit Abischags: Weil sie schön ist, gewinnt sie die Zuneigung Adonijas. Auch er wird – wie Abischag – „sehr schön“ genannt (1 Kön 1,6). Letztlich wird ihre Schönheit ihnen beiden zum Verhängnis.

Wer war Abischag? Ich fasse noch -einmal zusammen, was der biblische Text über sie preisgibt: Sie ist eine junge Frau, die nach Jerusalem kommt, um David „zu nützen“. Sie pflegt ihn und kümmert sich um seine körperlichen Bedürfnisse. Möglicherweise sind diese Aufgaben zur damaligen Zeit Teil eines offiziellen Amtes.

Gleichzeitig ist Abischag mehr als eine Krankenschwester. Es ist gut vorstellbar, dass sie – entgegen dem Plan der Gefolgsleute Davids – zur Vertrauten des Königs wird. Sie ist Tag und Nacht mit ihm zusammen, und sie ist die Einzige in seiner näheren Umgebung, von der David annehmen kann, dass sie ihn nicht manipulieren will. Vielleicht ist es zutreffend, sie seine „persönliche Assistentin“ zu nennen – ein Begriff, der heute häufig in der Betreuung von Menschen mit Behinderung verwendet wird und sowohl Pflege als auch weitergehende Unterstützung umfasst. Aber Abischag nützt David nicht nur, sie wird auch benutzt. Die einflussreichen Leute am Hof legen dem Greis David das Mädchen ins Bett, ohne im mindesten auf dessen eigene Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Doch trotz ihrer Jugend und völligen Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer scheint Abischag eine starke Frau zu sein. Nur so ist zu erklären, dass Salomo sie als Gefahr empfindet und befürchten muss, dass sie seine politischen Pläne durchkreuzt.


Die Grenze definieren

Anders als zur Zeit Abischags gehören nach unserem heutigen Verständnis sexuelle Kontakte natürlich nicht in den Aufgabenbereich einer „persönlichen Assistentin“, wie es der anfangs erwähnte Mann erwartet hat, den die Studentin Shala betreut hat. Aber fast jede Krankenschwester, fast jede Altenpflegerin kann von Annäherungsversuchen männlicher Patienten oder anderen peinlichen Situationen erzählen. Galt das Thema lange Zeit als Tabu, wird heute mehr und mehr auch in der Pflegeausbildung darüber nachgedacht.
Inzwischen vertritt die Pflegewissenschaft die Auffassung, dass sexuell gefärbte Momente in der Pflege unvermeidbar sind. Sexuelle Empfindungen können sich sowohl durch die Pflege selbst, zum Beispiel durch das Waschen, als auch jenseits der konkreten körperlichen Pflege ergeben, etwa durch einen spielerischen Flirt, ein liebevolles Umarmen, ein Küsschen auf die Wange.

Wichtig ist, dass es insbesondere den Pflegenden gelingt, angemessen mit sexuellen Momenten umzugehen. Eine Studie hat herausgefunden, dass männliche Auszubildende in der Pflege häufiger eigene sexuelle Spannungen wahrnehmen, während weibliche Auszubildende sich eher von männlichen Patienten bedrängt fühlen. Für beide Geschlechter ist es notwendig, die Grenze zwischen Beruflichem und Privatem zu definieren und sie durchzusetzen. Bei Oma Emmi und ihrem Krankenpfleger ist das offensichtlich auf eine beglückende Weise gelungen.


Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel:

Die Frauen sollen sich mit der Figur der Abischag auseinandersetzen und einen Zugang finden zu dieser starken Frau – auch über mögliche eigene Pflege-Erfahrungen. Von ihrer Stärke sollen sie etwas für sich selbst mitnehmen.


Zeit:

1,5 bis 2 Stunden


Material:

– Kopien 1 Kön 1-2 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache
– Kopien des Bildes von Bernardo Strozzi „Bathseba vor David“ sowie der lite-rarischen Texte von Rilke und Heym (siehe S. 7, 12 und 13)
– Papier, Stifte
Alle Kopiervorlagen sind für Abonnen-tInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.


Ablauf:

Einstieg
Austausch zu folgenden Fragen: Gibt es Krankenschwestern oder Altenpflegerinnen in der Gruppe oder andere Frauen mit Pflege-Erfahrungen? Sind sie im Zusammenhang der Pflege mit sexuellen Momenten in Berührung gekommen? Wie ging es ihnen dabei? Haben sie sich stark oder schwach gefühlt? Warum?

Bibelarbeit
1. Schritt: Eine liest den Bibeltext in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache vor. Austausch über die Fragen: Wer war Abischag? Was sagt der Text über sie? Was war ihre Aufgabe? Die Ergebnisse werden stichpunktartig auf einem großen Papier festgehalten.

2. Schritt: Es werden drei Gruppen gebildet. Eine Gruppe liest das Gedicht „Abisag“ von Rainer Maria Rilke, eine zweite den Abschnitt aus „Der König David Bericht“ von Stefan Heym. Die dritte Gruppe betrachtet das Bild „Bathseba vor David“ von Bernardo Strozzi. Alle drei Gruppen notieren, wie Abischag in den Texten bzw. auf dem Bild dargestellt wird.
Hinweise für die Leiterin: Beide Autoren überspitzen einen einzigen Aspekt der Erzählung – den nicht vollzogenen Beischlaf. Während die Abisag von Rilke ein kleines Mädchen ist, das sich fürchtet, bedient Heym zwei unsägliche Klischees: das der erotisch anziehenden, aber dummen Frau und das der sexuell unbefriedigten und deshalb defizitären Frau. Während Rilke sich in Abischag und David einfühlen kann und eine vorsichtige Sprache wählt, sind Heyms Formulierungen derb und verächtlich. Der biblischen Abischag wird aber auch Rilke nur ansatzweise und Heym überhaupt nicht gerecht.

Das Bild von Bernardo Strozzi stammt aus dem 17. Jahrhundert. Es zeigt die Szene von 1 Kön 1,15-16. Bemerkenswert ist, dass der Titel des Bildes „Bathseba vor David“ lautet, die zentrale Figur in der Bildmitte aber Abischag darstellt. Sie schaut die Betrachterin direkt an. Ihr Kopf neigt sich zu David, was auf Vertrautheit hinweisen könnte. Sie wirkt wie eine selbstbewusste Frau.


Abschluss
Austausch: Stimmen die Bilder, die die literarischen Texte und das Gemälde von Abischag zeichnen, mit dem biblischen Bild überein? Mit welchem Bild von Abischag kann sich jede Einzelne am ehesten identifizieren? Warum?


Katrin Keita, Jahrgang 1969, arbeitet als freie Theologin und Journalistin in Dinslaken.


Verwendete Literatur

Sonja Kleinevers: Sexualität und Pflege. Bewusstmachung einer verdeckten Realität, Hannover 2004
Maria Häusl: Abischag und Batscheba. Frauen am Königshof und die Thronfolge Davids im Zeugnis der Texte 1 Kön 1 und 2 (Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament 41), St. Ottilien 1993


Anmerkungen:

1 Die Bedeutung des hebräischen Worts cheq wird im Hebräischen Wörterbuch von Gesenius nett umschrieben mit: „der von den Hüften umschlossene Teil des Körpers“. Auch die Übersetzungen „an seine Brust“ (Bibel in gerechter Sprache) oder „in seinen Armen“ (Luther 1984) verhüllen die eigentliche Bedeutung.

2 Diese und die folgenden Übersetzungen aus: Ulrike Bail u.a., Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006; Übersetzung 1 Kön: Sigrun Welke-Holtmann

3 Diese Vorstellung wird nach der Erzählung von Abischag von Schunem „Sunamitismus“ genannt. Ein großer Anhänger des Sunamitismus war z.B.
der Philosoph Francis Bacon.

4 Dass Abischag alles mithört und deshalb mundtot gemacht werden muss, hat Christina Duncker in ihrer noch nicht veröffentlichten Dissertation zu König Salomo herausgearbeitet.
„Amenhoteph war gegangen, mich der Prinzessin Michal zu melden. […] Da vernahm ich ein Trippeln und Rascheln, und eine Jungfer stand vor mir mit Brüsten so wohlgeformt wie die Liliths, aber voller, und mit Hinterbacken fest und saftig wie Melonen aus dem Tal Jesreel. Sie befeuchtete ihre sinnlichen roten Lippen mit der reizendsten Zungenspitze, ihre runden Augen sprachen beredter als die gedungenen Redner vor König Salomo am Tag des Gerichts, und sie winkte mit ihrem rosigen Finger. […]
Gerade da aber kehrte Amenhoteph zurück. „Hinweg!“ kreischte er. Und die Jungfer erschrak, und erzitterte, und verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war.
„Was hat sie gesagt?“, fragte Amenhoteph hastig.
„Nichts“, antwortete ich. „Sie winkte mir nur mit rosigem Finger.“
Der Eunuch atmete auf. Ob ich wüßte, wer das Fräulein sei. Und da ich es nicht wußte, erklärte er: „Das, Ethan, ist wohl das dümmste Weibsbild in Israel: Abishag von Shunam, die ausgesucht ward, dem König David zur Seite zu liegen, damit ihm warm würde, als er schon alt war und wohlbetagt. Nun, es ist kein Geheimnis, daß sie von ihrer Hitze nichts auf ihn übertragen konnte, und die ganze Glut verblieb ihr und brennt in ihren Eingeweiden. Doch keinem ist es gestattet, ihr Feuer zu löschen, denn sie hat dem König David zur Seite gelegen, und jeder, der in sie einginge, würde dadurch Anspruch erheben auf Davids Königreich und auf den Thron, den sein Sohn Salomo jetzt innehat. Nur daß das Fräulein die Sachlage nicht verstehen will und ihr Auge auf Prinz Adonia geworfen hat, Salomos älteren Bruder, welcher ohnedies in genug Schwierigkeiten steckt. Und Adonia hat sich einnehmen lassen von ihren Reizen; und dauernd sendet sie ihm Botschaften, durch Sandalenmacher oder Kuchenbäcker, durch den Wäschemann oder den Nachttopfsäuberer, durch Masseure oder Nagelbeschneider, ihr ist es gleich; ich aber muß die Botschaften abfangen, und sie weiß, daß ich sie abfange und daß die Sache ein böses Ende nehmen wird; also warum versucht sie's immer wieder?“

aus: Stefan Heym, Der König David Bericht, Frankfurt a. M. 1974, S. 68-69


Abisag

I
Sie lag. Und ihre Kinderarme waren
von Dienern um den Welkenden gebunden,
auf dem sie lag die süßen langen Stunden,
ein wenig bang vor seinen vielen Jahren.

Und manchmal wandte sie in seinem Barte
ihr Angesicht, wenn eine Eule schrie;
und alles, was die Nacht war, kam und scharte
mit Bangen und Verlangen sich um sie.

Die Sterne zitterten wie ihresgleichen,
ein Duft ging suchend durch das Schlafgemach,
der Vorhang rührte sich und gab ein Zeichen,
und leise ging ihr Blick dem Zeichen nach – .

Aber sie hielt sich an den dunkeln Alten,
und von der Nacht der Nächte nicht erreicht,
lag sie auf seinem fürstlichen Erkalten
jungfräulich und wie eine Seele leicht.

II
Der König saß und sann den leeren Tag
getaner Taten, ungefühlter Lüste
und seiner Lieblingshündin, der er pflag – .
Aber am Abend wölbte Abisag
sich über ihm. Sein wirres Leben lag
verlassen wie verrufne Meeresküste
unter dem Sternbild ihrer stillen Brüste.

Und manchmal, als ein Kundiger der Frauen,
erkannte er durch seine Augenbrauen
den unbewegten, küsselosen Mund;
und sah: ihres Gefühles grüne Rute
neigte sich nicht herab zu seinem Grund.
Ihn fröstelte. Er horchte wie ein Hund
und suchte sich in seinem letzten Blute.

aus: Rainer Maria Rilke, Die Gedichte,
Frankfurt a. M. 1986

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