Alle Ausgaben / 2009 Material von Karl Guido Rey

Unentwegt vorwärts gehen

Von Karl Guido Rey


Ich denke an einen Traum, den ich kurz nach dem Tod meiner Frau vor etwa fünfzehn Jahren träumte: Ich stehe auf dem Parkplatz und bewundere die prunkvollen Bauten, die ihn begrenzen. Der Platz ist voller Menschen. Zu meinem Erstaunen bahnt sich ein Beduine mit seinem Kamel einen Weg durch die Menge. Geradewegs auf mich zu. Unglaublich. Er fordert mich auf, mich auf das Tier zu setzen. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, klettere aber trotz beträchtlicher Bedenken mit umständlichen Verrenkungen zwischen die Höcker. Er bedeutet mir mit einer Handbewegung, in eine bestimmte Richtung zu reiten, wo sich vor mir eine Wüste ausbreitet. In weiter Ferne sehe ich eine hell beleuchtete Stadt auf einem Berg. Dorthin soll ich reiten, gibt er mir zu verstehen …

Ich las in der Offenbarung des Johannes: „Ein Engel zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem.“ Johannes beschreibt das ewige Jerusalem, das Endziel unseres Lebens, zu dem wir nach mühsamer Wanderung durch das Tor des Todes einmal gelangen werden. Es ist die letzte Strecke, die zu bewältigen mir nun als alt gewordener Mensch unmittelbar bevorsteht.

Das Kamel ist ein Symbol der Ausdauer, des langen Atems, des harten Verzichts und des genügsamen Wesens. Es ist ein Bild des unentwegten, zähen Vorwärtsgehens. Sei es durch den wilden Sandsturm, die brütende Wüstensonne oder die kalten Nächte unter den Sternen. Ich muss die Glimmerwelt des Luxus mit der Wüste tauschen, um zum himmlischen Paradeplatz zu gelangen.

Die Wüste scheint mir zu zeigen, wie schwierig und mühsam der Weg des Alterns sein kann. Die lichtvolle Stadt in der Ferne stellt das Ziel dar, das es durch viele Entbehrungen hindurch zu erreichen gilt. Sie weist auf eine spirituelle Wirklichkeit hin, die uns nur in Visionen und Träumen sichtbar werden kann. Zur Zeit meines Traumes vor vielen Jahren musste ich den Weg durch die Wüste der Trauer gehen. An dessen Ende leuchtete mir die neue Heimat meiner verstorbenen Frau auf. Jetzt steht mir die Reise durch die Wüste des Alters bevor. Ein Weg meines eigenen Sterbens. Ob es auch mir das Tor zur Stadt des Lichts öffnen wird? Wie dankbar bin ich für mein Kamel.

aus: Ich bin alt geworden – Vom Geheimnis meiner Verwandlungen, © 2009 Kösel-Verlag München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

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