Ausgabe 2 / 2017 Material von Verena Mittermaier

Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings beugt!

(Dtn 27,19)

Von Verena Mittermaier

Fluchen, hebr. 'rr bedeutet verwünschen, schmähen; von der Wortherkunft im Deutschen aber auch: schlagen; klagen; trauern; beweinen. „Sowohl verwünschen als auch trauern, klagen, weinen ist damit verbunden, dass man sich auf die Brust schlägt.“ (Etymologisches Wörterbuch)

Ich assoziiere: Wer das Recht des Fremdlings beugt, der soll verwünscht sein, der wird geschmäht; der hat aber auch Grund zur Klage, zum Weinen, zum Trauern. Ich denke dabei unmittelbar an eine Veranstaltung, auf die wir von Asyl in der Kirche derzeit zugehen, die der Frage gewidmet ist: Wie kann das Sterben an den Grenzen Europas gestoppt werden? Ein Tag auch der Klage, der Trauer um die vielen, zum Teil namentlich bekannten, zum größten Teil anonym ums Leben gekommenen Flüchtlinge, die in Europa ein Auskommen suchten und die an den kaum überwindbaren Grenzen abprallten, im Meer ertranken, an den Zäunen, im Gelände oder in Polizeizellen umkamen.
Es sind mehrere tausend Tote in den letzten wenigen Jahren. Grund zu tiefer Trauer, Grund zur Klage. Verbunden mit der Einsicht: Wir haben damit selbst etwas zu tun. Als die, die drin sind in dem abgeriegelten und reichen Gebiet, laden wir Schuld auf uns gegenüber denen, die ausgeschlossen werden. Auch wenn wir es persönlich anders wünschen: Wir hängen mit drin, und das hat etwas von einem Fluch. Wir werden mit schuldig. Christliche Liturgie kennt im Zusammenhang mit dem Schuldbekenntnis die Geste, sich auf die Brust zu klopfen: „Ich bekenne meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld.“
„Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings beugt!“
Worin besteht dieses Recht des „Fremdlings“?
„Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ (Ex 22,20)

„Gott hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid selbst auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ (Dtn 10,18)

– Speise
– Kleider
– nicht bedrängen und bedrücken
– lieben
Die Realitäten, mit denen heute und hierzulande viele „Fremdlinge“ konfrontiert sind, lauten aber
– mieseste Lohn- und Arbeitsbedingungen
– ohne Grundsicherung, in ständiger Angst vor Abschiebung und mit kurzfristigen Duldungen leben
– Ohne ein Recht auf Ausbildung, ohne ein Recht auf eine Perspektive leben …
Das kann zusammengefasst werden mit: Keine gleichen Rechte – Keine Gerechtigkeit.

„Das wird unsere Gerechtigkeit sein, dass wir alle diese Gebote tun, wie Gott sie uns angeboten hat.“ (Dtn 6,25)

Wenn wir nicht tun, was Gott geboten hat, sollen wir verflucht sein – so die Erfahrung Israels. Dann geht zwischen uns etwas verloren. „Gott wird unter dich senden Unfrieden, Unruhe, und Unglück in allem, was du unternimmst.“ (Dtn 28,20)

Unser Zusammenleben gelingt nicht ohne Gerechtigkeit, weder in der Stadt noch auf dem Land. Ernte, Viehzucht, Gesundheit, mitmenschliche Beziehungen, alle Lebensbereiche sind dann vom Fluch betroffen. Oder aber – und das ist die Gegenerfahrung – vom Segen! Wo vom Fluch die Rede ist, steht im Hintergrund das Wissen um die Möglichkeit des Segens. Den Fluchworten in Dtn 27 folgen Segensankündigungen in Dtn 28. Israel kennt Gottes Gebot. Es kennt Gottes Kriterien von Gerechtigkeit. Es weiß aus eigener Erfahrung, aus der eigenen Geschichte, was Recht und was Unrecht ist.
Auf uns heute geschaut: Um der Rechtlosigkeit von Flüchtlingen, die in Europa und in Deutschland Zuflucht suchen, um der Rechtsungleichheit zu Leibe zu rücken zu können, um sie nicht als einen Fluch hinzunehmen, protestlos – dafür hilft ein Blick auf die Erfahrung Israels, was Recht und Unrecht ist.
Von Israels Rechtsempfinden können wir lernen.
Von Israels Liebe zum Recht, zum heilsamen, menschenfreundlichen, weil gottgemäßen Recht.
Das bezogen auf die sogenannten Fremdlinge sehr konkret lautet:
Speise – Kleider – Nicht bedrängen und bedrücken – Lieben.

Politisches Nachtgebet in der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde, Pfingsten 2007
aus:
F. Dethloff / V. Mittermaier (Hg.): „Zähle die Tage meiner Flucht …“
Gottesdienstmaterialien zum Thema Flucht und Asyl, Karlsruhe:
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages von Loeper Literaturverlag 2008 Karlsruhe
www.vonLoeper.de

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