Gewalt ist ein sehr präsentes Thema. Es geht dabei nicht nur um Angriffe und Übergriffe im privaten Bereich. Wir leben in einem weltweiten Zusammenhang, der das Leben der Einzelnen mitbestimmt und oft genug mit Gewalt in den persönlichen Bereich eingreift und uns mit einschließt in Gewalt und Ungerechtigkeit und Ausbeutung der Welt, wie wir sie heute erleben.
Wir haben wieder eine Kriegsarmee, die zur Sicherung der Rohstoffe, der Handelsschiffe und der Macht unserer Wirtschaft eingesetzt wird. Die Armut der Armen wächst, der Reichtum der Reichen häuft sich an und saugt die Erde zur Gewinn-Maximierung aus. Die Wüsten weiten sich aus, das massenhafte Aussterben von Tier- und Pflanzenarten ist unübersehbar. Wasser, Luft und Land werden ausgebeutet, immer mehr Naturkatastrophen sind die Folge. Kapital treibt ganze Staaten in den Konkurs. Soziale Netze werden aufgegeben, seien nicht mehr bezahlbar, heißt es. Verdrängungs- und Verteilungskämpfe zwischen Staaten sind ebenso im Gange wie zwischen Arbeitbesitzenden und Arbeitslosen. Berichte über sexuelle Übergriffe, Amokläufe und Geiselnahmen häufen sich. Wie weit kann die Spirale der Gewalt sich noch drehen?
Die Jahreslosung für 2011 nimmt einen Satz aus dem Brief auf, den Paulus im Jahr 56 oder 57 von Korinth aus an die christliche Gemeinde in Rom schrieb: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Röm 12,21) Die Spannung zwischen dem, was wir sehen, wenn wir die täglichen Informationen offenen Auges zur Kenntnis nehmen, und diesem so friedlich anmutenden Satz ist kaum zu überbieten.
Paulus schreibt diesen Satz an „alle Geliebten Gottes in Rom, gerufen, als heilige Geschwister zu leben“ (Röm 1,7)(1) von seinem zweiten Aufenthalt in Korinth aus. Er sehnt sich schon lange danach, nach Rom zu kommen (1,11; 15,23ff), aber seine Missionsaufgaben hinderten ihn bisher daran. Nun kommt noch seine Reise nach Jerusalem dazwischen, denn er hat versprochen, die Kollekte für die Armen in Jerusalem, die auf dieser Missionsreise zusammengekommen ist, dorthin zu bringen. Danach will er sich nach Spanien aufmachen und auf dem Weg dahin dann endlich auch die Gemeinde in Rom besuchen. Aber es kommt anders. In Jerusalem wird Paulus gefangen genommen,(2) nach Rom gebracht und dort zum Tode verurteilt.
Rom, die Zentrale des Weltreiches, ist eine übervölkerte Stadt mit vielen sozialen Problemen. Die christliche Gemeinde besteht vor allem aus Armen und ImmigrantInnen aus dem ganzen römischen Reich. Menschen, die vor ihrer Taufe nicht Juden waren (Röm1,5f) und Juden-Christen. Viele von ihnen wohnen und arbeiten in Trastevere, ein ärmliches Viertel mit engen, bis zu 6-stöckigen Mietshäusern. Es sind TagelöhnerInnen, kleine HandwerkerInnen, Schiffsleute und FischerInnen. In Röm 13,7 ist von Steuern und vom Zoll die Rede; Steuern müssen Menschen zahlen, die kein Bürgerrecht in Rom haben, Zoll muss von zahlungskräftigen Geschäftsleuten aufgebracht werden. Es gibt also auch solche in der Gemeinde, die Armen helfen können.
Bei einer solchen Mischung sind Spannungen innerhalb der kleinen christlichen Gemeinde nicht überraschend. Paulus reagiert darauf. Er spricht davon, dass die unterschiedlichen Fähigkeiten der Einzelnen für das Ganze wirksam sein sollen, vergleicht die Gemeinde mit einem Körper, an dem jedes Glied seine Aufgabe hat. Er setzt sich für Geschwisterlichkeit, Liebe, Achtung und Teilen ein und spricht die Streitfrage an, ob bestimmte Speisen oder Getränke aus religiösen Gründen abgelehnt werden müssen. „Wir sollten aufhören uns gegenseitig zu verurteilen“, mahnt er. (Röm 14,13) „Nicht Essen und Trinken machen Gottes Welt aus, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude – bewirkt durch die heilige Geistkraft.“ (14,17)
Leute mit christlichem oder jüdischem Glauben gelten im Römischen Reich als aufrührerisch und intolerant. Ihre Kulte zu feiern ist ihnen ja nicht verboten – wenn sie nur nicht darauf beharren würden, dass es nur einen Gott gibt, und deshalb die Verehrung der römischen Gottheiten und des Kaisers ablehnen. Eben damit aber sind alle öffentlichen Veranstaltungen und Handlungen verbunden. Deshalb gibt es immer wieder Verfolgungen und Ausweisungen aus Rom. Auch Priska und Aquila sind darum in Korinth, als Paulus seinen Brief abfasst. Claudius (41-54 n.Chr.) hat die „fortwährend rebellierenden Juden aus Rom vertrieben.“(3) Nach seinem Tod können sie zurück und auch den Brief des Paulus mitnehmen. Aber es bleibt gefährlich. Sein Nachfolger Nero (54-68 n.Chr.) verfügt nach dem großen Stadtbrand in Rom eine schreckliche Verfolgung der christlichen Gemeinde.
Gerechtes Leben im Ungerechten?
Wie also sollen diejenigen, die an Gott glauben, sich verhalten? Wie sollen ChristInnen leben in einem „Rechtsstaat“, in dem Gewalt und Ungleichheit mit Händen zu greifen sind – zwischen SklavInnen und HerrInnen, zwischen Eroberern und den unterworfenen Völkern, zwischen denen, die Bürgerrecht und den vielen, die keins haben, zwischen Männern und Frauen? Wie können sie leben mit ihrem Gott, der Quelle des Friedens (Röm 15,33), und schweigen zu dem, was sie täglich sehen und erleben: Frieden, der für die meisten in Unterdrückung besteht, den der göttlich verehrte Kaiser allen Völkern mit Militär, Versklavung, Ausraubung und verbrannter Erde bringt?(4) Sollen sie schweigen und Gott in ihrem Herzen dienen, sich ducken und bloß nicht auffallen?
Und wie sollten sie Paulus verstehen? Der schreibt, sie sollen sich selbst, ihren „Körper als lebendige heilige Gabe einsetzen, an der Gott Freude hat.“ (Röm 12,1) Das sei die vernünftige Art, in dieser Situation zu leben, „euer vernunftgemäßer Gottesdienst.“ (V.1) „Schwimmt nicht mit dem Strom, sondern macht euch von den Strukturen dieser Zeit frei, indem ihr euer Denken erneuert.“ (V.2) „Nennt das Böse beim Namen.“ (V.9) „Zieht alle an einem Strang und richtet euch dabei nicht an den Mächtigen aus, sondern lasst euch zu den Erniedrigten ziehen.“(V.16)
Bis hierher hat Paulus die Gemeinde angesprochen. Nun spricht er die Einzelne, den Einzelnen an: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege Böses mit Gutem.“ (V.21) Da ist keine Unterwürfigkeit und kein Schweigen oder Paktieren mit den Mächtigen. Dulden und Schweigen als Antwort ist von Paulus kaum zu erwarten.(5) Dagegen spricht sein ganzes Leben, etwa sein Verhalten im Gefängnis, wo er einsaß, weil er eine Sklavin vom Wahrsagergeist befreite. Ihre Besitzer hatten an ihrer Krankheit viel verdient. Als er möglichst ohne Aufsehen entlassen werden sollte, bestand er auf einer öffentlichen Entschuldigung derjenigen, die ihn rechtswidrig eingesperrt hatten. (Apg 16,16-40). Offensichtlich waren Leisetreterei und Ängstlichkeit nicht seine Sache: Überwinde Böses mit Gutem. Das ist ebenso aktiv formuliert wie seine anderen Ratschläge in Röm 12.
Besiege das Böse
Das Böse, wer oder was ist das eigentlich? Ist es eine Sache, sind es Menschen, Verhältnisse oder Ereignisse? In Vers 17 schreibt Paulus: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem“ (Luther), die BigS übersetzt: „Auch wenn euch jemand Unrecht zugefügt hat, zahlt es nicht mit weiterem Unrecht zurück.“ Da ist das Böse eine konkrete Handlung, die mit einer anderen konkreten Handlung beantwortet wird. Ich denke, das Böse ist immer konkret. Andere zerstören, mobben, übervorteilen, belügen – das ist leicht als böses Verhalten zu durchschauen.
Aber nicht immer sind die konkreten Ursachen des Bösen so einfach zu erkennen wie in persönlichen privaten Zusammenhängen. In V.21 jedenfalls ist das Böse weiter und grundsätzlicher verstanden. In unserer Zeit scheint es mir besonders wichtig, sich darüber klar zu sein: Das Böse, dessen Gesicht wir vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennen, ist trotzdem böse, weil seine Auswirkungen zerstörerisch sind. Wir sind einbezogen in die Vergiftung und Ausbeutung unserer Welt, auch wenn wir uns persönlich bemühen verantwortlich zu handeln. Auch, wenn wir nichts damit zu tun haben wollen, leben wir in einem Land, das Minen und Streubomben(6) und auch Waffen für Kindersoldaten(7) produziert. Auch, wenn wir persönlich die Gesetze nicht machen, die die Lasten der Gesellschaft so verteilen, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden, sind wir als Teil der Gesellschaft dafür verantwortlich. Sich passiv zu verhalten, Unrecht geschehen oder einfach über sich ergehen zu lassen und Mund, Augen und Ohren zu verschließen gilt hier nicht. Es ist im Gegenteil ein sehr aktives Verhalten gegenüber dem Bösen gefordert. Lass dich nicht besiegen, sondern besiege! Sobald wir dem Bösen gegenüber still halten, nicht widersprechen, hat das Unrecht uns schon besiegt.
Besiege Böses mit Gutem
Wie das Böse versteht Paulus auch das Gute umfassend und grundsätzlich über den individuellen privaten Rahmen hinaus. Im 12. Kapitel, das mit unserem Satz abschließt, sagt er dazu in Vers 2: „Schwimmt nicht mit dem Strom, sondern macht euch von den Strukturen dieser Zeit frei, indem ihr euer Denken erneuert. Damit wird euch deutlich, was Gott will: das Gute, das, was Gott Freude macht, das Vollkommene.“(8)
Das Kapitel ist voller Beispiele, die das Gute konkretisieren. Immer geht es darum, das Gute aktiv gegenüber dem Bösen, der Gewalt zu vertreten: „Segnet, die euch verfolgen, setzt auf das Gute in ihnen und verflucht sie nicht.“(V.14) Deutlich fordert Paulus dazu auf, aus dem ewigen Kreislauf von Unrecht, das mit Unrecht beantwortet wird, auszusteigen und erinnert an die jüdische Tradition, die in dieselbe Richtung weist. Nicht selbst rächen, sondern dem Gericht Gottes Raum lassen (V.19 – 4.Mose 32,35) und gerechtes Handeln dagegen setzen: die hungernden und dürstenden FeindInnen mit dem versorgen, was recht ist (V20 – Spr 25.21).
Gleichwohl ist das Gute nicht einfach identisch mit rein ethischem Handeln. Der Ursprung des Guten ist Gott. Es in unser Leben umzusetzen, versteht Paulus als Vernunft gemäßen Gottesdienst. (V.2) Und der besteht im Mut, sich für das Gute stark zu machen, sich zu solidarisieren (vgl. VV. 13.15.16) und beharrlich an Veränderung mitzuwirken. (V.2)
„Überwinde Böses mit Gutem.“ Für mich gehört zu dieser Aufforderung, in dieser Welt mit offenen Augen zu leben und sich mit kritischem Verstand dem Unrecht entgegenzustellen, wo immer es sich zeigt. Paulus ermutigt dazu, unser Leben als solchen Gottesdienst zu leben.
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