Ausgabe 2 / 2018 Frauen in Bewegung von Carola Ritter

Und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens

EgeriaWegMeditation zu Psalm 84

Von Carola Ritter

Pilgern gehört seit jeher zur christlichen Tradition. Seine Wurzeln liegen in den Wallfahrten zum Jerusalemer Tempel. Dieser Weg hinauf nach Jerusalem beschreibt einen Ursprung des jüdischen Unterwegsseins mit Gott. Der Jude Jesus ist diesen Weg gegangen. Auch die Emmausjünger sind den Weg nach Jerusalem zurück gegangen, nachdem sie dem Auferstandenen begegnet waren.

Schon die frühe Christenheit kannte eine große Pilgertradition, die sich über das ganze Römische Reich erstreckte. Nach dem Ende der Christenverfolgung und der Christianisierung des Reiches rund um das Mittelmeer entstand ein vernetzter Kulturraum mit einheitlicher Sprache und Währung, einem gut ausgebauten Verkehrssystem, sicheren Wegen. In Scharen machten Christ*innen sich auf den Pilgerweg. Auch die Pilgerin Egeria war Teil dieser großen Pilgerbewegung und fasste ihre Erfahrungen in dem ersten ausführlichen christlichen Pilgerbericht zusammen.

Der Egeriaweg ist ein ökumenisches Frauen-Pilger-Projekt für ein gemeinsames Europa.  Er folgt dem Reisebericht der frühchristlichen Pilgerin Egeria. 1500 Jahre später pilgerten Frauen auf ihren Spuren und legten jedes Jahr eine Etappe ?zurück. Begonnen hat der Weg 2005 in Spanien und führte durch elf Länder Europas und des Nahen Ostens bis nach Jerusalem. Im Oktober 2018 fand eine zwölfte Etappe durch Palästina statt.- mehr unter www.egeria-project.eu

ALLE

2 Wie liebenswert sind deine Wohnungen, Adonaj, du herrschst über die Gewalten.

EINE Überall auf unserem Pilgerweg kehrten wir ein in deine liebenswerten Wohnungen: die kleinen Kirchen und Kapellen auf dem Weg, die gewaltigen ?Kathedralen in Santiago und Toulouse, der Markusdom in Venedig, das alte romanische Kirchlein in Eunate, die Wallfahrtskirche und der Kalvarienberg in Rogatska Slatina, die kleine armenische Kirche in Sophia, ganz in der Nachbarschaft zur Synagoge, die Hagia Sophia in Istanbul, die Sophien-Kathedrale in Nikosia, die heute eine Moschee ist.

3 Immer schon hat meine Seele sich gesehnt, ja verzehrt nach den Höfen Adonajs.   Mein Herz und mein Körper schreien voll Sehnsucht der lebendigen Gottheit entgegen.

Die Sehnsucht war eine Pilgerschwester. Sie weckte unsere Vorfreude jedes Jahr neu. Sie ging still den Weg mit: auf den ausgetretenen Jakobswegen in Spanien und Frankreich, auf der Via Francencia in Italien, auf den zu bahnenden Wegen durch Süd- und Südosteuropa, auf der langen Route entlang der Donau, in den Bergen des Taurus. – Brannte nicht unser Herz auf dem Weg und ließ uns die Gegenwart der Lebendigen spüren?

4 Auch der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest, in das sie ihre Jungen legt, bei deinen Altären.   Adonaj, du herrschst über die Gewalten, meine Gottheit, königlich. 5 Wohl denen, die in deinem Haus leben. Immerzu loben sie dich.  

Den Zugvögeln gleich brachen wir immer wieder auf und fanden eine Bleibe: in Pensionen und Pilgerherbergen, in einem ehemaligen Priesterseminar, im Salvadorianerkloster, hoch in den Wolken auf dem Pyrenäenpass, im Cabarettou, in einer alten Schule, in vielen Hotels oder in einem modernen Kibbuz. Müde vom Weg schliefen wir fast überall: königlich.

6 Wohl denen, deren Stärke in dir gründet, die in ihren Herzen barfuss zu dir unterwegs sind.

Festen Grund hatten wir allerorten, ungefragt trug uns die Erde. Kraft wuchs uns zu, wo wir es nicht ahnten, als wir uns verlaufen hatten bis in die Nacht. Verlassen konnten wir uns auf deine Gegenwart, Gott. Wo wir schon erschöpft schienen und eine kranke Pilgerin stützen mussten, da war der Bus zur rechten Zeit zur Stelle. – Der Weg wandelt uns, macht uns durchlässig und demütig, entfacht die Sinne, weitet unser Herz in Gottes mitgehender Gegenwart.

7 Durchqueren sie das Tal der Dürre, verwandeln sie es in ein Quellental. Ja, mit Segenskräften bedeckt es der Frühregen.

Als Gesegnete konnten wir gehen, bestärkt mit guten Worten, aufgerichtet und kraftvoll. Freude, die ansteckend wirkt, neugierige Gesichter, beglücktes Entgegenlachen in trostlosen, abgehängten Gegenden Europas, Zonenrandgebieten. Auf ehemaligem Grenzstreifen, die noch Minen tragen, blüht die Wegwarte himmelblau und bereitet mit Hoffnungsgrün einen Versöhnungspfad.

9 Adonaj, Gott, du herrschst über die Gewalten, höre mein Gebet, lausche, Gott Jakobs.  10 Du unser Schild, sieh her, Gott, blicke auf das Antlitz deines Gesalbten.


Unter der Weite des Himmels fanden wir Gemeinschaft und vereinten unsere Stimmen im Gebet. Wir zogen unsere Straße fröhlich, bis wir abends das Dankgebet anstimmten. – Denn Gott, du kennst uns, ob wir gehen oder stehen, sitzen oder liegen, du weißt, wie es um uns steht, und kennst uns von ferne.

11 Ja, lieber einen Tag in deinen Höfen als tausend Tage sonst wo zu sein. Lieber stehe ich an der Schwelle zum Haus meiner Gottheit, als in den Zelten der Ungerechtigkeit zu lagern.

Orte des Unrechts, Haltepunkte der Erinnerung an noch schwelendes Leid: Der Weg führte uns zu ihnen. Innehalten, wahrnehmen, was geschah und geschieht, Gewalt und Unrecht klar benennen und sich nicht gemein machen mit den Handlangern und Mittäterinnen, nicht den bequemen Vertuschungen oder Vereinnahmungen auf den Leim gehen. Ja, lieber weitergehen, Versöhnung weitertragen, die Füße auf den Weg des Friedens lenken, Werkzeuge des Friedens sein.

12 Ja, Sonne und Schild ist Adonaj, Gott. Adonaj gibt Anmut und Würde, verweigert nicht denen das Gute, die in Aufrichtigkeit leben.

Aufrecht gehen und bleiben – in Anmut und Würde unterwegs sein, schön in jedem Alter. Dabei einfach leben, die Bodenhaftung nicht verlieren, uns aneinander freuen, einander Segen sein.

13 Adonaj, du herrschst über die Gewalten.
Wohl den Menschen, die auf dich vertrauen.

AMEN

In der Reflexion der Pilger-Erfahrungen ist die folgende Psalm-Meditation entstanden. Ein Vortrag von Carola Ritter zur spirituellen, zur politischen und weiteren Dimensionen des Pilgerns steht Abonnent*innen unter www.leicht-und-sinn.de / Service zum Download zur Verfügung.

Carola Ritter ist Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauen in Mitteldeutschland. Sie ist Meditations- und Pilgerleiterin und Initiatorin des Egeria-Weges im Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE) und Mitgründerin verschiedener Frauenprojekte, unter anderem des Ökumenischen Frauenzentrums Evas Arche in Berlin. – www.egeria-projekt.eu

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