Alle Ausgaben / 2013 Artikel von Petra Albert

Vergesst nicht die Gastfreundschaft

Kirchenasyl gewähren

Von Petra Albert

Es ist heiß, Sommer. Das Telefon klingelt. Ein Rechtsanwalt. Er habe da einen besonders schweren Fall. Ob wir den Jungen, 17 Jahre alt, in einem Kirchenasyl unterbringen könnten. Er würde sich juristisch kümmern und sicher bald Erfolg haben.

Aber erst mal müsse der junge Mann eine Unterkunft haben, sonst drohe eine Rückführung nach Polen, das Land, über das er eingereist war. Von dort würde er wahrscheinlich ziemlich bald in sein Herkunftsland abgeschoben. Ein Krisengebiet – das gehe gar nicht. Außerdem sei der junge Mann schon einmal längere Zeit in Deutschland gewesen und hier sogar zur Schule gegangen. Freiwillig habe die Familie damals Deutschland verlassen.

Ich mache mich also auf die Suche nach einer Unterkunft. Ein Minderjähriger. Schmal, fast schmächtig, zurückhaltend, perfektes Deutsch. Ihn unterzubringen sollte ja wohl möglich sein. Aber eine Kirchengemeinde nach der anderen lehnt mein Ansinnen ab. „Wir haben gerade umgebaut und keinen Raum mehr ungenutzt.“ „Der Pfarrer ist gerade in Urlaub, wir entscheiden nichts.“ „Das ist jetzt nicht unsere Aufgabe, unsere Schwerpunkte liegen auf anderen Gebieten.“ „Minderjährig? Nein – wenn da was ist, bin ich ja in der Verantwortung.“ Und wer ist in der Verantwortung, wenn er auf der Straße übernachten muss, will ich fragen. Ich frage nicht. Es gibt keine Pflicht, jemanden in ein Kirchenasyl aufzunehmen. Ich suche also weiter.

Und der junge Mann? „Ist mir egal, ich kann auch auf der Straße schlafen“, sagt er. Ach ja, ich vergaß: Mit 14 Jahren eine paramilitärische Ausbildung, Leben in den Bergen. Ein Kindersoldat. Sein Vater wollte den Fehler wieder gut machen und hat ihn hergebracht. Er ist zurück gegangen, für sein eigenes Leben erwartete er nichts mehr. Aber sein Kind sollte an seine deutsche Vergangenheit anknüpfen, wieder normal leben, eine Zukunft haben. Wenn das so einfach wäre. Zurzeit ist er illegal. Und ich habe immer noch keine Unterkunft für ihn gefunden.

„Warum versuchen Sie es nicht in der Hoffnungsgemeinde? Die machen so was doch immer.“ Ja, an diese Gemeinde habe ich auch schon gedacht. Aber das letzte Kirchenasyl wurde dort gerade erst vor wenigen Tagen beendet. Ein junges Paar, sie haben im Kirchenasyl sogar ein Kind bekommen. Die Kirchengemeinde hat alles getragen und organisiert, hat Ärzte gefunden, die auch ohne Krankenversicherung die Schwangere betreut haben. Hat Geld für den Lebensunterhalt, für Medikamente und für den Rechtsanwalt aufgebracht, einen Deutschkurs organisiert, sich aufopferungsvoll eingesetzt für die junge Familie – und erreicht, dass sie bleiben konnte. Unmittelbar zuvor hatten sie dort ein anderes Kirchenasyl, nicht weniger aufreibend. Diese Gemeinde hat eigentlich eine Kirchenasyl-Pause verdient. Das hat mir die Pfarrerin auch deutlich gesagt. Und sie hat recht. Ich kann es gut verstehen. Nun also doch wieder die Gemeinde mit diesem wunderschönen Namen. Auch hier ist die Pfarrerin gerade nicht da, mit den Konfis in Taizé unterwegs. Aber telefonisch erreichbar: „Ja, bring ihn vorbei, irgendwo muss er ja hin.“ Danke!

Zwei Jahre wird der junge Mann nun in dieser Kirchengemeinde leben. Der vom Rechtsanwalt erhoffte schnelle Erfolg hat sich nicht eingestellt. Langes, zähes Warten, vertane Zeit. Dabei möchte er seinen Schulabschluss machen, sich auf eine Ausbildung vorbereiten. Ehrenamtliche begleiten ihn und sorgen dafür, dass er hat, was er braucht. Auch ein Lehrer unterrichtet ihn regelmäßig. Seinen Schulabschluss konnte er im Kirchenasyl aber leider nicht ablegen.

Letzte Hoffnung Kirchenasyl

Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, begreifen die Menschen vor ihrer Tür als Nächste. Und Nächstenliebe als praktisches Handeln. Sie hören den Menschen geduldig zu, wenn sie erzählen, wovor sie im Fall einer Rückkehr Angst haben. Sie nehmen die panische Angst wahr, halten sie mit aus, verweigern sich nicht. So entstehen Kirchenasyle auch immer wieder in Kirchengemeinden, die bisher nicht im Bereich Migration oder Asyl aktiv waren. „Gastfreundschaft zu leben vergesst nicht“ (Hebr 13,2) – Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, nehmen diese biblische Mahnung wörtlich.

Wenn Flüchtlinge in kirchliche Räume aufgenommen werden, um sie vor der unmittelbar drohenden Abschiebung zu schützen, wurden alle möglichen rechtlichen Verfahrensschritte bereits ausgeschöpft. Die Kirchengemeinde ist zu der Überzeugung gelangt, dass den Betroffenen im Fall einer Rückkehr ins Herkunftsland oder in ein anderes Land der Europäischen Union Gefahr für Leib und Leben oder eine sonstige unzumutbare Härte droht. Aber wann ist eine Härte unzumutbar? Wurde eine mögliche Gefahr für Leib und Leben im Asylverfahren und in all den gerichtlichen Instanzen denn nicht gerade überprüft? Das ist doch der Sinn des Asylverfahrens: Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Auf die Entscheidung der Behörden und Gerichte sollte man sich doch verlassen können. Oder nicht? Und wieso kann der Asylantrag nicht in dem Land der Europäischen Union bearbeitet und entschieden werde, über das die betroffene Person eingereist ist? Fragen über Fragen, die sich immer dann stellen, wenn die betroffenen Menschen vor unserer Tür stehen.

Bei jedem Kirchenasyl sind die Hintergründe und Konstellationen anders. Immer aber ist die Kirchengemeinde überzeugt, dass in diesem konkreten Fall den Menschen Unrecht geschieht – und steht damit im Gegensatz zu der gesetzlichen Wirklichkeit. Diese Spannung gilt es auszuhalten und letztlich aufzulösen. Viele Gespräche müssen geführt werden: mit den Betroffenen, den RechtsanwältInnen, den kirchlichen Vorgesetzten, mit VertreterInnen von Behörden und mit PolitikerInnen. Gerichtsurteile müssen gelesen und Länderinformationen recherchiert werden.

An den Hörnern des Altars

Asyl am heiligen Ort hat eine lange Tradition. Zu alttestamentlichen Zeiten hatten die Altäre Hörner – wer sich dort festhielt, war vor Strafverfolgung sicher. In späteren Zeiten hatte die Kirche ein eigenes, unabhängiges Asylrecht und der Bischof die Funktion, sich für die Schutzsuchenden einzusetzen – oft Menschen, die einer Straftat beschuldigt wurden. Aber das kirchliche Asylrecht ist lange vorbei. Seit dem 19. Jahrhundert existiert es nirgends mehr in Europa. Die Vorstellung von Kirche als Schutzraum, als Zufluchtsort für Verfolgte aber hat sich durch die Zeiten erhalten. Bis heute.

In Deutschland fand das erste Kirchenasyl, so wie wir es heute verstehen, vor 30 Jahren in der Berliner Heilig Kreuz Gemeinde statt. Auslöser war die Erkenntnis, dass Menschen im Asylverfahren scheitern, obwohl eine Abschiebung unverhältnismäßig scheint oder sogar eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten kann. Vorausgegangen war der Tod von Cemal Altun – er hatte sich aus Angst vor einer Abschiebung in die Türkei aus dem 6. Stock des Berliner Verwaltungsgerichts gestürzt. Das hat die Kirchengemeinde aufgerüttelt und zu der Entscheidung geführt, eine von Abschiebung bedrohte Familie in ihre Räume aufzunehmen. Bis heute nehmen sich Menschen aus Angst vor einer Abschiebung das Leben. Auch in Deutschland.

Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, wollen den Rechtsstaat nicht aushebeln oder irgendeine Form von Rechtsbeugung begehen. Im Gegenteil – sie wollen dem Rechtsstaat zur Geltung verhelfen. Aus christlicher Nächstenliebe wollen sie verhindern, dass Unrecht geschieht und Menschen zu Schaden kommen, wollen Fehlurteile vermeiden. Ziel ist eine erneute Überprüfung des Sachverhalts durch die zuständigen Behörden. Dabei sollen die betroffenen Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht die Aktenlage.

Asylverfahren können an vielen Punkten scheitern. Zum Beispiel daran, dass neuere Herausforderungen – wie der Klimawandel oder die Zerstörung der Lebensgrundlagen aufgrund europäischer Wirtschaftspolitik – vom Flüchtlingsbegriff nicht erfasst werden. Große Bedeutung im Asylverfahren hat die sogenannte Erstanhörung. Zunächst wird nach den persönlichen Daten und nach dem Reiseweg gefragt. Fingerabdrücke werden EU-weit abgeglichen. Die Behörden wollen wissen, über welches Land der Europäischen Union die Menschen nach Deutschland eingereist sind. Denn nach der Dublin-Verordnung ist dasjenige Land der Europäischen Union für das Asylverfahren zuständig, das die Einreise erlaubt oder nicht verhindert hat. Es spielt also keine Rolle, ob jemand aus guten Gründen
in Frankreich seinen Asylantrag stellen will. Es zählt allein der Reiseweg. Falls der sich nicht herausfinden lässt, ist das Land zuständig, in dem man zuerst -aufgegriffen wurde. Mit der Folge, dass die Länder am Rand der EU überfordert sind. Ein solidarisches System der Verteilung der Flüchtlinge ist dringend notwendig – und eine menschenwürdige Behandlung von Asylsuchenden in allen Ländern der EU.

Bei der Erstanhörung werden die Antworten in einem Protokoll vermerkt. Dieses Protokoll wird den Flüchtlingen übersetzt, es wird unterzeichnet – und ist nun die Grundlage des gesamten Asylverfahrens. Alles, was nicht in diesem Protokoll steht und später im Asylverfahren noch eingebracht wird, steht unter dem Verdacht des „gesteigerten Vorbringens“ und ist aus Sicht der Behörden und Gerichte wenig glaubhaft. Dabei können Flüchtlinge oft gar nicht einschätzen, welche Informationen für das Asylverfahren relevant sind und welche Details unbedingt ins Protokoll müssen. Grundsätzlich genügt es, dass die Fluchtgründe glaubhaft sind. Aber wann ist ein geschildertes Ereignis glaubhaft? In der Praxis führt das dazu, dass aufgrund ungenauer oder zu weniger Angaben – etwa bei Datumsangaben oder bei der Schilderung von Details – das erzählte Ereignis von den Behörden als nicht glaubhaft eingestuft wird. Manchmal erzählen die Betroffenen auch nicht alles. Vielleicht wurden sie im Herkunftsland oder auf der Flucht traumatisiert, möchten an das Trauma nicht rühren und verdrängen entscheidende Ereignisse. Frauen möchten im Beisein von Männern nicht über eine erlittene Vergewaltigung berichten. Einige Flüchtlinge fühlen sich an die Behörden des Herkunftslandes erinnert oder trauen dem Dolmetscher nicht. Andere sind mit der Situation einfach überfordert, manche auch schlecht beraten und erzählen aus diesem Grund nicht umfassend oder sogar falsch.

Manchmal ist ein Kirchenasyl dann die letzte Möglichkeit. Für die Flüchtlinge bedeutet Kirchenasyl: Menschen die zuhören, die ernsthaft nachfragen und die verstehen wollen. Die bereit sind sich einzusetzen und sich bemühen, den Sachverhalt noch einmal neu aufzurollen. Die nicht aufgeben, sondern den Betroffenen beistehen, auch wenn es schwer ist oder aussichtslos scheint. Menschen, die den Flüchtlingen glauben und ihre Glaubwürdigkeit wieder heilen. Gebet und praktisches Handeln, Spiritualität und Tun: Kirchenasyl ist eine Noteinrichtung, ist zeichenhaftes Handeln, ein Seismograf für Probleme im Asylverfahren.

Der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V., dem deutschlandweiten Kirchenasylnetzwerk, sind gegenwärtig 31 Kirchenasyle bekannt. Die meisten Kirchenasyle verlaufen erfolgreich. Die Dauer ist unterschiedlich, von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren. Einige Kirchenasyle finden mit Pressearbeit statt, andere ohne. In jedem Fall sind die Behörden informiert. Die beherbergenden Kirchengemeinden sind auf Spenden angewiesen, denn Sozialhilfe oder Krankenversicherung haben die Flüchtlinge in dieser Zeit nicht. Auch ehrenamtliche UnterstützerInnen sind immer willkommen. Einkaufen gehen, Hausaufgabenhilfe für die Kinder oder einfach die Flüchtlinge besuchen und mit ihnen kochen oder Tee trinken – es geht um Menschlichkeit und nicht um Abwehr, um Menschen und nicht um Akten.

Für die Arbeit in der Gruppe

In einer Gemeindekirchenratssitzung soll über die Gewährung von Kirchenasyl anhand einer konkreten Fallbeschreibung1 entschieden werden. Eine Frau übernimmt die Rolle der Pfarrerin. Sie stellt den Fall vor, die TeilnehmerInnen diskutieren das Für und Wider.

Leitfragen sind:
-Können Sie sich vorstellen, der Angolanerin und ihrem Sohn in Ihrer Gemeinde Kirchenasyl zu gewähren?
– Welche Fragen entstehen bei Ihnen?
– Wen brauchen Sie als PartnerInnen?
– Erstellen Sie eine Checkliste, welche konkreten Schritte als nächstes unternommen werden sollen.
– Notieren Sie offene Fragen.

Am Schluss der Sitzung wird über die Gewährung von Kirchenasyl abgestimmt. Die einfache Mehrheit entscheidet. Offene Fragen können Sie später mit einer Mitarbeiterin einer Migrationsberatungsstelle besprechen.

Fallbeschreibung: Frau A. ist 25 Jahre und kommt aus Angola. Sie floh vor einem Jahrzehnte dauernden Bürgerkrieg, vor Gewaltexzessen der Bürgerkriegsparteien und einer Hungersnot infolge der landminenverseuchten Böden. Im Dezember 2001 beantragt Frau A. in Deutschland Asyl. Im März 2002 wird ihr Sohn geboren. Bereits im Oktober 2002 lehnt das Bundesamt ihren Asylantrag ab und fordert sie zur Ausreise auf. Ein Asylfolgeantrag, den Frau A. gestellt hat, wird zurückgewiesen. Abschiebehindernisse für Mutter und Kind sehen die Behörde nicht, sie sollen nach Angola ausreisen. Trotz mehrfacher Aufforderung zur Ausreise bleibt Frau A. da. Ihr Sohn besucht eine Kita. Frau A. spricht gut Deutsch. Sie ist mit einem Deutschen verlobt und hat hin und wieder gearbeitet, soweit ihr die Ausländerbehörde dies erlaubt hat.

Im März 2006 soll Frau A. mit ihrem Kind zum ersten Mal abgeschoben werden. Die Polizei fordert die Mutter telefonisch auf, ihren Sohn sofort aus der Kita abzuholen. Doch sie erscheint nicht. Daraufhin gehen vier Polizisten in die Kindergruppe und nehmen, gegen den Protest der Erzieherinnen, den Vierjährigen aus der Kita. Nach drei Stunden bringt die Polizei den Jungen zurück, denn die Abschiebung ist an diesem Tag zeitlich nicht mehr möglich.

Nach diesem Erlebnis beginnt der Junge wieder einzunässen, wacht nachts weinend auf und will sich nicht mehr von der Mutter trennen. Die Ärzte stellen eine posttraumatische Belastungsstörung fest und empfehlen eine Therapie. Ende 2006 kann der Junge endlich mit der Therapie beginnen. Im Januar 2007 gibt es einen zweiten Abschiebeversuch. Die Beamten treffen Frau A. und ihr Kind aber nicht an. Jetzt sind sie illegal. Frau A. hat panische Angst vor einer Rückkehr nach Angola, vor allem wegen ihres Kindes. Zwar wurde 2002 der Bürgerkrieg in Angola für beendet erklärt, doch die Kindersterblichkeit ist noch immer sehr hoch, 260 von 1000 Kindern erleben das sechste Lebensjahr nicht. „Mir geht es jetzt nur noch um meinen Sohn. Ich kämpfe für meinen Sohn“, sagt sie.

Petra Albert ist Beauftragte für Migration und Interreligiösen Dialog in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Sie ist Theologin und hat einen Master in Sozialmanagement. Mehrere Jahre war sie Mitglied im Vorstand der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V., seit mehr als zehn Jahren berät und begleitet sie Kirchengemeinden und Flüchtlinge bei Kirchenasylen.

Anmerkung
1) Die Fallbeschreibung auf der folgenden Seite ist nicht erfunden – die Geschichte hat in Dresden 2007 so stattgefunden und ist durch die Presse gegangen. Die originalen Jahreszahlen wurden beibehalten. Frau A. und ihr Sohn konnten am Ende bleiben und leben weiterin in Deutschland.

zum Weiterlesen
Fanny Dethloff, Verena Mittermaier (Hgg.): Kirchenasyl. Eine heilsame Bewegung, Karlsruhe 2011
Matthias Morgenstern: Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, Aktuelle Situation, Internationaler Vergleich, Wiesbaden 2003
Links: www.kirchenasyl.de; www.oekumenezentrum
ekm.de/migration/kirchenasyl

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