Alle Ausgaben / 2008 Artikel von Ilona Helena Eisner

Viel sagende Blicke

Lesewelten ohne Bücher

Von Ilona Helena Eisner


Lesen können heißt: die Buchstaben des Alphabets beherrschen, ihre Zusammensetzungen als Wörter erkennen, deren Aneinanderreihung in vollständigen Sätzen verstehen und wiederum deren Aneinanderreihung in Briefen, Zeitungsartikeln oder Büchern begreifen.


Aber Lesen ohne Bücher? Wie soll denn das gehen? „Du machst Witze!“ „Das ist doch ein Widerspruch in sich!“ Solche Sätze bekam ich häufiger zu hören, wenn ich erzählte, dass ich darüber schreiben will. Anfangs habe ich mir das selbst auch gesagt. Doch dann hatte ich – wie so oft – doch manches Aha-Erlebnis und möchte Sie, verehrte Leserin, gern daran teilhaben lassen.


Von den Augen ablesen

Lesen ohne Bücher. Da ist zunächst der alte Mythos, dass Verliebte einander jeden Wunsch von den Augen ablesen. Das klingt toll – und so romantisch! Wie oft habe ich mir diesen Traummann gewünscht, der das fertig bringt. Ich liebe es, überrascht zu werden, einen Wunsch erfüllt zu bekommen, bevor ich ihn verbal geäußert habe, ja eigentlich, noch bevor er mir selbst richtig bewusst geworden ist. Das macht zufrieden und glücklich, meinen wir. Mit der Zeit lernt frau, dass die Realität anders aussieht und ohne Kommunikation da wohl nichts zu holen ist. Wenn ich meine Wünsche selbst nicht genau kenne, wie soll es dann ein Gegenüber? Und davon abgesehen: Wäre es wirklich so toll, alle Wünsche erfüllt zu bekommen? Wäre ich dann wirklich „wunschlos glücklich“? Und doch ist es natürlich schön, sich hin und wieder einen Wunsch erfüllen zu lassen oder zu erfüllen. Voraussetzung dafür ist allerdings nicht allein der vielsagende Blick – hinzu kommen müssen aufmerksames Zuhören, genaues Beobachten und Reagieren und die Bereitschaft, einem anderen Menschen eine Freude zu machen.


Spuren lesen

Andere Formen des Lesens ohne Bücher sind: auslesen, verlesen (im Sinne von aussortieren), erlesen und auserlesen. Bei der „Lese“ fällt mir sofort die Traubenlese ein. Wie wäre es mit einem guten Wein, natürlich einer Spätlese, für den Abend? Dabei könnte ich ein Buch auslesen, das ich vorher auserlesen, also ausgewählt habe. Bei der Auslese von Literatur und anderen Dingen ist es ja immer ratsam, den eigenen Neigungen zu folgen. Und somit das Erlesene zu wählen. Wir müssen uns nur erlauben zu denken, dass das Beste für uns  gerade gut genug ist.

Ziehe Deine Kralle
durch die Butter
bevor Du gehst

Dann kann ich
sicher
sein

Dass es
Dich
gab

Den Augenblick
da ich die Dunkelheit berührt habe
sanft raschelnd

wie meine Furcht

Dieses Gedicht fand ich im  Internet unter www.keinVerlag.de. Unterzeichnet mit Chromoxid. Es hat mich sehr angesprochen. „Ziehe Deine Kralle durch die Butter“ heißt für mich nichts anderes als: „Hinterlasse eine Spur.“ Und damit sind wir beim nächsten großen Bereich des Lesens ohne Bücher: Spuren lesen. Mein erster und vorerst einziger  Gedanke waren Tierspuren. Jäger und Sammler und Indianervölker, die darin große Meister/innen sind. Um zu überleben oder Gefahren abzuwehren ist es nötig, die Spuren zu erkennen. Von welchem Tier stammt diese Spur? Ist es womöglich krank oder gefährlich? Dient es der Nahrungsbeschaffung oder muss ich mich vor ihm schützen? Wann ist es hier vorbei gekommen, wie weit könnte es entfernt sein?
Als Kind war ich sehr aufmerksam, wenn ich auf Spaziergängen Spuren entdeckte. Doch leider habe ich mein Wissen darüber nicht ernsthaft vertieft. Bei der Prüfung zur Aufnahme in einen Indianerstamm würde ich absolut scheitern. Eine Pferdespur von der eines Hundes zu unterscheiden, traue ich mir so gerade noch zu. Aber welche Spuren z.B. Wölfe hinterlassen, oder Bären, ist mir nicht geläufig. Ist es möglicherweise eine gute Gelegenheit, sich in einer Gruppe gemeinsam den Tierspuren zu widmen? Abbildungen sind in Kinderbüchern und natürlich im Internet leicht zu finden.

Doch Spuren suchen ist noch viel mehr. In der Kriminalistik sind Spuren von großer Bedeutung. Spuren sichern und auswerten ist nicht selten eine echte Sisyphusarbeit. Und es bedarf des Scharfsinns und der Kombinationsgabe. Weniger schwierig ist es, Spuren im Sand oder im Schnee zu finden. Der weiche Untergrund nimmt Abdrücke leicht auf, aber sie verwischen auch schnell wieder. Da ist ein Gipsabdruck langlebiger – eine Methode, die auch zur Spurensicherung angewendet wird und genau so wichtig ist für die Lösung so manches kniffligen Falls wie die „heiße Spur“.

Spuren zu lesen gibt es darüber hinaus in der Medizin, der Archäologie, der Weltraumforschung, der Kunstgeschichte, der Religion, Molekularbiologie und Physik. Ich war überwältigt, all diese Fachgebiete im Zusammenhang mit Spuren zu finden. Nach und nach wurde mir klar, dass Spurenlesen überall da zum Tragen kommt, wo Erkenntnisse gewonnen werden und kulturelle Muster entstehen. Spurenlesen geht dem Schreiben und Lesen von Buchstaben und Zahlen voraus. Es dient der Kulturentwicklung einer Gesellschaft. Interessant fand ich in diesem Zusammenhang den Gedanken, dass überall dort, wo eine Spur gefunden wird, die Verursachenden der Spur bereits abwesend sind. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir Wissen und Können nie abschließen und vollenden können. Auch wir hinterlassen Spuren, die kommende Generationen lesen werden und diese wieder …


Körpersprache lesen

Doch gehen wir zurück zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Auch wenn das Wünsche-von-den-Augen-ablesen nicht so ohne weiteres funktioniert, senden wir genügend andere Signale, die, richtig gelesen, einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung leisten: die Signale der Körpersprache. Der österreichische Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut Paul Watzlawick sagte: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Denn der Körper ist niemals stumm. Wenn Menschen zusammenkommen, reden sie miteinander – auch, wenn sie nicht sprechen. Die verschränkten Arme vor der Brust sind ebenso eine Botschaft wie eine kleine Veränderung der Sitzhaltung. Der erhobene Zeigefinger genau so wie die Farbe der Kleidung oder der Geruch des Parfüms. Mimik, Gestik, Haltung und Bewegung, die räumliche Beziehung, Berührungen und die Kleidung sind wichtige Mittel der nonverbalen Kommunikation. Kommunikation ohne Worte ist die älteste Form der zwischenmenschlichen Verständigung. Auf diese Weise klären wir untereinander, ob wir uns sympathisch sind und ob wir uns vertrauen können. Der Körper verrät unsere wirklichen Gefühle, wer wir sind und was wir eigentlich wollen. Die nonverbalen Botschaften sind oft unbewusst und gerade deshalb so machtvoll.

Ohne Körpersprache sind die täglichen sozialen Beziehungen gar nicht denkbar. Samy Molcho, in seiner ersten Karriere berühmter Pantomime und heute erfolgreicher Lehrer der Körpersprache, schreibt dazu: „Da sich niemand des Kommunikationsmittels Körpersprache entziehen oder sie unterdrücken kann, ist es von wesentlichem Nutzen, sie zu lernen – gibt sie uns doch wichtige Informationen über die innere Haltung und Einstellung unserer Mitmenschen. Wenn wir offene Sinne und ein waches Auge für die Signale und Kommentare unserer Körpersprache haben, können viele Gespräche und Begegnungen leichter und erfolgreicher verlaufen. Die Kenntnis der Körpersprache, des lautlosen Frage- und Antwortspiels in unserem körperlichen Verhalten, öffnet direktere Wege zueinander und einen freieren Umgang miteinander. In manchen sprach-losen ‚Augen-blicken' spüren wir das ja auch: Da sagt ein Blick, eine Wendung des Kopfes, eine ergreifende Geste, eine abwehrende Gebärde mehr als tausend Worte.“(1)
Die Signale des Körpers richtig zu lesen, beugt Konflikten und Spannungen vor. Denn diese sind deutlicher als die Worte. Unser Körper reagiert spontan und kann sich nicht so verstellen, wie wir das mit Wörtern können. Körpersprache, sagt Samy Molcho, „kann nicht lügen“. Die Gefühle und Einstellungen, die wir mit einer Situation verbinden, drücken wir selten mit  Worten aus, aber sie sind in unserem Körperverhalten erkennbar.
Eine internationale Verständigung ist mit der  Körpersprache allerdings nur bedingt möglich. Denn in verschiedenen Kulturen wird dieselbe Geste oft unterschiedlich gedeutet. Daher ist es ratsam, vor Antritt einer Auslandsreise wenigstens die Signale zu kennen, die besser zu vermeiden sind. Der nach oben gestreckte Daumen wird in vielen Teilen der Welt als Zeichen der Zustimmung verstanden. Aber in manchen Gegenden, z.B. auf Sardinien, ist es eine obszöne Geste. Viele bewusst geformte Handzeichen sind ein Bestandteil der Kommunikation einer bestimmten Kultur und können auch nur dort richtig verstanden werden. Die Wissenschaft geht allerdings davon aus, dass bestimmte Basis-Gefühle wie Angst, Furcht, Glück, Trauer, Überraschung und Abscheu bei allen Menschen bestimmte nonverbale Ausdrucksformen hervorrufen. So gilt beispielsweise das Stirnrunzeln in so gut wie allen menschlichen Kulturen als Zeichen von Ärger. Und das Lächeln wird weltweit als positives Signal und Sympathie zeichen gelesen.

Einen besonders intensiven Eindruck hinterlässt der Blick der Augen – und das nicht nur beim Flirten. Wenn wir angeblickt werden, fühlen wir uns beachtet. Blickzuwendung bedeutet Aufmerksamkeit, Zuneigung und Freundlichkeit. Den Blickkontakt zu meiden signalisiert Desinteresse, Gleichgültigkeit oder auch Scham. Und zu langes Anstarren wird meist als aufdringlich und aggressiv empfunden. Die Augenbewegung ist ein wichtiger Bestandteil der Mimik. An der Mimik können wir die seelischen Vorgänge in einem Menschen ablesen.

Es gibt Menschen, die haben die Körpersprache zu ihrem Beruf gemacht. Die Pantomime ist eine sehr alte darstellende Kunst, bei der die Handlung und der Charakter nur durch Mimik, Gestik und Bewegung ausgedrückt werden. Bereits 400 Jahre v. Chr. ist die Pantomime als Kunstform in Griechenland nachgewiesen. Der Clown-Künstler verzichtet auch meistens auf Worte. Da er die Menschen zum Lachen bringen will, setzt er Körpersprache übertrieben ein, etwa indem er Grimassen schneidet oder stolpert. Charlie Chaplin war einer der berühmtesten wortlosen Darsteller des vergangenen Jahrhunderts.
Eine weitere besondere Form der Körpersprache ist der Tanz. Tänzerinnen und Tänzer musizieren mit ihren Körpern. Bewegung ist ihre Form des Ausdrucks. Mehr als andere Menschen beherrschen diese Profis die Geheimnisse der nonverbalen Kommunikation. Und oft werden ehemalige Pantomimen oder Tänzerinnen zu TrainerInnen der Körpersprache. Sie vermitteln ihr Wissen in Seminaren an Menschen, die lernen wollen die Körpersprache zu lesen, weil sie sich davon größeren Erfolg im Beruf, in der Partnerschaft und im alltäglichen Leben versprechen.

Festzuhalten bleibt, dass Menschen auf zwei Arten kommunizieren können – und dass dies immer gleichzeitig geschieht. Und so hören und lesen wir in einem Gespräch gleichzeitig.

Der Vollständigkeit halber möchte ich noch auf die Gebärdensprache und die Brailleschrift (Blindenschrift) hinweisen, die ebenso eine besondere Form des Lesens ermöglichen. Vor Menschen, die diese Lese- und Kommunikationsformen beherrschen, habe ich viel Hochachtung. Schon beim Ertasten der Aufdrucke auf Medikamentenpackungen fühlt sich für mich alles gleich an. Doch hier gilt auch wie beim Erlernen aller anderen  Sprachen: Übung macht die Meisterin! Sprache und Lesen jedenfalls gehören eng zusammen und das nicht nur bei Worten.


Für die Arbeit in der Gruppe

In entspannter und lustiger Atmosphäre werden verschiedene Möglichkeiten
des Lesens ohne Bücher vermittelt und ausprobiert.

Für einen schönen Sommerabend  eignet sich sicher ein Ambiente mit Spätlese und auserlesenen Naschereien. Vielleicht haben einige Frauen besondere Rezepte für Kleinigkeiten und sind gern bereit, diese einmal wieder anzubieten. Soll die Veranstaltung am Nachmittag stattfinden, sind erlesene Teesorten passender.

Ich schlage Ihnen mehrere Möglichkeiten vor, aus denen Sie sich ein auf Ihre Gruppe abgestimmtes Programm zu sammenstellen können.


Körpersprache

Vorstellungsspiel

Als Einstieg eignet sich ein Vorstellungsspiel – auch wenn die Frauen sich bereits kennen. Sicher haben sie ihren Namen selten oder noch nie mit einer Geste in Verbindung gebracht.
Die Gruppe stellt sich im Kreis auf. Eine sagt ihren Namen und unterstreicht diesen mit einer Geste und einem Adjektiv mit dem Anfangsbuchstaben ihres Namens. Zum Beispiel: Andrea – die Aufgeregte – und dazu mit den Armen kreisen; oder: Beate – die Blauäugige – und dazu mit den Augen klimpern …
Die Gruppe wiederholt jedes Mal den Namen und die Geste.


Team-Knobeln

Es werden zwei Teams gebildet, die sich frontal zueinander aufstellen. Die Teams bekommen die Aufgabe, eine von drei möglichen Figuren darzustellen: eine Schlange, eine Frau und eine Raubkatze. Ziel ist es mit der „stärkeren“ Figur die „schwächere“ zu besiegen. Dies geschieht mit der Geste, die jeder Figur zugeordnet ist. Dabei gilt: Die Raubkatze besiegt die Frau, indem sie faucht und die Finger wie Krallen hebt; die Frau beschwört die Schlange, indem sie die Hände aneinander legt und beschwörend singt; die Schlange besiegt die Raubkatze, indem sie züngelt und sich schlängelnd windet. Eine Spielleitung gibt jeweils das Kommando, nachdem sich die Teams kurz auf eine Figur geeinigt haben. Gewonnen hat die Gruppe, die zuerst drei Punkte hat. (Diese Spiel war auch im diesjährigen Weltgebetstagsmaterial zu finden. Es macht großen Spaß und kommt nicht selten vor, dass beide Gruppen die gleiche Figur darstellen.)


Gebärdensprache und Brailleschrift

Haben Sie Menschen in Ihrer Nähe, die die Gebärdensprache können? Vielleicht möchten Sie diese einladen und sich gemeinsam darin üben? Sie können die Gesten auch im Internet finden und sich selbst darin versuchen, einiges zu erlernen.

Über Apotheken oder Blindenvereine ist sicher auch ein Braille-Alphabet zu haben. Schon das Ertasten des eigenen Namens könnte sich als schwierig  herausstellen. Mit Stopfnadeln kann auch versucht werden, den eigenen Namen zu schreiben.


Spuren lesen

Hand-Abdrücke:
Nehmen Sie mit den Frauen Gipsabdrücke von je einer Hand. Dazu benötigen Sie Gips, Wasser, eine flache Schüssel, Folie für den Tisch und einen Holzstab. Wenn die Abdrücke trocken sind, können alle in die Mitte gelegt werden, und gemeinsam versuchen die Frauen, die Abdrücke zuzuordnen. Dabei hält sich diejenige zurück, um deren Abdruck es gerade geht oder stiftet Verwirrung, indem sie ihn einer anderen zuordnen will.

Tier-Spuren-Memory:
Basteln Sie gemeinsam ein Tier-Spuren-Memory. Dazu brauchen Sie verschiedene Tierbilder und die jeweiligen Spuren als Abbildung, möglichst in gleicher Größe. Diese können auf Pappkärtchen geklebt werden. Und natürlich sollte dann auch gespielt werden. (Wenn Sie sich nicht soviel Arbeit machen wollen – es gibt Tier-Spuren-Memorys auch in guten Spielzeugläden.)

Sollten Sie darüber hinaus Zeit haben, ist es in einem „Sommerkino“ bestimmt wunderbar, einmal wieder einen Film mit Charlie Chaplin anzusehen.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme und fröhliche Veranstaltung zum „Lesen ohne Bücher“.


Ilona Helena Eisner, Jahrgang 1966, ist Mitglied im Präsidium der EFiD und da verantwortlich für Publikationen. Beruflich baut sie sich zur Zeit eine eigene Existenz auf als Moderatorin und Bildungsreferentin in den Bereichen Familienbildung und Feministische Theologie.


Anmerkungen

1 Samy Molcho, Körpersprache, München (Mosaik Verlag) 1994, S. 9; mehr dazu auch unter: www.samy-molcho.at


Verwendete Literatur

Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim,  Leipzig, Wien, Zürich 1997
Der Brockhaus in fünfzehn Bänden,  Leipzig-Mannheim 1997, Band 5
Vera F. Birkenbihl, Signale des Körpers, Landsberg am Lech (mvg-verlag) 1998

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