Ausgabe 2 / 2014 Andacht von Mechthild v. Luxburg

… und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren

Andacht um die Scham beim Scheitern

Von Mechthild v. Luxburg

„… da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott den Herrn wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten.“
3.Mose,7-8 in der Lutherübersetzung

Liebe Frauen,
schämen Sie sich manchmal? Eigentlich traut man sich darüber ja gar nicht zu reden. Schon das Wort „Scham“ weist uns darauf hin, dass wir es hier mit etwas Heiklem zu tun haben: mit Scham bezeichnen wir im Deutschen (sehr verschämt) unsere Geschlechtsteile. Und Scham hat ja auch etwas mit Schande zu tun – und das ist etwas, das wir doch unter allen Umständen vermeiden wollen. Und trotzdem, oder auch gerade deshalb, wollen wir uns in unserer Andacht heute diesem heiklen Thema nähern und uns fragen, welche Bedeutung die Scham in unserem Leben hat.

Wir beginnen unsere Andacht im Namen Gottes, der uns kennt bis in die Tiefen unseres Herzens,
im Namen Jesu, der uns in allen Höhen und Tiefen unseres Lebens brüderlich begleitet,
und im Namen der heiligen Geistkraft, die uns Mut macht, unsere Herzenstiefen zu öffnen.

Lied: Im Dunkel unserer Nacht

Siehe Seite 28. Ich empfehle, in dieser Andacht „entzünde das Licht“ (statt: entzünde das Feuer) zu singen.

Ich habe einige Freundinnen gefragt: Was verbindest du mit „Scham“ und „schämen“? Erinnerst du dich an eine Situation, in der du dich geschämt hast? Allen fallen zuerst Situationen aus ihrer Kindheit ein. Ich habe mich geschämt,
– wenn ich die selbstgestrickten Pullover meiner Oma anziehen musste;
– wenn ich bei einer Lüge erwischt wurde;
– als ich in der Schule in die Hose gemacht habe;
– wenn andere Kinder mich wegen meiner Sommersprossen ausgelacht haben;
– als meine beste Freundin einem Jungen gesagt hat, dass ich in ihn verliebt bin;
– als aufgeflogen ist, dass ich Geld aus der Spardose meiner kleinen Schwester genommen hatte.

Schamsituationen im Erwachsenenalter zu benennen, fällt deutlich schwerer. Sie liegen noch nicht so weit zurück oder sind noch nicht so gut „verdaut“, dass wir uns mit einem Lächeln von ihnen distanzieren könnten.

Das Spektrum der Ereignisse, die uns beschämen, ist weit. Wir haben uns angewöhnt, uns im Spiegel unserer Mitmenschen zu betrachten – und nicht zuletzt sind die Blicke, die wir auf uns selber werfen, auch viel kritischer geworden. Manchmal schämen wir uns sogar für andere. Scham gibt es in vielen Varianten – einige sind für unser Leben gut und hilfreich, andere hinterfragen nicht nur unser Selbstwertgefühl, sondern können es auch nachhaltig schädigen.

Adam und Eva schämten sich, weil sie erkannten, „dass sie nackt waren“. Nacktheit ist uns für uns heute vielleicht nicht mehr so schambesetzt – obwohl: In meinem Alter würde ich meinen (oder: Die meisten älteren Frauen würden ihren) nicht mehr straffen Körper den Blicken anderer auch nicht gerne aussetzen; und viele jüngere Frauen fühlen sich ebenfalls nicht wohl in ihrer Haut. Sie schämen sich, weil sie dick sind, Dellen an den Oberschenkeln oder einen flachen Busen haben. Sie sind nicht so, wie sie meinen sein zu müssen.

Was denken Sie darüber? Welche Erfahrungen haben Sie mit der Scham gemacht?

Einladung zum Austausch in Dreiergruppen (höchstens 10 Minuten)

Lied: Im Dunkel unserer Nacht

Wie wir sicher in unserem Austausch gerade erfahren haben, hat jede von uns eine Menge Erfahrungen mit der Scham, mit dem „sich schämen“. Wir schämen uns, wenn wir nicht so sind, wie wir sein möchten oder wie andere uns gerne hätten. Es erfüllt uns mit Scham, wenn wir beruflich nicht erfolgreich sind oder sogar arbeitslos, wenn wir uns vieles nicht leisten können, was andere stolz vor sich hertragen, wenn wir finanziell nicht mithalten, als Alleinerziehende den Beitrag für die Klassenfahrt nicht aufbringen können. Wie peinlich, wenn unsere Beziehung auseinandergeht, wenn herauskommt, dass unser Sohn seine Lehre abgebrochen hat. Wir schämen uns, weil wir krank sind, anderen zur Last fallen. Und wenn im Alter unsere Rente nicht zum Leben reicht, gehen wir nicht zum Sozialamt, weil wir uns schämen. Wir schämen uns und fühlen uns schuldig, obwohl wir uns alle Mühe gegeben haben, unser Leben sinnvoll zu gestalten.

Solchen „Scham-Fallen“ zu entkommen ist schwierig, weil sie unser Ich umklammern, weil wir ständig mit Erwartungen konfrontiert sind, die uns überfordern. An allen Ecken und Enden werden uns Idealbilder von Frauen und Männern vorgeführt, die nicht nur gut aussehen und erfolgreich sind, sondern auch ihr Leben jederzeit voll im Griff haben. Da können wir in unserer Unvollkommenheit, unseren kleinen und großen Niederlagen und unseren gescheiterten Lebensträumen nicht mithalten …

Lied: Im Dunkel unserer Nacht

An dieser Stelle kann jede ein kleines Teelicht entzünden und in die Mittel stellen – Symbol für das „Licht im Dunkel unserer Nacht“ der Scham. Alternativ oder zusätzlich können die Anwesenden eingeladen werden, einen Kieselstein in die Mitte zu legen – als Symbol dafür, dass hier eine „falsche Scham“ abgelegt werden kann, die als schwere Last empfundenen wurde.

Keine Frage: Es ist gut, wenn wir uns von „falscher Scham“ frei machen. Dabei sollten wir aber nicht vergessen: Scham ist nicht grundsätzlich falsch. Scham hat nämlich zwei für unsere Entwicklung und unser Leben wichtige Funktionen: Sie schützt unsere inneren Räume, und sie ist die Stimme unseres Gewissen.

Wie war das noch mit Adam und Eva? Sie schämten sich, weil sie nackt waren. Da hefteten sie Feigenblätter aneinander und machten sich Schurze. – Ganz spontan schämen wir uns, wenn wir bemerken, dass wir den Blicken anderer schutzlos ausgeliefert sind, wenn etwas sehr Persönliches, ja Intimes von uns sichtbar wird. Etwas, das wir verbergen möchten. Wenn unser ganz persönlicher, geschützter, intimer Raum geöffnet wird, ist das ein höchst schmerzhaftes Erleben, ein Gefühl der „Pein“. Es ist uns peinlich. Das Urteil anderer ängstigt uns, wir möchten unsere Blöße bedecken, uns schützen, uns verstecken.

Die Scham warnt uns: Vorsicht! In so einer Situation empfinden wir Scham als etwas, das ganz natürlich zu uns gehört. Sie schützt unseren persönlichen Raum, unsere Intimsphäre und regt sich, wenn unsere Grenzen nicht geachtet werden. Komm mir nicht zu nahe! Bitte Abstand halten! Und sie tut das nicht nur auf unseren Körper bezogen, sondern auch, wenn auf der seelischen Ebene Themen berührt werden, die wir als intim betrachten, die wir niemandem oder nur sehr vertrauten Personen mitteilen möchten. Erinnern wir uns an unser Beispiel zu Beginn: „Ich habe mich geschämt, als meine Freundin einem Jungen erzählt hat, dass ich in ihn verliebt bin.“ Hier wurde von der Freundin die Grenze der Vertraulichkeit überschritten. Auch das kennen wir: Die Übergriffigkeit anderer Menschen kann uns die Schamröte ins Gesicht treiben. Hier dient die Scham als zuverlässige Wächterin unserer Grenzen.

Lied: Im Dunkel unserer Nacht

Scham wacht nicht nur über unsere eigenen Grenzen, sondern auch über die Grenzen unserer Wechselbeziehungen mit anderen. Sie sorgt dafür, dass wir uns an zwischenmenschliche Normen halten und unserem Gewissen treu bleiben. Denn Scham ist nicht zuletzt die Stimme des Gewissens.

Wenden wir uns noch einmal Adam und Eva zu: Als sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, „wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren. … und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten.“ Adam und Eva fühlen sich nackt vor Gott, von Gott erkannt, weil Gott sie sieht, wie sie sind: in ihrem Streben, Gott gleich zu sein, in ihrer Selbstüberschätzung, in ihrer unverhüllten menschlichen Unvollkommenheit, in ihrer Verletzlichkeit und ihrer Geschlechtlichkeit. Und in Gottes Augen erkennen sie sich selbst.

Wenige Gefühle berühren uns so tief wie die Scham, die wir empfinden, wenn sie zu einer schmerzhaften Selbstbegegnung wird, wenn sie uns damit konfrontiert, dass unser Selbstbild geschönt und nicht wahrhaftig ist, wenn wir Eigenschaften und Verhaltensweisen an uns entdecken, die wir bisher vielleicht nicht bemerkt haben und die wir nicht akzeptieren, nicht wahr haben wollen. Unser Selbstwert ist in Frage gestellt, vielleicht beschädigt – die Reaktion darauf ist Scham. Zurückgestutzt auf Originalgröße fühlen wir uns nackt, bloßgestellt. Am liebsten würden wir dann „im Boden versinken“, unsichtbar werden.

… und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten. – Ja: Wenn wir uns schämen, möchten wir uns verstecken, und manchmal gibt es ja auch allen Grund dazu. Sich vor den Blicken anderer zu schützen, kann gut und richtig sein. Laufen wir vor unserer Scham jedoch nicht davon, sondern verstehen sie als Signal, uns selber mit wachen Augen anzuschauen, so birgt sie auch die Chance zur Veränderung. Und gerade dann ist es sicher nicht die richtige Strategie, uns vor dem Angesicht Gottes zu verstecken, sondern im Gegenteil ganz fest auf die Zusage zu vertrauen, dass wir von Gott mit liebevollen Augen gesehen werden.

So gesehen zu werden ist entlastend. Denn brauchen wir nicht auch einen Raum, in dem wir uns so zeigen können, wie wir sind? In dem wir uns trotz aller Unzulänglichkeiten akzeptiert und geborgen fühlen? „Gott kennt ja unseres Herzens Grund“, heißt es in einem Psalm. Gott weiß, dass wir nicht perfekt sind, kennt auch unsere dunklen Seiten. Doch Gott fordert keine Scham, sondern ruft uns in das Vertrauen auf seine bedingungslose Liebe. Wer sich in dieser Liebe geborgen weiß, kann seiner Scham gelassen begegnen und vielleicht mit ihr in einen Dialog treten: Was willst du, Scham, mir sagen? Willst du mich schützen? Willst du mich warnen? Welche Grenze willst du mir zeigen?

Wohl jede von uns hat in ihrem Leben so etwas erfahren – tiefe Scham, weil Unzulänglichkeit, Scheitern, Grenzen sichtbar wurden, für uns selbst oder gar für andere. Gönnen wir uns eine kurze Zeit der Stille, in der Erinnerungen wach werden dürfen an eine solche Erfahrung der Scham. Und fragen wir uns, jede für sich, welcher persönlichen Grenze wir in dieser Situation wir vielleicht begegnen sollten…

Zeit der Stille

Nehmen wir – im Vertrauen auf Gottes bedingungslose Liebe – unsere Erfahrungen ins Gebet.

Gebet nach Psalm 139
Guter Gott, du erforscht mich und kennst mich,
ich sitze oder stehe auf, du weißt es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und siehst alle meine Wege.
Siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du nicht schon wüsstest.
Von allen Seiten umgibst du mich
Und hältst deine Hand über mir.
Diese Erkenntnis ist mir
zu wunderbar und zu hoch,
ich kann sie nicht begreifen.
Erforsche mich, Gott,
und erkenne mein Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich's meine,
und sieh, ob ich auf bösem Wege bin. Und leite mich auf ewigem Wege.

Amen

Mechthild von Luxburg, Jahrgang 1945, ist Diplom-Psychologin und hat bis zu ihrer Pensionierung viele Jahre im Diakonischen Werk Augsburg gearbeitet. Sie ist Mitglied im Kuratorium des Frauenwerks Stein, seit 2008 als Vorsitzende, im Präsidium der EFiD und im Vorstand des Deutschen Frauenrates.

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