Alle Ausgaben / 2010 Andacht von Ilona Helena Eisner

Und lebten glücklich bis ans Ende

Meditatives Nachdenken über die Jahreslosung 2011

Von Ilona Helena Eisner

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“(Röm 12,21) Dieser Vers ist von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Bibellesen als Jahreslosung für das Jahr 2011 ausgewählt worden. Dem „Jahr der Freiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven Bürgerschaft“, das der Rat der Europäischen Union beschlossen hat. Hier lässt sich aus meiner Sicht durchaus ein Zusammenhang herstellen. Und wie so oft schon hat es sich gezeigt, dass der richtige Spruch zur richtigen Zeit gewählt wurde.

Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es oft an im Leben. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, um Drachen zu bändigen oder zu töten? Und wann ist der richtige Zeitpunkt, um Früchte zu pflücken?

Doppelkarte zur Jahreslosung verteilen

Schauen Sie sich dieses Bild von Elena Dimitrewna Polenowa an … (evtl. kurzer Austausch über das, was die Frauen auf dem Bild erkennen)

In einem märchenhaft anmutenden Wald ist ein Mädchen intensiv damit beschäftigt, die Früchte eines Baumes zu pflücken. Um die besten Früchte zu erreichen, stellt sie sich sogar auf die Zehenspitzen. Wir sehen sie von der Seite, und ihr Gesicht ist nur schemenhaft zu erkennen. Ihre Aufmerksamkeit gilt der Frucht, nach der sie sich gerade streckt. Seelenruhig möchte sie die Schale füllen, die sie unter ihrem Arm trägt.

Angesichts dessen, dass in ihrem Rücken, ihr zu Füßen ein Drache mit gierigen Augen zu ihr aufschaut, erscheint mir diese Seelenruhe eher unangebracht. Ist dieser Drache etwa tot? Schlagen die letzten Flämmchen aus seinem unheimlichen Maul? Wer hat ihn erschlagen? Wo ist der „Retter“?

Oder ist dieser Drache angesichts der Seelenruhe des Mädchens gebannt, gelähmt, gebändigt? Ist er vielleicht ihr „Haustier“, ihr vertraut, und wartet nur darauf, dass sie ihre Arbeit beendet hat? Ist er ihr Beschützer?

Die Reihe der Spekulationen ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Auffällig ist mir in der Darstellung die Anlehnung an die klassischen Motive der Märchen: Zauberwald, Feuer speiender Drache, begehrte Früchte, die jede Gefahr vergessen lassen …

Am Ende siegt das Gute

Auch in der Jahreslosung finde ich auf den Punkt gebracht, was uns hierzu im Märchen ausführlich und bildlich vermittelt wird. Das Böse lässt sich mit Gutem überwinden. Wenn Märchen uns auch oft grausam erscheinen, am Ende siegt immer das Gute! Die kluge Bauerntochter bekommt ihren König, die Hexe muss selbst im Ofen verbrennen, Rotkäppchen wird aus dem Bauch des Wolfs befreit, Goldmarie und Pechmarie erhalten je ihren verdienten Lohn.

Dabei geht das in den Märchen auch nicht so leicht. Oft braucht es drei Anläufe, um zum Ziel zu kommen. Und Märchenhelden und -heldinnen sind am Anfang die, die klein und schwach dargestellt werden, sind die jüngsten von drei Geschwistern, manchmal dumm, und leben so in den Tag hinein. In das Abenteuer geraten sie meist unfreiwillig. Und nicht zuletzt ist es oft ihre Naivität, ihre Seelenruhe, ihr Verhalten aus dem Bauch heraus und nicht aus Berechnung, das sie zum Ziel, zum Guten führt.

Aber was ist das Böse?

Austausch mit der Nachbarin: Was ist für mich das Böse?

Wir setzten „das Böse“ oft mit Sünde gleich. Ein böser Mensch ist ein sündiger Mensch. Ein böser Mensch lebt auf Kosten anderer, schadet seinen Mitmenschen, quält Tiere, vergiftet Pflanzen. Im Großen mögen wir uns das gar nicht vorstellen. Der Ölkonzern BP ist in der Mitte des Jahres 2010 ein gutes Beispiel dafür, wie aus Gier Umweltsünde wird. Entsetzt sehen wir Tag für Tag die Fernsehbilder, können kaum glauben, wie schwer diese Katastrophe zu stoppen ist. Doch wer ist da böse? Die Konzernleitung, die Ingenieure oder gar wir Verbraucherinnen und Verbraucher, weil wir doch immer alle viel und vor allem billiges Öl haben wollen, damit alles wie gewohnt weiter funktioniert?

Im etymologischen Wörterbuch steht unter böse: „gering, wertlos, schlecht, schlimm“. Schlimmes geschieht auch, wenn ein Vulkan ausbricht, wenn die Erde bebt, Flüsse und Meere über ihre Ufer treten oder Stürme große Landflächen verwüsten. Wer ist hier böse? Petrus, den wir auch schon mal für den Wettergott halten, oder Menschen, die die Katastrophe nicht rechtzeitig vorausgesagt haben?

Carter Heyward sagt in ihrem Buch „Jesus neu entwerfen“, dass das Böse der Verrat an der Beziehung ist. Sie bemüht sich um diese Erkenntnis, kreist in ihren Kapiteln darum und kommt schließlich zu der Überzeugung: Das Böse ist der Verrat an der Beziehung. Ich kann diesem Gedankengang gut folgen. Umweltkatastrophen sind schlimm und Menschen leiden. Aber sind sie böse – oder gehören sie nicht vielmehr zum Lebendig-sein der Erde dazu?

Kommen wir mit diesem Gedanken zurück zum Märchen. Das Böse ist der Verrat an der Beziehung. Wer ist im Märchen böse? Die Hexe, der Wolf, der König, die böse Fee …, diese Aufzählung fällt uns noch leicht. Doch schauen wir weiter. Warum sind sie böse? Meist sind die Bösen im Märchen einsam, wurden vom Leben enttäuscht, oft wurde ihnen etwas Wichtiges weggenommen. Und oft genug bezahlen sie den Sieg des Guten mit ihrem Leben. Die neidische Königin, die in glühenden Schuhen tanzen muss, bis sie tot umfällt, das Rumpelstilzchen, das mit dem Fuß aufstampft und im Boden versinkt, oder der böse Zwerg, der in seiner Erdhöhle von einem Felsbrocken erschlagen wird.

Die neidische Königin, Rumpelstilzchen, der böse Zwerg: Sie alle leben nicht in glückenden Bindungen und Beziehungen, haben diese verraten oder wurden selbst verraten. Mitmenschlichkeit ist ihnen fremd (geworden). Dadurch wirken sie bedrohlich, machen Angst und verunsichern. Wir fiebern mit den Märchenfiguren, die sich auf den Weg begeben, von diesem Bösen zu erlösen. Sie kennen die Gefahr nicht und werden doch gerettet. Sie werden zu Heldinnen und Helden und machen uns Mut. Und genau deshalb lieben wir Märchen. Sie gehen (fast) immer gut aus. Sie machen uns Hoffnung, dass mit Geduld und Mut das Leben zu meistern ist und wir reichlich belohnt werden. Ob die Mittel, die zur Überwindung des Bösen führen, auf unserer ethischen Bewertungsskala immer das Prädikat „gut“ verdienen, wage ich zu bezweifeln. Schließlich muss die Hexe bei lebendigem Leib verbrennen, wird dem Wolf der Bauch aufgeschnitten und ihm das Fell über die Ohren gezogen. Doch der Zweck heiligt die Mittel. Zumindest im Märchen ist das so.

Auf der Jahreslosungskarte gibt es noch ein entscheidendes Element: Der Baum, dessen Früchte das Mädchen so begehrt. Bäume gehören zur Elementarsymbolik der Menschen. Im Märchen stehen sie oft für Verwandlung und Veränderung. Unter ihrem Schutz geschieht Reife. Unter ihnen zu schlafen verleiht Mut zum Aufbruch oder schenkt den entscheidenden Hinweis im Traum. Von diesem Ort aus kann Neues gewagt werden. Und auch die Früchte eines Baumes haben im Märchen Zauberkraft, sie können gold oder silbern sein und verleihen großen Reichtum.

Das Mädchen auf unserem Bild pflückt bewusst und mit Anstrengung die Frucht, die es erreichen kann. Und es tut damit nichts Schlechtes. Reife Früchte wollen geerntet werden. Und Früchte pflücken ist allemal besser als Drachen erschlagen. Gutes tun heißt hier auch: das Böse lassen, die Zeit anders nutzen und sich bewusst für eins entscheiden. Ob wir Gutes oder Böses tun, entscheiden wir oft genug selbst. Und so verstehe ich die Aufforderung aus dem Römerbrief als eine Aufforderung zur bewussten Entscheidung, als Aufforderung abzuwägen: Was ist gut und was ist böse?

Und was ist nun gut?

Austausch mit der Nachbarin

Ich befrage wieder mein etymologisches Wörterbuch und entdecke etwas Erstaunliches: „gut“ hat im Althochdeutschen seine Wurzeln in „Gitter, Gatter, vergattern“ und diese Wörter bedeuten „umklammern, fest zusammenfügen, zupassen“. Und etwas weiter unten lese ich, es bedeutet so viel wie: „in ein Baugefüge, in eine menschliche Gemeinschaft passend“. Menschliche Gemeinschaft heißt auch: Beziehung. Und sofort fällt mir Carter Heyward wieder ein. Hat sie für „böse“ nicht genau das Gegenteil angenommen? Gut und Böse sind Gegensätze, das wussten wir schon immer. Nun haben wir eine Erklärung: Gut bedeutet zusammenfügen, gemeinsam, Gemeinschaft und somit auch Bindung und Beziehung. Böse ist gering und wertlos und, bei Carter Heyward, der Verrat an der Beziehung.

Böses mit Gutem überwinden heißt also: Beziehungen pflegen, Gemeinschaft leben, auf die anderen achten. Auch Märchenheldinnen sind oft nicht allein. Denken wir an Brüderchen und Schwesterchen, Hänsel und Gretel, Schneeweißchen und Rosenrot.

2011 ist das JAHR DER FREIWILLIGENTÄTIGKEIT ZUR FÖRDERUNG DER AKTIVEN BÜRGERSCHAFT. Aktiv freiwillige Dienste zu leisten, sich, wie es in der Tradition der ev. Frauenverbände meist genannt wird, ehrenamtlich einzubringen in die Gesellschaft, einzustehen für ein gutes Leben für alle, das sind wünschenswerte Ziele für dieses Jahr – und das nicht nur im Januar.

Ich möchte dazu ermutigen, mit dieser Jahreslosung, mit der Karte und den Erfahrungen, die uns Märchen vermitteln wollen, die Augen offen zu halten für die Gelegenheiten, die wir nutzen können Gutes zu tun. Bringen wir uns ein, wo unsere Freiwilligkeit gebraucht wird. Leben und gestalten wir aktiv unsere Beziehungen. Erinnern wir uns daran, dass auch Gott eine Beziehung zu uns hat und wir zu ihr.

Ilona Helena Eisner, Jahrgang 1966, ist Mitglied
im Präsidium EFiD und im Redaktionsbeirat ahzw. Nach vielen Jahren als Referentin in der ev. Frauenarbeit in Thüringen arbeitet sie heute als Geschäftsführerin des Landesfrauenrates Thüringen.

Verwendete Literatur:
Carter Heyward: Jesus neu entwerfen,
Exodus Verlag, Lüdenscheid 2006
Duden: Das Herkunftswörterbuch, Dudenverlag, Mannheim, Leipzig 1997

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