Ausgabe 1 / 2020 Material von Pierre-André Magnin

Väterchen Noahs Vermächtnis

Von Pierre-André Magnin


Als Väterchen Noah im hohen Alter von 104 Jahren sanft entschlief, beschlossen seine Erben, sein kleines Haus zu verkaufen. Es wurden Besichtigungstermine arrangiert, während welcher die Interessenten einen Augenschein der Unterkunft nehmen und einen Blick auf das Durcheinander im Garten werfen konnten: mit all dem Unkraut und dem Gestrüpp war dieser wirklich eine Schande für das Villenquartier mit den gepflegten Anwesen. Die Nachbarn tuschelten, dass Väterchen Noah ein alter Spinner gewesen sei, der ihre Katzen mit Kieselsteinen verscheuchte.

Schließlich wurde das Häuschen von einem Herrn Martin erworben, der schon seit geraumer Zeit ein kleines Eigenheim zu kaufen suchte. Und als er die gute Neuigkeit seiner Gattin und seinen zwei Kindern verkündete, ließ sie der Gedanke, ihre Wohnung im Stadtzentrum zu verlassen, alle zusammen vor Freude in die Luft springen.

„Ich sehe schon den neuen Garten“, schwärmte die Frau. „Wir werden ihn ganz neu gestalten und die schönsten Rhododendren des gesamten Quartiers anpflanzen.“

„Und ich, ich will einen kurzen, flachen Rasen, damit ich mit meinen Freunden richtig gut Fußball spielen kann“, erklärte der Sohn. „Das machen wir, sag schon, Papa?“

„Ich wünsche mir zwei Katzen: eine schwarze und eine weiße“, sagte seine kleine Schwester sehr bestimmt. „Du hast es mir versprochen, nicht wahr?“

Herr Martin schwor, dass jeder seinen Wunsch erfüllt bekommen würde. Ihm für seinen Teil schwebte eine hübsche, nächtliche Beleuchtungsanlage für den Außenbereich vor. Er arbeitete zwar als Bankangestellter, hatte aber Zeit seines Lebens davon geträumt, Theater-Regisseur zu werden.


Angesichts des ungepflegten und verwahrlosten Zustands, in welchem sich das Haus und der Garten befanden, waren größere Arbeiten zur Instandstellung unabdingbar. Die Familie Martin hatte deshalb verschiedene Bauunternehmen kontaktiert, um sich mit diesen in den nächsten Tagen zu treffen. Aber weil ihnen der gesunde Menschenverstand sagte, dass sie den Ort vor dem Umbau erst einmal selber genau erkunden sollten, beschlossen sie, das kommende Wochenende dort zu verbringen. Sie wollten das Ambiente und die Ausstrahlung ihres neuen Heims entdecken, genießen und auf sich wirken lassen. Schlafsäcke, aufblasbare Matratzen, Gaskocher und sonst noch ein paar nützliche Kleinigkeiten: fast schien es, als gingen sie zelten. Und in der Tat hatten sie alle das Gefühl, sich in ein Abenteuer zu stürzen…

Gegen elf Uhr abends saßen die Martins im leeren Wohnzimmer ihres neuen Hauses. Sie ruhten sich etwas aus und verdauten die Büchsenravioli, die sie zum Abendbrot gegessen hatten. Alle saßen im Kreise, jeder auf seiner Matratze, und in der Mitte brannte eine große, blaue Kerze. Die Flamme züngelte und warf die Schatten der Familie auf die nackten Mauern und auf einen alten, schweren Bücherschrank, den keiner der Erben haben wollte. Auf dem obersten Fachbrett bemerkte Herr Martin einige vergessene Bücher. Er stand auf und streckte seine Hand danach, um sie herunterzuholen. Doch mit seiner Geste stieß er an einen Umschlag aus Papier, der schaukelnd durch die Luft glitt und schließlich gleich neben der dicken Kerze auf dem Boden landete. Im Kerzenlicht konnte man lesen: „An die neuen Hausbesitzer“…


Die Familie saß einen Moment lang regungslos, bis Frau Martin den Umschlag aufhob und vorsichtig öffnete. Sie fand darin einen Brief und ein großes Dokument, das sorgfältig mehrfach gefaltet war. Es war eine Karte des Grundstücks, von Hand gezeichnet und mit unzähligen Anmerkungen versehen. „Das war Väterchen Noah“, verkündete sie, bevor sie mit feierlicher Stimme zu lesen begann:


„Liebe neue Hausbesitzer,

Seien Sie willkommen in Ihrem neuen Heim. Es liegt mir am Herzen, Ihnen zu sagen, dass ich es selber gebaut habe, als ich noch ein junger Mann war und dieses Quartier noch gar nicht zur Stadt gehörte, sondern ein wild überwachsenes Stück Land war. Im Laufe der Jahre wurden immer mehr Häuser gebaut. Es war jedes Mal das gleiche: Die neuen Besitzer rissen die Haselsträucher aus, entfernten die Kornelkirschbüsche, den Weißdorn und die vielen anderen Heckenpflanzen, die den Vögeln nicht nur Schutz für ihre Nester bieten, sondern sie auch im Winter mit ihren Früchten ernähren. Anstelle dieser Sträucher zogen sie grüne Mauern aus Thuja hoch, damit sie sich gegenseitig nicht sehen mussten. Früher gab es Wildwiesen, in denen zur großen Freude der Schmetterlinge, der Heuschrecken und der Marienkäfer den ganzen Sommer über hunderte von Blumen blühten. Aber nein, die neuen Anwohner pflügten die Erde um und säten Rasen ein, den sie anschließend mit Herbiziden tränkten, um die kleinste Spur von Moos zum Verschwinden zu bringen. Dann mähten sie ihn so kurz wie möglich und bis an die Grenze ihrer Grundstücke, so dass sie die Natur in einen Belag aus grünen Teppichplatten verwandelten, in den einzelne Rhododendron-Büsche eingelassen waren. Das Ganze halten sie unter Zuhilfenahme von reichlich Wasser instand und leuchten es in der Nacht mit Lampen aus. Als sie die Grundstücke herrichten ließen, haben sie die Quellen zugeschüttet und die Sümpfe ausgetrocknet, so dass all die Molche, Frösche und Libellen verschwanden. Auf ihrem Gartengelände liegt nicht das kleinste Ästchen oder Blättchen am Boden, und selbst für die winzigsten Tierchen gibt es keine Deckung. Und zu guter Letzt haben sie auch noch ihre Katzen frei laufen lassen, welche die harmlosen Spitzmäuse töten und Jagd auf die jungen, ungeschickten Vögel und auf die in der Kälte starren Eidechsen machen…

Ich habe schnell verstanden, dass alles Lebendige unter dieser Flut von Gartenausstattungen verschwinden würde. Deshalb habe ich bereits vor vielen, vielen Jahren eine langwierige Arbeit in Angriff genommen: meinen Garten – der heute der Ihrige ist – sehr sorgfältig zu arrangieren, damit in ihm die Pflanzen und kleinen Wildtiere erhalten bleiben, welche einst die Fülle und die Pracht dieser Natur ausmachten. Ich sagte mir, dass meine Nachbarn vielleicht eines Tages von ihren Vorstellungen abrücken würden, dass sie lernen würden, die Vielfalt und den Reichtum der Schöpfung lieben zu lernen, und dass sie ihre Gärten und Gelände der Natur wieder zugänglich machen würden. Dann hätten sie zu mir kommen können, um aus meinem Garten Setzlinge und Samen für die ihren zu übernehmen; oder sie hätten warten können, dass sich bei ihnen die Pflanzen von selbst wieder einfinden oder vom Wind herbeigetragen würden.

Auf dieser Karte sind alle Standorte der verschiedenen Pflanzen eingezeichnet, die ich mit viel Geduld auf diesem Grundstück gesammelt und wieder angesiedelt habe. Es sind mehr als 400 verschiedene Arten. Bei Ihren Nachbarn wachsen nur rund fünfzehn, und die meisten davon sind nicht einmal einheimisch. Sie werden staunen, wie die Blüten der Pflanzen einander im Ablauf eines Jahres folgen und jede Jahreszeit mit ganz eigenen Farben und Düften bereichern. Meine Nachbarn sagen, es seien Unkräuter. Aber viele davon sind essbar, ergeben herrlichen Tee oder heilen kleine Leiden. Damit Sie die Pflanzen bestimmen können und lernen, wie man sie zubereitet, habe ich Ihnen einige Bücher überlassen.

Auf der Karte sind auch alle Orte vermerkt, die regelmäßig von kleinen Wildtieren aufgesucht werden, um ihre Jungen aufzuziehen, um auszuruhen oder um den Winter zu verbringen. In der sandigen Ecke zum Beispiel legen die Eidechsen ihre Eier. Bei der Quelle gebären die Salamander ihre Jungen. Die Rotkehlchen finden Nahrung im Spindelstrauch. Der Igel überwintert im Haufen aus den toten Ästen. Und in den langen, trockenen Rohrstängeln überstehen die Eigelege der Grashüpfer den eisigen Frost. Mit ein bisschen Geduld können Sie in Ihrem Garten das Leben der kleinen Wildtiere beobachten, das viel spannender ist, als Dokumentarfilme über die Natur im Fernsehen. Im Bücherschrank finden Sie auch einige Bücher, die Ihnen dabei helfen, die Insekten, Vögel und Amphibien zu bestimmen…

So. Nun halten Sie eine regelrechte Arche Noah in Ihren Händen, einen Hort der Artenvielfalt. Der Aufbau dieser Kostbarkeit war die Freude meines Lebens. Da dieser Reichtum bestimmt nicht beim Verkauf dieses Hauses erwähnt wurde, ist es mir sehr wichtig, dass Sie Ihren neuen Lebensraum in vollem Wissen um diese wertvolle Vielfalt einrichten können.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie und Ihre Lieben in Ihrem neuen Zuhause sehr glücklich werden.

C. Noah“


Die Martins schauten sich einen langen Moment schweigend an. Der Sohn sprach als erster. „Weißt du, Papa, man muss ja nicht unbedingt einen eigenen Fußballrasen im Garten haben. Es gibt ja ein ganz großes Fußballfeld gleich neben der Schule…“

Und seine kleine Schwester fügte halb flüsternd hinzu: „Wenn wir einen Igel haben, bin ich auch zufrieden. Wir werden ihn Ernesto nennen und ihn mit Erdbeeren füttern. Man braucht ja nicht unbedingt eine Katze wie all die anderen Leute.“

Frau Martin war sehr bewegt über die Erklärung ihrer Kinder. Sie schloss beide fest in ihre Arme, um sich so bei ihnen für ihre Besonnenheit zu bedanken. „Was die Rhododendren betrifft, so brauchen wir sie ebenfalls nicht wirklich. Ich kann die Nachbarinnen ebenso gut mit einer Verkostung der besten Wildkräuterküche des ganzen Quartiers beeindrucken!“

Herr Martin stand aufrecht gegenüber der Fenstertüre, die in den Garten führte, und hörte seiner Familie zu. Er war nachdenklich. Er fragte sich, ob auch er auf seine schöne Gartenbeleuchtung verzichten müsse, als er drei kleine grüne Lichtpunkte bemerkte, die vorsichtig durch die Naturwiese balancierten. „Glühwürmchen! Kinder, schnell, seht einmal her! Wir haben drei Glühwürmchen im Garten. Das habe ich zum letzten Mal gesehen, als ich so alt war wie Ihr!“

Weitere „Lehr-Märchen“ sowie Informations- und Bildungsmaterial unter www.energie-umwelt.ch/haus/schueler-ecke/lehr-maerchen
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