(Auszug)
Ausgehend von den Beziehungen zwischen Frauen wird mit Affidamento eine bestimmte Form bezeichnet, zueinander in Beziehung zu treten. Affidamento drückt eine Haltung aus, in der Frauen einander begegnen können. Das Wort heißt übersetzt soviel wie: wertschaffendes Anvertrauen. Es bezeichnet eine Beziehung zwischen Frauen, die keineswegs emotional ist, sondern ganz rational auf dem bewussten gegenseitigen Anerkennen der Verschiedenheit beruht. Die eine („Jüngere“) erkennt bei der anderen („Älteren“) ein „Mehr“, formuliert dies Mehr – und ihr Begehren, an diesem Plus teilhaben zu wollen. Beide Frauen müssen sich gegenseitig ernst nehmen und dem Urteil der anderen vertrauen. Die notwendige positive Erwartungshaltung gegenüber der „Jüngeren“ darf nicht zu übertriebener Nachsicht der „Älteren“ führen. Die Beziehung soll ein lebendiger Austausch sein, der auf Leistung und Gegenleistung beruht, um geistige Ausbeutung zu vermeiden.
Wenn ich mich zu einer anderen Frau vertrauensvoll in Beziehung setze, vor der ich Achtung habe, die ich vielleicht sogar bewundere, von der ich lernen kann, die ich schätze, dann spreche ich ihr Autorität zu. Wenn eine andere Frau auf mich zukommt und von mir etwas haben möchte – Wissen, Zuwendung, fachliche Unterstützung oder etwas anderes – dann spricht sie mir Autorität zu. Viele Frauen, gerade hier in Deutschland, haben aber ein gebrochenes Verhältnis zum Begriff Autorität. Die Mailänderinnen füllen ihn mit einem Inhalt, der auf zutreffende Weise beschreibt, wie weibliche Autorität (und vielleicht somit auch Verantwortung und Macht?) entsteht: durch Sich-Anvertrauen an eine weibliche Person, die ein Mehr besitzt oder verkörpert, das ich begehre. Wichtig ist, dass hier nicht ein Abhängigkeitsverhältnis beschrieben ist, sondern eine Art Vertrag, der auf Freiwilligkeit beruht. Die Autorität wird von unten verliehen, nicht von oben eingefordert. „Es ist wichtiger, Lehrmeisterinnen zu haben, als anerkannte Rechte zu besitzen. Eine Frau braucht eine positive weibliche Autorität, wenn sie ihr Leben in einem Entwurf der Freiheit leben und darauf ihr Frau-Sein gründen will.“ (Wie weibliche Freiheit entsteht, S. 25)
Um den Affidamento-Ansatz zu verstehen, ist es wichtig zu erkennen, dass es faktisch Mutter-Tochter-Beziehungen gibt, dass faktisch Differenz da ist zwischen Männern und Frauen und auch zwischen den Frauen, dass es faktisch Autorität gibt – und dass es also darauf ankommt, dieses „Fakten“ so zu deuten, dass wirklich weibliche Freiheit entsteht.
Ich persönlich denke: Selbstverständlich. Denn was tun Frauen in der Frauenhilfe anderes, als sich erst einmal auf andere Frauen zu beziehen und – auf sehr unterschiedliche Weise – gemeinsam mit anderen Frauen etwas zu machen? Die Verschiedenheit von Frauen ist gerade in der Frauenhilfe deutlich. Alte Frauen und junge Frauen, Frauen, die in der Kirche beheimatet und verwurzelt sind und Frauen, die ihr eher skeptisch gegenüber stehen, Frauen, die sich feministisch nennen und Frauen, denen dieser Begriff eher ein Kopfschütteln entlockt. Diese Unterschiede machen die Arbeit mit und für die Frauen oft schwierig, Konflikte sind vorprogrammiert.
Die Norditalienerinnen versuchen, diese Unterschiedlichkeit ins Spiel zu bringen, sie nicht als Problem, sondern als große Chance zu verstehen. Der Blickwinkel des Affidamento kann in der Begegnung von sehr unterschiedlichen Frauen aus der schnellen Abgrenzung den anderen gegenüber in eine interessierte, wertschätzende Offenheit führen. Auf der Basis einer Affidamento-Haltung bekommen die verschiedenen Erfahrungen, Denkweisen und Handlungsarten von Frauen eine neue Dimension. Frauen schaffen Reichtum. Einen Reichtum, der oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, und auch oft von den Frauen selbst nicht als solcher wahrgenommen wird. Das einander wertschätzende Anvertrauen bedeutet, diesen Reichtum, der auch in der Verschiedenheit liegt, zur Sprache zu bringen. Einander Autorität zu verleihen, kann zu mehr Selbstbewusstsein führen, aber auch zur Anerkennung von Leistungen und Fähigkeiten anderer Frauen, die somit viel mehr wirken können.
Der Affidamento-Ansatz lässt sich nicht in ein oder zwei Stunden darstellen oder gar begreifen. Aber ein Einstieg, ein Anfang, dem vielleicht ein Zauber inne wohnt, ist machbar. Ein Anfang, der Lust auf mehr macht, der das Begehren weckt und die Neugierde, mehr darüber zu erfahren, wie Frauen sich die Welt aneignen.
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