Ausgabe 2 / 2012 Artikel von Frauke Josuweit

Verschwiegene Erinnerung

Familien-Botschaft aus dem Unbewusstsein

Von Frauke Josuweit

„Meine Großmutter hat mein Leben in Bahnen gelenkt, die ihm nicht notwendigerweise vorgegeben waren“, schreibt Christina von Braun in ihrer Familiengeschichte Stille Post. Vor vielen Jahren sei ihr plötzlich klar geworden, dass ihr die eigene Mutter diese Erbschaft übertragen habe.

„Sie selbst konnte nicht damit umgehen. Ich habe mich lange gegen dieses ‚Geschenk' gewehrt – das ging bis zur Nahrungsverweigerung. Irgendwann, als ich mich der Aufgabe gewachsen fühlte, habe ich mich nicht mehr gewehrt.“ Nachträglich habe sie begriffen, dass ein Gutteil der Konflikte, die sie mit ihrer Mutter ausgetragen habe, mit dieser Weigerung zu tun hatte, das ihr zugedachte Paket zu übernehmen.(1)

Lebensthemen der Großmutter

Hildegard Margis, besagte Großmutter von Christina von Braun, war gegen Ende der 1920er Jahre eine der bestverdienenden Frauen Deutschlands. Mit zwei kleinen Kindern wurde sie im April 1918 Witwe, als ihr Mann in den Schützengräben von Verdun fiel. Ihre Eltern hatten sich wenige Jahre zuvor das Leben genommen, sie war auf sich allein gestellt. Hildegard Margis hatte, ungewöhnlich für die damalige Zeit, eine Ausbildung: Sie war Lehrerin.

Seit 1918 hatten Frauen in Deutschland Wahlrecht. „Dieselben Frauen, die zum ersten Mal das Stimmrecht erhielten, entwickelten auch diese ungeahnten Kräfte, die ich bei meiner Großmutter entdeckt habe“, stellt Christina von Braun fest, als sie nach dem Tod der eigenen Mutter sich auf die Suche nach dem Leben ihrer Großmutter macht.

Hildegard Margis lebt in den unmittelbaren Nachkriegsjahren mit ihren Kindern am Existenzminium, denn als Lehrerin verdient sie nicht viel. Die Idee, eine Zeitschrift zu gründen, und fünf Dollar einer amerikanischen Freundin aus Vorkriegstagen bringen die Wende. Sie gründet den Hauswirtschaftlichen Einkaufs-, Beratungs- und Auskunftsdienst Heibaudi, Vorläufer der heutigen Verbraucherzentralen. Große Firmen wie AEG und Siemens beginnen sich für die Unternehmerin zu interessieren, später gründet sie gemeinsam mit der Deutschen Verlags-Anstalt den Verlag für Hauswirtschaft und gibt für den Ullstein Verlag Texte zu Frauenfragen heraus.

1922 – das Frauenwahlrecht existierte in Deutschland gerade mal vier Jahre – sucht Gustav Stresemann den Kontakt zu Hildegard Margis. Eine Frau, die das riesige neue Wählerinnenpotential der Hausfrauen anspricht, kommt dem Politiker entgegen. Als Vertreterin der Verbraucherinteressen wird sie zum Mitglied des Reichswirtschaftsrates ernannt und in der Kommunalpolitik aktiv. Zehn Jahre, nachdem Hildegard Margis ihr Informationsblatt gegründet hat, bewegt sich die Fachfrau für rationelle Haushaltsführung in einflussreichen politischen und wirtschaftlichen Kreisen. Im Auftrag von Gustav Stresemann fährt sie in die USA und hält dort Vorträge über die Anliegen von Frauen in der Weimarer Republik. Sie verkehrt in Kreisen der Frauenbewegung – das wird ihrer Enkelin erst Jahrzehnte später bewusst. Dabei beschäftigt sich Christina von Braun seit den 1970er Jahren in ihren Büchern und Filmen immer wieder mit der Geschichte der Frauenbewegung und mit Genderthemen.

Hildegard Margis war, so schreibt Christina von Braun, schon vor 1933 eine überzeugte Gegnerin des Nationalsozialismus. „Als am 9. November 1938 jüdische Läden geplündert wurden, nahm sie ihr Auto und half jüdischen Freunden, ihr Lager zu räumen und die Textilbestände zu retten. Sie brachte die Sachen in ihrem Haus unter. Ab nun kamen Leute in die Lyckallee, um dort Kleidung zu kaufen.“ Ihr jugendlicher Sohn Hans hingegen ist glühender Bewunderer Hitlers und der Nationalsozialisten. Er gehört den so genannten Jung-Stahlhelmern an. Am 30. Juni 1934 erhält Hans einen Einstellungsbefehl – die jungen Männer sollten in den so genannten „Röhm-Putsch“ verwickelt werden. Hans kommt unversehrt davon, Hildegard Margis sorgt dafür, dass er zunächst in Ostpreußen untertauchen kann und dann 1936 zur Ausbildung nach England geht. Tochter Hilde reist 1940 nach Afrika und heiratet den dort deutschen Diplomaten Sigismund von Braun. Hildegard Margis blieb in Deutschland. Bereits 1934 hatten die Nazis Verlag und Verbraucherberatung der Hildegard Margis gleichgeschaltet, sie selbst wurde verdrängt. Weshalb sie das Land nicht verließ, weiß niemand.

Das Erbe der Enkelin

Begegnet sind sich Großmutter und Enkeltochter nie. Hildegard Margis wird im September 1944 in Berlin von den Nazis wegen Kollaboration mit Kommunisten verhaftet und von der Gestapo verhört. Sie stirbt wenige Tage später, erst 57-jährig, im Frauengefängnis Barnimstraße. Zehn Wochen alt ist da die in Rom geborene Christina von Braun.
Die Lebensspuren der Großmutter sind jedoch Wegweiser für das Leben der Enkeltochter und für die Themen, mit denen sie befasst ist. Wegweiser, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind.

Ende der 1980er Jahre dreht Christina von Braun einen Film zur Geschichte der Entnazifizierung in Ost- und Westdeutschland: Auseinandersetzungen auch mit ihrer eigenen Familiengeschichte, allerdings väterlicherseits. Sigismund von Braun ist ein Bruder von Wernher von Braun, der von 1937 bis 1945 technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde war und dort die Entwicklung der V2 leitete, einer Flüssigtreibstoffrakete, mit der ab 1944 London bombardiert wurde.

1990 erscheint Christina von Brauns Filmtrilogie Der ewige Judenhaß. Als sie sechs Jahre späten ihren in Australien lebenden Onkel Hans, der nie nach Deutschland zurückkehrte, kennenlernt, erfährt sie, woher ihr Bestreben, sich mit dem jüdischen Glauben auseinanderzusetzen, kommt: Hildegard Margis war Halbjüdin. Das hatte Hilde von Braun verschwiegen.

Erinnerungen an Menschen können sich jedoch auch in Form von Schweigen oder Rätseln fortschreiben. Möglicherweise ist Verdrängung sogar die wirksamste Form, eine Erinnerung zu bewahren? Und so führen Christina und Carola von Braun die abgebrochene Geschichte ihrer Großmutter fort. Die FDP-Politikerin Carola von Braun wird 1984 die erste Frauenbeauftragte Berlins und gründet 1992 die Überparteiliche Fraueninitiative Berlin, ihre Schwester Christina setzt sich medial mit Nationalsozialismus, Judenhass und Genderfragen auseinander.

Das Schweigen der Mutter

Ihre Mutter Hilde von Braun verschwieg nicht nur die jüdische Herkunft der eigenen Mutter, sie sprach auch sonst wenig über die vermutlich wichtigste Frau in ihrem Leben. „Und wenn“, erinnert sich Christina von Braun, „dann oft in negativen Worten“. Hilde von Braun wählt einen Lebensentwurf, der dem Leben der eigenen Mutter diametral entgegengesetzt ist. „Meine Mutter hat mir einmal gesagt, sie habe schon als junge Frau begriffen, dass ihr Körper ihr Kapital sei.“ Nur durch einen angesehenen standesgemäßen Mann könne sie zu Bedeutung gelangen, so ihre Überzeugung, die sie teuer bezahlen wird. Mehrere Suizidversuche, jahrzehntelanger Konsum von Antidepressiva und Schlafmitteln sind der Preis. Mit der Erbschaft ihrer Mutter konnte sie nicht umgehen, sie gibt sie daher an die eigenen Töchter weiter.

Stille Post nennt Christina von Braun diese Botschaften, für die es ihrer Meinung nach einer großen Nähe, eines fast körperlichen Verwachsenseins bedarf. „Mein Archiv besteht aus diesen unsagbaren Botschaften, die fast nur in Familien weitergegeben werden. Sie haben etwas mit den Wunden zu tun, die das Leben den Einzelnen zugefügt hat.“ So kommen die Wunden der Vorfahrinnen und Vorfahren auch bei uns an. Meist unbewusst. Damit narrativ umzugehen – wie es Christina von Braun tat, als sie eigentlich ein Buch über ihre Großmutter schreiben wollte und dabei aber immer deutlicher auch die Stimme ihrer Mutter hörte – bietet nach Meinung von Rosmarie Welter-Enderlin, Pionierin der systemischen Familientherapie im deutschsprachigen Raum, Entwürfe für mögliche Lösungen. Lösungen, aus denen sich autonome Wirklichkeiten gestalten lassen, denn es sind eigene Lösungen, nicht die von Experten.

Diese Prozesse brauchen allerdings Zeit. Viel Zeit. Nicht selten Jahrzehnte oder auch ein ganzes Leben.

Frauke Josuweit ist zuständig für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der EFiD.

Anmerkungen:
1 Christina von Braun: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte, Berlin (Propyläen) 2007

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