Alle Ausgaben / 2010 Artikel von Dorothea Hillingshäuser

Und Gott tat ihr Herz auf

Spiritualität suchen, Achtsamkeit üben

Von Dorothea Hillingshäuser


Was geschah eigentlich damals, als Gott Lydia das Herz auftat, so dass sie acht hatte, was Paulus redete? In der Apostelgeschichte lesen wir: „Auch eine Frau namens Lydia, die Israels Gott ehrte, eine Purpurwollenhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu. Ihr öffnete der Herr das Herz, so dass sie acht hatte, was Paulus sagte.“ (Apg 16,14)

Es beginnt mit dem Hören, draußen am Fluss, wo die Frauen arbeiten. Dort, wo die Frauen oft zusammen sitzen, beginnt Paulus zu erzählen und Lydia hört zu. Sie „hat acht“ auf das, was er sagt, es berührt ihr Herz und setzt eine Veränderung in Gang. Sie begreift die Berührung ihres Herzens als eine Handlung Gottes, und zwar des Gottes, der in Christus, in dem Messias Mensch geworden ist. Deswegen heißt es: „der Herr“ tat ihr das Herz auf. Herr (griech. kyrios) bezeichnet Christus und ist verbunden mit seiner verändernden Kraft, die aus hierarchischen Strukturen befreit. Die Folge dieser Berührung ist, dass sich Lydia und ihr „gesamtes Haus“ taufen lassen und damit dem, was sie berührt hat, einen Ausdruck geben.

In dieser biblischen Erzählung kommen einige Punkte vor, die für mich wesentlich mit Achtsamkeit verbunden sind:
– Es geschieht im Alltag und ist auf den Alltag bezogen.
– Hören spielt eine entscheidende Rolle.
– Sich berühren lassen – eine eigene Erfahrung wird gemacht und als stärkend erlebt.
– Die Erfahrung lockt zu einer Gestaltung, bekommt einen Ausdruck.

Spiritualität und Achtsamkeit – beide Begriffe sind heute „in“. Das macht sie schwierig und anziehend zugleich. Schwierig ist, dass sie in ihrer Bedeutung verschwimmen, inflationär für vieles benutzt werden. Anziehend ist die Sehnsucht, die sie wecken oder nähren, ansprechend die Nähe, die sie unter Suchenden herstellen. Was früher als Frömmigkeit oder Glaubenspraxis (praxis pietatis) bezeichnet wurde, klingt jetzt modern und spricht andere Menschen an, bietet für christliche Angebote neue Sprachkleider.

Gerade im protestantischen Umfeld wurde lange wenig Augenmerk auf Spiritualität oder Achtsamkeit gerichtet. Von Spiritualität wird im evangelischen Kontext erst seit den Jahren um 1970 geredet. Etwa zur selben Zeit kam durch das Interesse an östlichen Religionen und an Meditation Achtsamkeit stärker ins Gespräch. Die protestantische Abstinenz hat mit dem reformatorischen Gedanken der Rechtfertigung allein aus Gnade zu tun. Wenn ich davon ausgehe, dass mein Glaube geschenkt wird und ich nichts dazu beitragen kann, dass er entsteht, dann gefährdet jedes „Üben“ diese Überzeugung und bringt mich in die Nähe, einer „Werkgerechtigkeit“ auf den Leim zu gehen.

Martin Luther allerdings war als Mönch mit geistlichen Übungen sehr vertraut und hat auch um das gewusst, was jetzt wieder entdeckt wird: Formen, die uns unsere Kraftquellen in der christlichen Tradition bewusst machen, Rituale, die uns für Gott öffnen, Bilder, die eine christliche Lebenshaltung stärken, prägen unseren Glauben und verbinden uns mit dem Geheimnis Gottes. Sie stärken einen Bezug von Glauben und Handeln und schaffen Verbindungen ins alltägliche Leben.


Impulse von Frauen

Daran, dass Spiritualität und Achtsamkeit heute stärker aufgegriffen werden und zu einer Veränderung des evangelischen Glaubens beigetragen haben, hat vermutlich der Weltgebetstag der Frauen wesentlich Anteil. Denn im WGT trägt in weiter ökumenischer Vielfalt eine Art Gebetsschule jedes Jahr Impulse in die Kirchen ein. Und ganz sicher haben Frauengruppen dazu beigetragen, die nach ganzheitlicheren Möglichkeiten gesucht haben, ihren Glauben zu leben. Glaubensschwestern in biblischen Texten, weibliche Gottesbilder, Jüngerinnen und Apostelinnen in der urchristlichen Bewegung, Mystikerinnen in der christlichen Tradition – dies zu entdecken beflügelte die Frauen, die aus ihrer Verwurzelung in einer vorwiegend patriarchal geprägten Tradition auf die Suche nach weiblichen Anteilen gingen. Sie suchten nach Formen, die diesen Entdeckungen Raum geben. Liturgien wurden erneuert, Rituale stärker in den Blick genommen, der Leib/Körper stärker einbezogen, die Sprache frauengerechter formuliert. Das alles trug zu einer Veränderung der Glaubenspraxis, sprich Spiritualität, bei, schulte Achtsamkeit im Umgang mit der Tradition.

Dass diese Suche nach Spiritualität und neuen Ausdrucksformen nicht mit dem Rückzug auf sich selbst gleich zu setzen ist, wie manchmal vermutet oder vorgeworfen wird, hat Dorothee Sölle mit ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ eindrucksvoll gezeigt. Gerade Achtsamkeit fördert das Bewusstsein, dass alles mit allem verbunden ist und wir eine Verantwortung als Teil des Ganzen haben. Im Ansatz des Spirituellen Körperlernens von Ellen Kubitza wird Achtsamkeit von der leiblichen Dimension her erschlossen und verschränkt die einfachen Körperübungen mit der Wahrnehmung und Gestaltung der Zusammenhänge in der Welt, dem Alltag.


Vielfalt der Formen

In diesen Entdeckungsreisen auf spirituellen Wegen haben vielfältige Formen in die evangelische Kirche Einzug gehalten, die nicht nur von Frauen angeboten oder besucht werden, aber durch das Engagement von Frauen entscheidend voran gebracht worden sind. Da gibt es Angebote zu Exerzitien und Exerzitien im Alltag, Einladungen zu Fasten, Meditation und Pilgern. Es gibt die „Perlen des Glaubens“ oder Möglichkeiten für „Kloster auf Zeit“, es gibt Tagzeitengebete oder die Einübung ins Herzensgebet, es gibt Tanzmeditationen oder die Suche nach ekstatischen Formen. Ansätze im Umgang mit biblischen Texten formen einen meditativen oder kontemplativen Zugang.

Allen gemeinsam ist ein ganzheitlicher Zugang, der den Körper mit allen Sinnen einbezieht und beachtet. Dabei weitet sich unser Verständnis von Beten. Neben das Gespräch mit einem Gegenüber treten Formen, die das Hören fördern oder Gesten, die ohne Worte vollzogen werden. Das Schweigen und die Verlangsamung bekommen mehr Raum, es geht um das, was mit „weniger ist mehr“ umschrieben werden kann und eine Vertiefung im Sinn hat. Das wird in der Regel durch Wiederholung und Übung erreicht. Solch ganzheitliches Beten beeinflusst die Lebenshaltung und zielt weniger auf das Tun als vielmehr auf das Lassen.

All diese Suchbewegungen haben auch im evangelischen Bereich Fragen nach geistlicher Begleitung verstärkt. Die Begleitung von Menschen in ihren Glaubensfragen basiert auf einer eigenen geistlichen Praxis, einer annehmenden und unterstützenden Haltung, auf dem Wissen, dass Gott unterschiedlichste Wege mit Menschen geht und auf seine, auf ihre Weise dabei wirkt. Wenn ich mich begleiten lasse, dann öffnet sich mir ein Ohr, das mir hilft, die Bewegungen in meinem Leben in ihrer Verbindung zu Gott besser zu verstehen. Mal wird es darum gehen, dass ich mir mehr Zeit lasse, diese Beziehung zu pflegen, mal wird es darum gehen, was sich daraus für mein alltägliches Tun nahe legt. Immer geht es darum, die mir eigene Weise zu finden, die Beziehung zu Gott zu spüren, bewusst den Zugang zu meinen Kraftquellen zu suchen und mein Leben als einen Teil der befreienden Bewegung des Christentums zu begreifen.


Achtsamkeit lernen

Sich selbst in Achtsamkeit zu schulen, ist mit dem Erlernen eines Musikinstrumentes vergleichbar. Zunächst steht Technik auf dem Programm, sind Handgriffe oder Atemeinsatz zu lernen. Dann geht es um Wiederholung, Üben, dran bleiben. Langsam wird selbstverständlich, was zuvor fremd war, kommt etwas in Fluss, kann die Musik alleine gemacht oder können mit anderen zusammen neue Klänge geschaffen werden. So ist es auch mit der Achtsamkeit: Üben ist wichtig, aber kein Leistungssport, in dem ich immer besser werde und mir schließlich meine Erlösung selbst verschaffe. Manchmal fällt es mir schwer, manchmal leicht. Dieses Üben hilft mir zu begreifen, dass „ich als Suchende immer schon eine Gefundene bin“, wie Dorothee Sölle es ausgedrückt hat. Es hilft, mich alltäglich auszurichten auf das, was mit dem Reich Gottes gemeint ist. Dieses Üben blendet den Tod und zerstörerische Mächte nicht aus und vertraut darauf, dass das Leben die stärkere Kraft ist.


Übung: Achtsamkeit im Alltag

– Legen Sie fest, ob Sie diese Übung eine Woche, einen Monat oder ein Jahr lang ausprobieren wollen.
– Sorgen Sie für einen Ort, der Ihnen die Übung erleichtert: eine gestaltete Ecke oder ein eigener Raum mit einer Kerze, einem Bild oder einem Gegenstand, der zu dem passt, was sie tun.
– Vollziehen Sie die Übung jeden Tag zur gleichen Uhrzeit.
– Überlegen Sie, wie viel Zeit Sie sich jeden Tag dafür nehmen wollen; von 10 Minuten bis zu einer Stunde ist alles denkbar. Schützen Sie diesen Zeitraum, auch wenn Ihnen scheint, dass die Übung misslingt.
– Beginnen Sie immer mit der Wahrnehmung dessen, was Sie gerade tun (sitzen oder stehen, gehen oder liegen) und was Sie von Ihren Atembewegungen spüren. Lassen Sie sich dafür einen Moment Zeit.
– Da Achtsamkeit immer mit der Wachheit der Sinne zu tun hat, gehen Sie kurz alle Sinne durch und überlegen Sie, welche Erfahrungen Sie heute bereits beim Sehen – Hören – Schmecken – Tasten – Riechen gemacht haben.
– Legen Sie einen Ablauf fest, den Sie jeden Tag wiederholen, z.B.: Ich setze mich hin, entzünde eine Kerze, nehme wahr, wie ich sitze, nehme meinen Atem einige Atemzüge lang bewusst wahr.
– Ich mache mir meine fünf Sinne bewusst.
– Ich nehme eine Haltung ein, in der ich mich auf Gott hin öffne und verweile eine kurze Zeit in dieser Haltung.
– Variationen, mit einem biblischen Text (z.B. Apg 16,13-15) umzugehen (siehe Vorschläge unten)
– Ich danke Gott für das, was sich eben ereignet hat. Ich versuche, es nicht zu werten und stattdessen für alles zu danken, was geschieht, zum Beispiel so: Gott, ich danke dir für das, was dein Wort in mir bewirkt hat. Das, was war, lasse ich so sein, wie es war, beglückend oder unbefriedigend, schwer oder leicht, neu oder vertraut. Begleite mich auf meinem Weg, wirke in mir und segne mich an diesem Tag. Amen.
– Ich lösche die Kerze und verlasse den Ort.


Variationen

– die Worte schweigend auf mich wirken lassen (mind. 3 Minuten), am Schluss eine konkrete Bitte formulieren und laut aussprechen

– die Worte etwa drei Minuten lang einfach wiederholen, Tempo und Lautstärke verändern, immer im Sprechen bleiben, den Klang der eigenen Stimme genießen

– den Text lesen und anschließend ein paar Farbstriche auf ein Papier bringen

– den Text lesen und langsam und schön abschreiben (vielleicht nur einen Satz)

– den Text lesen und ein paar Gedanken dazu notieren

– den Text mit der „linken“ (ungeübten) Hand schreiben

– die vergangenen 24 Stunden in den Blick nehmen: Was hat mein Herz berührt? Wann hatte ich acht auf etwas? Wann habe ich aufmerksam gehört?

– eine Liedstrophe, in der das Herz vorkommt, suchen und eine Woche lang diese Liedstrophe mehrmals hintereinander singen (oder sprechen)

– den Worten einen Rhythmus geben und zu den Worten den Rhythmus zum Klingen bringen

– an andere Menschen denken, ihren Namen sagen und für sie den Text lesen

– mich auf einer Decke auf den Rücken legen und im Liegen meinen Atem wahrnehmen, den Kontakt zum Boden spüren und meinem Herz Aufmerksamkeit schenken: Nehme ich den Herzschlag wahr? Kann ich ihn klarer wahrnehmen, wenn ich meine Hände auf meinen Körper lege? Wie fühlt es sich an, wenn mir mein Herz aufgeht?

– den Text lesen und anschließend ein Wort aussuchen, das mir heute besonders wichtig ist; dieses eine Wort auf mich wirken lassen, mit meinem Alltag verbinden, Assoziationen nachgehen und innere Bilder und Gedanken dazu entstehen lassen


Wenn Sie mehrere Wochen lang dabei bleiben wollen, vollziehen Sie eine der genannten Möglichkeiten immer eine ganze Woche lang. Wenn Sie sich für den Zeitraum einer Woche entschieden haben, wählen Sie eine der Möglichkeiten aus und achten Sie auf die Veränderung, die durch die tägliche Wiederholung eintritt. Nehmen Sie auch Widerstände oder Unangenehmes wahr, das gehört dazu. Ideal ist es, wenn es eine Person gibt, der sie in regelmäßigen Abständen erzählen, was Ihnen auffällt und wie es Ihnen mit dem Üben geht.


Dorothea Hillingshäuser ist Pfarrerin im Zentrum Verkündigung der EKHN und dort zuständig für den Bereich Geistliches Leben und Spiritualität. Sie ist unter anderem verantwortlich für die Weiterbildung „Geistliche Begleitung und Begleitung von Exerzitien im Alltag“.


Zum Weiterlesen

Gisela Matthiae: Art. Spiritualität, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd.4, hg. von Peter Eicher, Kösel München 2005
Art. Spiritualität, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie, hg. von Elisabeth Gössmann u.a., Gütersloh 1991
Fulbert Steffensky: Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart (Radius-Verlag) 2006
Peter Lincoln: Wie der Glaube zum Körper findet, aussaat (nvg-medien) 2007

Angebote, die ich empfehlen kann

Schwanberg, Communität Casteller Ring CCR: www.schwanberg.de
Haus der Stille, Rengsdorf: www.ekir.de/haus-der-stille
Kloster Wülfinghausen: www.kloster-wuelfinghausen.de
Kloster Wenningsen: www.via-cordis-wennigsen.de
Kirche der Stille, Hamburg: www.kirche-der-stille.de
Klara Butting: Sabbat-Tage für Frauen: www.woltersburgermuehle.de
FSBZ: Feministische Spiritualität und Ekstase www.fsbz.de/neuigkeiten/EKstasetexte.php; Veranstaltungsangebote unter www. fsbz.de
Kloster Bursfelde: z.B. Grundkurs Spirituelle Körpererfahrung 4.-11. Juli 2010: www.kloster-bursfelde.de
Perlen des Glaubens: www.perlen-des-glaubens.de

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