Ich grabe in meiner Erinnerung und sehe ein kleines Mädchen vor mir. Acht Jahre alt, mit blonden Zöpfen, in einem großen Garten. In diesem Garten fühlt es sich sicher. Sich sicher fühlen ist nicht selbstverständlich.
Es ist der Garten der Tante. Das Kind ist hier vor wenigen Monaten mit Sack und Pack angekommen. Es hat den Bombenkrieg in der Großstadt hinter sich und ist gewöhnt, überall wo es hinkommt, zuerst den Fluchtweg in den Luftschutzkeller zu suchen. Nachts will es nur bei Licht schlafen, weil es die brennenden Städte nicht vergessen kann. Die Frau, die ohne Kopf an ihm vorbeigetragen wurde. Die Stahlkirche, die in einer Nacht dahinschmolz, als sei sie aus Gelantine …
Das Kind hatte begriffen: Leben ist lebensgefährlich. Man kann es nicht lieben. Zu groß sind Jammer und Angst. „Lieber Gott“, sagte es jeden Abend, „nimm mich zurück. Ich kann es nicht mehr aushalten.“
Nun aber, in diesem Garten, wenige Monate nach Kriegsende, geschah etwas Wunderbares. Das Kind machte die Augen auf und sah: die Welt ist schön. Die Sonne scheint, das Haus liegt im Mittagsschlaf, duftend berankt das Geißblatt den alten Schuppen, die Stockrosen stehen Spalier, im grünen Laub locken die späten Kirschen, die weiße Henne erhebt sich gackernd vom Nest. Das Kind fühlt sich durchflutet von einer großen Liebe.
In diesem Moment hatte es nur einen Gedanken:
Das schreibst du in dein Buch! Das willst du nie wieder vergessen. Das Leben ist schön. Es ist nicht nur Angst und Bomben und Schmerzen und Verlust. Es ist reich. Es lädt uns ein: Geh aus mein Herz und suche Freud …
Damals hatte das Kind noch gar kein „Buch“. Es hatte gerade mal eine Schiefertafel. Aber es hatte den festen Vorsatz, schreibend das Leben festzuhalten. Um zu spüren: Ich lebe.
Heute sind Tagebücher für mich so etwas wie ein tragbares Zuhause. Sie gehören ins Reisegepäck und können an jedem Ort geführt werden. Am liebsten schreibe ich im Bett, vor dem Einschlafen, nach dem Aufwachen, mit Bleistift, mit Kugelschreiber. Auf Schönheit kommt es nicht an, weder in Schrift noch in Wortwahl.
Die englische Schriftstellerin Virginia Woolf hat das Tagebuch einmal mit einem tiefen, alten Schreibsekretär oder einer großen Reisetasche verglichen, in die man unsortiert allerlei Krimskrams hineinwirft. Die Hoffnung ist, dass sich dieser Krimskrams über die Jahre zu einer Form verbindet, die „durchsichtig genug ist, um das Licht unseres Lebens widerzuspiegeln“.
Alte Tagebücher wiederzulesen, kann eine anrührende, gelegentlich auch peinliche Erfahrung sein. Das bist du? So banal die Hoffnungen, so töricht die Schwüre? Doch das Kopfschütteln gehört dazu. Tagebücher sind wie Jahresringe. Du spürst, du bist gewachsen. Du bist lebendig. Gott sei Dank.
leicht gekürzt aus: „Gott ist eine Frau und sie wird älter“ 88 Zusprüche
© 2007 Ulrike Helmer Verlag Königstein/Taunus
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