Alle Ausgaben / 2016

Vom Aufbrechen erzählen

Lesetipps vom Evangelischen Literaturportal eliport

Peter Stamm
Weit über das Land

Roman
Frankfurt: Fischer 2016 222 S., 21 cm
ISBN 978-3-10-002227-1
geb.: 19,99 €

Nach einem Familienurlaub beschließt Thomas sein altes Leben hinter sich zu lassen und in ein neues Leben aufzubrechen.
„Thomas stand auf und ging auf dem schmalen Kiesweg am Haus entlang. An der Ecke angelangt, zögerte er einen Augenblick, dann bog er mit einem erstaunten Lächeln, das er mehr wahrnahm als empfand, zum Gartentor.“ Thomas ist gerade mit seiner Frau Astrid und den beiden Kindern aus dem Spanien-Urlaub zurückgekehrt. Am Abend noch ein Glas Wein und die Sonntagszeitung. Dann ruft der Junge aus dem Haus, hat Durst. Astrid sieht nach ihm, und Thomas – steht auf und geht. Er geht und geht und kommt nicht zurück. Warum? Astrid reimt sich eine Weile Erklärungen zusammen, versucht die Kinder und sich selbst zu beschwichtigen. Aber Thomas kehrt nicht zurück. Fassungslos folgt der Leser Thomas' Wegen durch die Schweizer Wälder und Dörfer, die Pässe hinauf, die Bergwege wieder hinunter: Wege, die keinem Plan folgen, die kein Ziel kennen, kein Ziel außer dem, weg zu sein, nicht mehr greifbar zu sein.
Ein Buch, das zum Nachdenken über Beziehungen anregt und auch für Literaturgruppen geeignet ist. Gerne empfohlen.
Dagmar Paffenholz

Peter Henning
Leichtes Beben

Ein Roman. Berlin: Aufbau 2011
329 S., 21 cm, ISBN 978-3-351-03356-9
geb.: 19,99 €

Roman in 31 Episoden, die vom plötzlichen Abgrund im Alltäglichen erzählen.
Peter Henning kann erzählen. Das macht seine Geschichten stark und lesenswert. Da läuft ein Junge in ein Auto, aber der Fahrer hat keine Fahrerlaubnis und will darum nicht mit dem Verletzten ins Krankenhaus. Ein Engländer reist wegen seiner Scheidung nach Zürich, trifft eine Schöne, ist fasziniert von ihr, gerät dann aber in Panik und verlässt sie schnell … Ein Mann zwingt mit vorgehaltener Flinte ein Liebespaar, eine Grube zu schaufeln und sich hineinzulegen …
Die handelnden Personen sind im Aufbruch, suchen ein bisschen Glück, stehen am Scheideweg, pendeln zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Viele von ihnen werden plötzlich erschreckt durch ein Beben, das den Boden unter ihnen erfasst. Die Geschichten enden offen, erfahren aber spät häufig in einem anderen Text und mit veränderter Figurenkonstellation einen neuen Akzent oder verblüffenden Schluss. Fast mehr als das einzelne Geschehen beeindruckt die Sprache des Autors, der seine Geschichten als Episodenroman verstanden haben möchte. Für Viele.
Irmgard Schmidt-Wieck

Natasha Solomons
Die Galerie der verschwundenen Ehemänner

Roman. Dt. von Martin Ruben Becker,
Reinbek: Kindler 2014 412 S., 21 cm, Aus d. Engl.
ISBN 978-3-463-40650-3, geb.: 19,95 €

Aufbruch einer jüdischen Mutter in ein turbulentes Leben gegen alle Konven­tionen.
Juliet Montague hatte einen Ehemann und zwei Kinder. Ihr Ehemann jedoch ist eines Tages zusammen mit Juliets Lieblingsgemälde und den dahinter versteckten Ersparnissen seiner Frau spurlos verschwunden. Tapfer schlägt sich Juliet alleine mit ihren Kindern durch und wird dabei von ihrer jüdischen Familie und Umgebung in einem Londoner Vorort unterstützt. Doch gerade durch dieses konservative jüdische Umfeld und dessen Erwartungen wird sie eingeengt und aller Möglichkeiten beraubt, sich ein eigenes Leben aufzubauen. An ihrem 30. Geburtstag schlägt Juliet einen neuen Weg ein. Statt sich vernünftiger Weise einen neuen Kühlschrank vom mühsam gesparten Geld zu kaufen, lässt sie ein Gemälde von sich anfertigen. Nach und nach knüpft sie über den Maler des Bildes immer mehr Kontakte zur Kunstszene Londons, erkennt ihre Liebe zur Malerei und eröffnet eine Galerie. Damit befreit sie sich immer mehr von ihren gesellschaftlichen Fesseln, erfährt aber nicht nur Zuspruch.
Ein kurzweiliges Buch über die Verwandlung einer jüdischen Ehefrau, die in eine schillernde Welt eintaucht und in ihr aufgeht.
Lina Francke-Weltmann

Ulla Hahn
Aufbruch

Roman. München: Dt. Verl.-Anst. 2009 592 S., 22 cm
ISBN 978-3-421-04263-7 geb.: 24,95 €

Für Hilla Palm (bekannt aus dem Vorläufer „Das verborgene Wort“ bietet sich durch glückliche Fügungen eine neue Zukunft: Abitur und Studium.
Mit dem Aufbaugymna­sium beginnt für „dat Kenk vun un Prolete“ der ersehnte Weg aus der Enge von Elternhaus und Dorf. Ein Ereignis ragt aus der Fülle des Erzählten ­heraus: Was der siebzehnjährigen Anhalterin „auf der Lichtung“ geschieht, be­deutet einen furchtbaren Einschnitt in ihrem Leben. Ihre Offenheit für alles, was Bücher, Dichtung, ­Leben bereithielten, ­ersetzt sie danach durch Pauken und Einprägen. Ergreifend ist später auch die Szene, in der Hillas Vater die Tochter in seine Kindheit blicken lässt. Das Buch spiegelt poli­tische und kulturelle Umbrüche der 60er-Jahre und fasziniert durch Kabinettstückchen übermütigen Humors, in denen es im schönsten Niederrheinisch z.B. um Kunstverständnis, den neuen Quelle-Katalog, den ersten Supermarkt im Dorf geht.
Ein Entwicklungs- und Generationen­roman mit einem Reichtum an Wörtern, Figuren, Themen und mit dem genauen Blick für die kleinen Leute ein besonderes Leseerlebnis. Uneingeschränk­te Em­pfehlung.
Irmgard Schmidt-Wieck

Karin Kalisa
Sungs Laden

Roman.
München: Beck 2015 249 S., 21 cm
ISBN 978-3-406-68188-2 geb.: 19,95 €

Eine vietnamesische Was­sertheater­puppe und ihre Geschichte lösen in Berlin-Prenzlauer Berg eine große Veränderung aus.
Eine Berliner Schule plant eine weltof­fene Woche. Kinder „mit Migrationshintergrund“ sollen ein Kulturgut aus ihrem Herkunftsland darstellen. Minh bringt seine Großmutter mit, die den staunenden Mitschülern eine exotische Holzpuppe präsentiert. Mit dieser Figur ­erzählt sie, wie sie als junge Vertragsarbeiterin 1980 aus Vietnam in die DDR kam. Als Einwanderer zweiter Generation verbindet Minhs Vater Sung kaum noch etwas mit Vietnam, aber er bleibt in Berlin ein Fremder. Die Präsentation seiner Mutter vor den Schulkindern zieht eine Kette von überraschenden Veränderungen nach sich, in denen Sungs Laden, eines der zahlreichen vietnamesischen Geschäfte im Stadtteil Prenzlauer Berg, eine zentrale Rolle spielt. Karin Kalisa zeichnet mit leichtem Strich und witzigen Details das Traumbild einer sich verändernden Gesellschaft, lässt dabei die harte Realität von Einwandererschicksalen durchscheinen. Ein starker Akzent liegt auf Sprache und symbolhaltigen Objekten als Schlüssel zur Verständigung.
Ein bewusst optimistisches Buch, eine Utopie oder sogar ein Märchen von einer schneeballartigen Entwicklung hin zu einer multikulturellen Gesellschaft. 
Birgit Schönfeld

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