Ausgabe 2 / 2009 Andacht von Karin Hartz-Hellemann

Verwirf mich nicht in meinem Alter

Mit Psalm 71 gegen die Angst vor dem Vergessen

Von Karin Hartz-Hellemann


Vorbemerkungen für die Leiterin: Zu den Symptomen von Altersdemenz siehe den Beitrag S. 74ff. Wie aber reagiere ich als Gruppenleiterin auf langjährige Mitglieder, die dem Inhalt des Gruppengesprächs nicht mehr folgen können, die in kurzen Abständen immer dieselben Fragen stellen, die mitten im Gruppengeschehen nach Hause wollen?

Frau L. ist ein langjähriges Mitglied. Sie ist immer hilfsbereit, einfühlsam und engagiert gewesen. Oft hat sie schöne Themenvorschläge eingebracht. Doch in den letzten Monaten ist eine Veränderung mit ihr vorgegangen. Wo sie früher einen gelassenen und ruhigen Eindruck gemacht hat, zeigt sie sich heute von einer unruhigen und hilflosen Seite. Es kommt häufiger vor, dass sie Kaffee verschüttet und mit einem anderen Mantel nach Hause gehen will. Ihre Redebeiträge lassen
vermuten, dass sie mit ihren Gedanken woanders ist. Wenn alte bekannte Lieder gesungen werden, singt sie mit, ohne ins Liederbuch zu schauen. Neue Lieder will sie nicht mehr lernen. Auf direkte Ansprache reagiert Frau L. mit der Frage: „Machen wir bald Schluss? Ich muss doch nach Hause.“ Frau S. neben ihr unterhält sich verständlicherweise lieber mit ihrer anderen Sitznachbarin.
Neulich kam Frau S. auf mich zu und sagte: „Ich habe vor einiger Zeit Frau L.'s Tochter getroffen. Da habe ich sie direkt gefragt, was denn mit ihrer Mutter los ist. Da hat die Tochter ganz unglücklich ausgesehen und gesagt: ‚Meine Mutter ist an Demenz erkrankt. Ich habe schon viele Dinge für sie übernommen, etwa die Bank-Angelegenheiten. Ich bin aber auch sehr froh, dass meine Mutter zu Ihnen in die Gruppe geht. Da kriegt sie doch wenigstens ein paar Anregungen und hat etwas Gemeinschaft, ist unter Leuten.' ‚Tja', habe ich geantwortet, ‚aber ob die Frauenhilfe da noch der richtige Ort für sie ist, bezweifle ich. Sie kann sich doch gar nicht mehr richtig an den Diskussionen und unseren Aktionen, wie z.B. der Vorbereitung des Weltgebetstages, beteiligen.' Daraufhin sagte sie: ‚Meine Mutter ist doch langjähriges Mitglied bei Ihnen, und die Frauenhilfe war und ist ihr immer noch sehr wichtig. Wenn sie nicht stört, so lassen Sie sie doch bitte auch weiterhin kommen.' Ich kann sie ja verstehen. Sie weiß ihre Mutter gut bei uns aufgehoben. Aber, sag mal, was sagst du als Gruppenleiterin dazu?“

Nun fühle ich mich gefordert, Stellung zu beziehen und eine Entscheidung zu treffen. Aber kann ich das, ohne die Gruppe mit einzubinden? Ich überlege mir, mit drei Frauen aus der Gruppe eine Andacht zum Thema „Demenz“ vorzubereiten. Denn die Auseinandersetzung mit den eigenen Einschränkungen beim Älterwerden weitet die Sichtweise und erhöht die Bereitschaft, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Damit kann ich vielleicht den Boden bereiten für ein konstruktives Gespräch innerhalb der Gruppe, ob wir Frau L. weiterhin als Mitglied behalten können – oder ob wir mit ihrer Tochter reden und sie bitten, ihre Mutter in eine andere Gruppe zu geben, die angemessener auf die Bedürfnisse von Frau L. reagieren kann…


Ablauf

Einstieg
Älter zu werden fällt uns unterschiedlich schwer. In einem kleinen Vorbereitungskreis haben wir uns mit dem Älterwerden beschäftigt. Wir sind auch der Frage nachgegangen, wie wir mit unseren Ängsten und Befürchtungen umgehen können und welchen Halt uns unser Glaube geben kann.
Wir wollen diese Andacht halten im Namen Gottes, unseres Schöpfers, im Namen Jesu, unseres Bruders, der uns immer wieder zur Nächstenliebe anstiftet, und im Namen der Heiligen Geisteskraft, die über unseren Verstand hinaus Menschen verbindet und eint.
Amen.

Psalm 71,1-3+9+12
Gott, ich traue auf dich, lass mich nimmermehr zu Schanden werden.
Errette mich durch deine Gerechtigkeit und hilf mir heraus,
neige deine Ohren zu mir und hilf mir,
Sei mir ein starker Hort, zu dem ich immer fliehen kann,
der du zugesagt hast, mir zu helfen.
Verwirf mich nicht in meinem Alter,
verlass mich nicht, wenn ich schwach
werde.
Gott, sei nicht ferne von mir,
eile mir zu helfen.

Ein Mensch ruft Gott an in großer Herzensnot, sucht Hilfe bei Gott. Er spürt die Probleme des Älterwerdens und hat Angst davor. Früher hat dieser Mensch Kraft und Stärke bewiesen, die Situationen seines Lebens gemeistert. Nun ist es anders geworden.
„Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde.“

Der Psalmbeter erinnert uns daran, dass wir mit allen unseren Sorgen und Ängsten vor Gott treten können.

Drei Stimmen
– Ich bin ja so vergesslich geworden. Manchmal fallen mir Namen und Begriffe nicht mehr ein, die mir früher geläufig waren. Ständig verlege ich meine Brille oder andere Dinge. Absprachen und Verabredungen kann ich mir nur merken, wenn ich sie Schwarz auf Weiß habe.
Wo finde ich Orientierung?

– Ich bin oft deprimiert über meine nachlassenden Fähigkeiten. Früher ging mir alles so schnell von der Hand. Heute brauche ich eine Ewigkeit dazu. Wie wird es werden, wenn ich noch älter werde?
Wo finde ich Selbstvertrauen?

– Ich habe Angst vor dem Ende meines Lebens. Früher habe ich nie darüber nachgedacht. Wie wird es sein? Bin ich dann bereit zu gehen? Habe ich mein Leben sinnvoll gelebt?
Wo finde ich eine Antwort, einen Halt?

Die Fragen werden visualisiert:
Wo finde ich Orientierung?
Wo finde ich Selbstvertrauen?
Wo finde ich eine Antwort, einen Halt?

Psalm 139 mit Zwischengedanken
von zwei Sprecherinnen vorgetragen

Gott, du erforscht mich

Du siehst, ich bin älter geworden, ich habe Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit. Mein Erinnerungsvermögen, meine Spannkraft und auch meine Lebensfreude lassen nach.

und du kennst mich.

Du kennst meine Ängste vor dem Älterwerden, die Sorge, meine Selbständigkeit zu verlieren, meine Furcht vor dem Sterben.

Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es, du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.

Du weißt, welche Gedanken mich beschäftigen, welche Grübeleien mich bedrücken, welche Sorgen mich plagen, welche Ängste mich quälen, ob ich nun ruhe oder beschäftigt bin. Mein Tun oder Lassen nimmst du wahr.

Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Gott nicht schon
wüsstest.
Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.

Bevor mein Verstand meine vielen Gedanken und Gefühle in Worte fassen kann, hast du sie schon verstanden und gibst mir Schutz und Geborgenheit.

Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.
Wohin soll ich gehen vor deinem Geist und wohin fliehen vor deinem Angesicht?
Führe ich gen Himmel, so bist du da,
bettete ich mich bei den Toten, siehe,
so bist du auch da.

Ganz gleich, ob ich Himmel hoch jauchzend oder zu Tode betrübt bin, du hüllst mich ein in deine Gegenwart.

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.


Raum geben für eigene Gedanken; im Hintergrund spielt meditative Musik
Lied EG 425,1
Gib uns Frieden jeden Tag
oder Kanon
Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht


Austausch in Murmelgruppen
Was tröstet mich? Was gibt mir Halt? Was hat mein Selbstvertrauen gestärkt?


Blindenführung
Diese Übung braucht einen großen, barrierefreien Raum. Jedes Paar legt fest, wer sich zuerst mit geschlossenen Augen von der Partnerin durch den Raum führen lässt. Danach wird gewechselt.
Impuls zum anschließenden Austausch: Was fiel schwerer – zu führen oder mich führen zu lassen? Welche Gefühle habe ich wahrgenommen? Welche Bilder entstehen in meinem Kopf?

Es fällt uns meistens schwerer, uns führen zu lassen als zu führen. Als Führende sind wir selbstbestimmter, als Geführte fühlen wir uns abhängiger und hilfloser. An oder in Gottes Hand erfahren wir aber auch Geborgenheit, so wie es im folgenden Lied ausgedrückt wird.


Lied EG 376,1-3
So nimm denn meine Hände

Um Geborgenheit zu spüren, brauchen wir aber auch Menschen. Die folgenden Seligpreisungen aus Afrika wissen darum.


Seligpreisungen: Seite 43


Gebet
„Auch bis in euer Alter bin ich derselbe und ich will euch tragen,
bis ihr grau werdet; ich will heben und tragen und erretten.“ (Jesaja 46,4)
Liebender Gott!
Du gibst uns immer wieder neu die Zusage, dass du uns nicht verlassen willst.
Das Altwerden fällt uns nicht leicht, es geht einher mit Verlust und Verunsicherung.
Du aber willst unser Halt sein, unser Licht, unsere Orientierung.
Lass das Vertrauen in uns immer größer werden,
dass du unsere Zuflucht sein willst
zu allen Zeiten unseres Erdenlebens.
Amen


Gemeinsam beten wir:
Vater unser


Segen
Gott, segne die Zeit,
die wir miteinander verbracht haben,
segne unsere Gespräche, das Nachdenken und unsere Gemeinschaft.
Gott, lass uns Deine Nähe spüren,
schenke uns ein tiefes Gefühl von Geborgenheit in dir,
gib uns Deinen Frieden.
Amen


Karin Hartz-Hellemann, 53 Jahre, ist theologisch-pädagogische Mitarbeiterin des Landesverbandes Braunschweig der Ev. Frauenhilfe. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Erstellung von Themeneinheiten für die Frauenhilfen vor Ort.


Zum Weiterlesen

Sr. Rosa Maria Lochmiller: CIG-Denkanstösse Nr.6: „Reise in ein fremdes Land“
Leben mit dementen Menschen – Zehn Bausteine für die Gruppenarbeit mit pflegenden Angehörigen von Klaus Depping (Arbeitshilfe der EEB Niedersachsen)
Herausforderung Demenz: Eine Entscheidungs- und Planungshilfe, Hgg.: Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit in der EKD – EAfA und Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und ambulante pflegerische Dienste e.V. – DEVAP

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